Ein verlockender Overkill mit orientalischen Mitteln Das Staatsballett Berlin bekennt sich mit „The Nights“ von Angelin Preljocaj zu sinnlich nackter Haut

Frauenliebe

Frauenliebe – der Choreograf Angelin Preljocaj macht Hoffnung auf eine versöhnte Welt, in der Orient und Okzident zusammen finden – und Toleranz zärtlichen Minderheiten gegenüber üben. So beim Staatsballett Berlin in „The Nights“. Foto: Bettina Stoess

Von der Gewerkschaftsfront beim Staatsballett gibt es noch nichts Neues. Die Fronten scheinen verhärtet. Derweil laufen die Proben für den nächsten Ballettabend: Der Publikumsrenner „The Nights“ („Die Nächte“) ist ein Aufsehen erregend sinnliches Stück des französischen Choreografen Angelin Preljocaj. Er ist albanischer Abstammung ­– und einer der ganz Großen in der Ballettavantgarde.

Zwei Stücke des heute 58-jährigen Preljocaj sorgten bei den Berliner Ballettkennern bereits früher für Begeisterung: „Schneewittchen“ zu Musik von Gustav Mahler und, vor über einem Jahrzehnt, auch das einst an der Pariser Oper uraufgeführte Barockstück „Le Parc“. Beides sind moderne, aber in gewisser Weise auch gediegene Ballette, die vor Sexappeal nur so strotzen. Mit einer von den Berliner Festspielen 2010 gezeigten Arbeit zum Thema „Internationalität“ geriet Preljocaj dann unter Hyper-Avantgarde-Verdacht: Eine lebende Ziege machte auf der Bühne mit, nasse Flaggen versperrten den Boden und schwere Metallketten stürzten da rasselnd aus dem Schnürboden auf die Bühne, knallten oft nur Zentimeter neben einem der dann still stehenden Tänzer auf den Boden. Ein gefährliches Theaterspiel war das!

Tanzen bis zur Ekstase

Wow! Tanzen bis zur Ekstase – mit und ohne Partner in „The Nights“ von Angelin Preljocaj. Foto: Bettina Stoess

Preljocajs Kreation „The Nights“ hingegen bewegt sich wieder im Rahmen dessen, was im modernen Ballett heutzutage problemlos akzeptiert werden kann. Es sei denn, man hasst Sexiness und Deutlichkeit bei Liebesszenen – dann geht man besser in die Kirche, den Tempel oder in die Moschee und bete sich dort gesund.

Denn das Sujet des Balletts ist pikant und auch mit viel Lust am Detail entsprechend umgesetzt. Es ist die altpersische, in weiten Teilen erotische Märchensammlung „Tausendundeine Nacht“. Sie schildert, wie eine kluge Geschichtenerzählerin einen frauenmordlüsternen Herrscher zum sittlich akzeptablen Ehemann umerzieht. Ballette zu diesem Märchenstoff gibt es seit „Scheherazade“ von Mikhail Fokine (1910). Oft leiden sie jedoch unter optischer Biederkeit und inhaltlicher Anämie, von Frauenfeindlichkeit nicht zu reden. Anders die Version von Angelin Preljocaj. Sein Tanzstück „The Nights“ („Die Nächte“), vom Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper aufgeführt, betont, welch sinnlichen Sprengstoff die fast 2000 Jahre alten Geschichten bergen.

Männer bringen Frauen

Männer bringen Frauen zum Schweben – in „The Nights“ vom Berliner Staatsballett. Foto: Bettina Stoess

Zu Musiken von Natacha Atlas, Samy Bishai und 79D – synthetisch, rhythmisch, gut – und in ständig wechselnden Kostümen des tunesischen Designers Azzedine Alaïa wird sich gerekelt, geschlängelt, umzingelt und, gleichsam schwebend, akrobatisch kopuliert. Immer wieder ergeben sich raffiniert arrangierte Tableaus, die die Macht der Sinnlichkeit beschwören. Blanke Busen, schwingende Hüften. Wasserpfeifenschwaden, Männer in Masken. Dazu viel nackte Haut: Manch deutscher Spießerseele ist das zuviel. Wer aber einen unverstellten Blick auf Erotik hat, kann sogar seine Kinder guten Gewissens mit in die Vorstellung nehmen. Denn der Bilderbogen, der einen erwartet, ist hoch ästhetisch und von Verblödung à la billiger Revue weit entfernt. Preljocaj schuf eine in sich stimmige komplexe Collage: Es geht vor allem um die Zärtlichkeit in der körperlichen Liebe.

