Schwäne in der Unendlichkeit des Seins Das Staatsballett Berlin brilliert mit „Schwanensee“ fast ohne Bühnenbild, aber mit viel Aura in der Deutschen Oper Berlin

"Schwanensee" geht auch ohne viel Bühnenbild

Sie sind – wie auch das Publikum – noch ganz ergriffen von der emotionalen Vorstellung: Iana Salenko, Marian Walter und das Staatsballett Berlin nach „Schwanensee“ am 19. Januar 2018 mit reduziertem Bühnenbild, aber viel Aura in der Deutschen Oper Berlin. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Der Raum ist tief, als Weltraum ist er unendlich. Aber auch die Bühne kann zum Raum ohne Grenzen werden, kann jedes vorstellbare Maß von Endlichkeit sprengen. So im „Schwanensee“ von Patrice Bart auf der einstweilen entrümpelten Bühne der Deutschen Oper Berlin. Das Staatsballett Berlin (SBB) zeigt den Tanz pur, zwar im Kostüm, aber nahezu ohne Bühnenbild, denn das kann wegen des Wasserschadens am letzten Heiligabend noch nicht wieder eingesetzt werden. Die Überraschung: „Schwanensee“ wirkt ohne See nochmal so stark – auf eine gewisse Art wie ein Dogma-Film und so authentisch wie eine Neueinstudierung. Kein Wunder: Choreograf Patrice Bart hat Anweisungen gegeben, um die ungewohnte Situation zu bewältigen.

So spielt die verzwickt-verzaubernde Handlung mit prächtigen Kostümen vor purem Schwarz. Die Tänzerinnen und Tänzer wirken darin wie leuchtende Wesen aus einer anderen, märchenhaften Welt. Es hätte ein expressionistisches Maltalent so ganz im Sinn von Emil Nolde oder Edvard Munch diese Szenerie ersinnen können!

Wirklich: Als hätte sie es geahnt, dass ihre Gewänder auch mal ohne Bühnendekoration stark wirken müssen, hat Luisa Spinatelli die Ausstattung für diesen „Schwanensee“ von Patrice Bart kreiert.

Wenige Korbstühle und schlichte schwarze Seitenkulissen genügen, um dem Tanz und dem Schauspiel hier Unterstützung zu geben. Und das Staatsballett Berlin tanzt und spielt, dass es eine Lust ist!

"Schwanensee" geht auch ohne viel Bühnenbild

Die Anspannung weicht dem Jubel: Iana Salanko und Marian Walter später vorm roten Vorhang nach „Schwanensee“ am 19. Januar 2018 in der DOB. Foto: Gisela Sonnenburg

Solisten und Ensemble zeigen eine so kohärente, spannungsgeladene, sinnlich und auch technisch so fein gearbeitete Darbietung, dass die Inszenierung frischer denn je wirkt. Zumal Patrice Bart, einst Assistent von Rudolf Nurejew, das Libretto psychologisch aufmotzte und um spannungstreibende Elemente ergänzte.

Ein Gaze-Vorhang mit graublauem Wolkenmuster hilft, die Blicke auf die Bühnenrealität zu verklären. Der Programmzettel vermerkt ja vornehm, dass die Vorstellung „in veränderter Dekoration bei angepasster Beleuchtung“ stattfinde. Aber die Reduktion auf das absolut Notwendige entwickelt ein eigenständiges Flair…

Da sehen wir zunächst zur vom Orchester der Deutschen Oper Berlin unter dem jungen Marius Stravinsky einfühlsam und sorgsam nuanciert gespielten Ouvertüre die bildhübsche verwitwete Königin mit blonden Locken (elegant: Elena Pris), wie sie ihren Thronfolger Prinz Siegfried, hier noch als Kind, spazieren führt: Schau, so sieht die Welt aus, die wir regieren!

Dann der erste Akt, ohne Gaze-Vorhang: das Volljährigkeitsfest des Prinzen. Wie es zur Belle Époque üblich war – und hierin siedelt Patrice Bart sein „Schwanensee“-Stück an – feiert man den 21. Geburtstag als Wegmarke des Erwachsenseins.

Marian Walter als Siegfried tanzt und spielt diese Partie, als sei sie für ihn gemacht. Dabei war er 1997, als Bart seine Version dieses ballettösen Urklassikers in der Staatsoper Unter den Linden premieren ließ, noch mitten in der Ausbildung zum Berufstänzer an der Staatlichen Ballettschule Berlin.

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Am selben Abend, dem 19.01.2018, einige Hunderte Kilometer weiter südwestlich beim Badischen Staatsballett: Nach einer Vorstellung von „Rusalka“ von Jiri Bubenicek wurde der „Young Star Ballet Award“ an die deutsche Tänzerin Lisa Pavlov (mittig) verliehen, die an der Staatlichen Ballettschule Berlin ausgebildet wurde und früher unter ihrem Mädchennamen Breuker beim SBB tanzte. Mit dabei: Ballettdirektorin Birgit Keil (zweite von links) und ihr Gatte und Stellvertreter Vladimir Klos (ganz rechts). Foto: Felix Grünschloß – Aber auch in Berlin gibt es Preise für junge Tänzer… so für Victor Goncalves Caixeta, der 2017 den Alexander-von-Swaine-Preis erhielt und mittlerweile beim Mariinsky Theater in Sankt Petersburg tanzt. Allen Preisträgern, die es jemals gab und jemals geben wird, hiermit herzlichsten Glückwunsch! 

Der gebürtige Suhler Walter startete dann zunächst beim Bayerischen Staatsballett in München, bevor er zwei Jahre später, also 2002, zurück nach Berlin, eben in die Staatsoper Unter den Linden kam. Der Berliner Staatsballett-Gründungsintendant Vladimir Malakhov erkannte und förderte das überbordende Talent des blonden muskulösen Lyrikers. Und engagierte ihn gleich als Demi-Solist. Seit 2010 ist Marian Walter Principal und erfreut das Publikum in nahezu allen Produktionen.

Marians weichen, federleicht wirkenden Sprünge, seine makellosen, schön rhythmisch pointierten Pirouettes à la seconde, sein poetisches Wesen und auch sein verliebtes, dramatisches Schauspiel haben ihn über Berlins Grenzen hinaus weithin beliebt gemacht.

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Nach viel Szenenapplaus noch mehr Schlussapplaus: Sie nehmen die verdienten Bravos huldvoll entgegen! Murilo de Oliveira (links) und Iana Salenko (rechts) mit dem Staatsballett Berlin in der DOB. Foto: Gisela Sonnenburg

Im „Schwanensee“ hat er nun einen ebenbürtigen Freund: Murilo de Oliveira, der soeben an Walters Seite als Benno von Sommerstein in „Schwanensee“ debütierte, stammt aus Brasilien und wurde fünf Jahre an der dortigen Bolschoi-Ballett-Akademie-Filiale – der einzigen weltweit außerhalb Russlands – ausgebildet. Nach immerhin zehn Jahren als Profitänzer in brasilianischen Compagnien fand er mit dieser Saison nach Berlin – zum Glück!

Und er feierte mit diesem „Schwanensee“ schon sein zweites Debüt in einer tragenden klassischen Partie in diesem Monat, nach dem „Nussknacker“-Prinzen zu Jahresbeginn.

Als Benno ist Murilo de Oliveira – wie sollte es anders sein – eine Augenweide, zudem ein sprungmächtiger Pirouettenwüstling, so exakt und konzis wie ein Uhrwerk, mit butterweichen Landungen und charmanten Ports de bras, dabei von starker und liebenswürdiger Ausstrahlung. Der ganze Körper ist ein Lächeln, wenn er springt!

Lieblich und absolut präsent gestaltet er seine Rollen, ohne andere an die Wand oder in die Kulissen zu drücken. Im Gegenteil: Murilo merkt man die Freude am Miteinander des Tanzes an, und das ist eine der höchsten Qualitäten, die ein hervorragender Solist zusätzlich haben kann.

Und: Es ist kaum zu fassen, dass er in dieser Vorstellung wirklich in diesem Part debütiert. So gut ist er.