FRIEDLICHES, WEIL FRIVOLES MITEINANDER VON ORIENT UND OKZIDENT

Eine nacherzählbare Handlung gibt es allerdings nicht mehr; dafür haben nach dem nur eineinhalbstündigen, pausenlosen Stück die meisten im Publikum ein seliges Grinsen im Gesicht. Eine sehr schöne Sache insbesondere für Pärchen und alle, die es werden wollen! Dabei wird der Eros von Preljocaj auch ironisiert. So, wenn der Song „This is a Man’s World“ den Sound für eine untypische Girls’ Line liefert. Oder wenn sechs Ladies im Look der Sixties so arglos hin- und hertanzen, als könne sie kein Wässerchen trüben. Dabei genießen Orient und Okzident hier ein sehr friedliches, weil frivoles Miteinander! Auch Fans von Sasha Waltz sollten sich diese sanft-modernen Erotika nicht entgehen lassen.

The Nights mit Vasen

Damen rekeln sich auf großen Vasen – doch diese Göttinnen der Lust entschwinden auch in den Gefäßen. So zu sehen in „The Nights“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Bettina Stoess

Insgesamt kommt das Stück in der Premierenbesetzung vom Februar 2014 mit nur 13 Tänzerinnen und 7 Tänzern aus, allen voran entführen Iana Balova und Krasina Pavlova ins Reich der Sinne. Doch die Männer punkten bei den Pas de deux. Besonders schön: Arshak Ghalumyan mit Alexander Korn. Behutsam wird sich abgetastet, pantomimisch beim Barbier rasiert, es wird sich befühlt, befummelt, betanzt. Preljocajs Schritt- und Gestenvokabular ist prägnant und theatral, sein Stil besteht aus Geschmeidigkeit und Gegensatzbildung.

LIEBE UND LASZIVITÄT

Aber dann entschwinden drei Tänzerinnen in vaginalsymbolischen Vasen, auf denen sie zuvor im Sitzen tanzten. Welche Anmut! Geheimnisvoll, dennoch eindeutig ist die Szene – sanft werden die gefüllten Gefäße von den Jungs in die Kulissen gerollt. Das ist keine plumpe Verherrlichung des Sexus. Vielmehr wird auf die natürlichen, uralten Wurzeln körperlicher Spiele hingewiesen. Auch Tanz hat solche Ursprünge, etwa orientalische Folkloretänze. Die waren nicht selten weiblichen Gottheiten geweiht.

So füllen sich langsam die Lücken in der Wissenschaft. Die sinnlichen Schätze des Morgenlandes stammen ja zumeist aus vorislamischer Zeit. Der Tanz war darin zentral. Doch die seit dem 7. Jahrhundert den Orient domestizierende islamische Geschichtsschreibung hatte an ihrer Vorgeschichte kein großes Interesse. Jetzt wird im Ballett alles aufgemischt!

Love among Men

Arm in Arm – auch Männer können das genießen. Sogar Männer aus dem Orient… Angelin Preljocaj lässt das Staatsballett Berlin zeigen, wie viele Gesichter Liebe und Laszivität haben. Foto: Bettina Stoess

Fazit: „The Nights“ sind ein verlockender Overkill in jeder Hinsicht. Man darf nur nicht auf die Idee kommen, Islamisten hätten den Bauchtanz erfunden.
Gisela Sonnenburg

Wieder am 23.3. und am 17. und 24. April in der Deutschen Oper Berlin

www.staatsballett-berlin.de

Großer Applaus für die Bühnenkünstler: nach der Vorstellung am 17.4.2015 in der Deutschen Oper Berlin. Foto. Gisela Sonnenburg

Großer Applaus für die Bühnenkünstler: nach der Vorstellung am 17.4.2015 in der Deutschen Oper Berlin. Foto. Gisela Sonnenburg

UND SEHEN SIE BITTE INS IMPRESSUM: www.ballett-journal.de/impresssum/

ballett journal