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Murilo de Oliveira – der neue Shooting Star beim Staatsballett Berlin, anmutig und ausdrucksstark, hier beim Schlussapplaus nach „Schwanensee“ am 19. Januar 2018 in der DOB. Foto: Gisela Sonnenburg

Das ist Prinzennachwuchs, wie man ihn sich wünscht!

Auch als Gespann harmonieren die beiden schönen Männer, der etwas stärker gebaute Walter und der grazilere de Oliveira. Synchron gesprungene Grands jetés besiegeln ihre Freundschaft im Stück: eine ganz enge, auch intime Männerbünde hat Patrice Bart für sie vorgesehen, die über normale Kumpanei ein wenig hinaus geht.

Benno ist deshalb so wichtig für diesen Siegfried, weil die Beziehung der Königin zu ihrem Sohn gestört ist. Die Art, wie sie ihn zu einem nicht nur repräsentativen, sondern auch zärtlichen Pas de deux zwingt, lässt fast ein inzestuöses Begehren, zumindest aber ein übersteigertes Besitzdenken bei dieser Femme fatale vermuten.

Elena Pris und Marian Walter spielen diese delikate Mutter-Sohn-Verbindung aufs Feinste. Vor allem Walter gelingt es, jeden Stimmungsumschwung des Jünglings fasslich zu machen. Einerseits will er sich abnabeln, andererseits hängt er noch sehr am Rockzipfel sprich am Handkuss bei dieser mondänen Herrscherin.

Dass diese zunehmend den Premierminister von Rotbart (stattlich und glaubhaft herrschsüchtig: Alexej Orlenco) favorisiert, bemerkt der Prinz zu spät.

So lässt er sich von seiner Mutter willig ein neues Gewehr, als Zeichen seiner männlichen Potenz, schenken und auch einen glitzernden Orden anheften. Aber ihrem Kuss ins Gesicht in aller Öffentlichkeit entzieht er sich, mit schmerzhaften Erinnerungen offenbar – und zu den immer wieder kaskadenartig abwärts stürzenden Melodiebögen von Peter I. Tschaikowskys „Schwanensee“ passt das Leid des Prinzen über alle Maße.

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Die Jagd lockt ihn denn zunächst auch nur wenig. Lieber überlässt sich Siegfried seiner melancholischen Stimmung und tanzt ein Solo voll passionierter Balancen und sehnsuchtsvollen Armstreckungen. Am Ende fällt er auf die Knie, geht mit dem Oberkörper ins Cambré – sich der Zukunft ergebend.

Aber die Natur ruft. Benno trägt Siegfried das neue Gewehr an, und mit diesem macht Siegfried sich auf in den Wald. Da läuft ihm ein wunderschönes, fremdartiges Wesen regelrecht vor die Flinte: Es ist die Schwanenprinzessin Odette.

Iana Salenko ist weltberühmt für diese Rolle, interpretiert sie sie doch weniger majestätisch und klassisch, als vielmehr mädchenhaft und romantisch – und das ist nicht nur immer wieder eine entzückende Novität, sondern auch eine besonders überzeugende Darstellung.

Wie sie dem Prinzen anfänglich noch entflieht, wie sie einerseits Schutz sucht, andererseits zunächst mal klar machen muss, ein Mensch und kein Vogel zu sein, ist einfach hinreißend.

Odette ist ja eine Art Zwitterwesen. Sie ist verzaubert und darum ein Schwan, von Geburt an aber menschlich – das ist schon eine philosophische Fantasie über Frauen, die wir im übrigen dem Bruder des Komponisten Tschaikowsky, Modest Tschaikowsky, verdanken.

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Noch eine stürmische Bravo-Salve für Iana Salenko und ihren Gatten Marian Walter nach „Schwanensee“ in DOB! Foto: Gisela Sonnenburg

Das künstlerisch stilisierte Flattern mit den Armen und das Drehen des Köpfchens nach Vogelart illustriert Salenko fabelhaft. Man darf sich dabei auch gern an die heutige Produktionsleiterin vom SBB und frühere Primaballerina Beatrice Knop erinnern, die zahlreiche Triumphe in dieser Rolle feierte.

Auch wenn viele Passagen gerade der Schwanen-Szenen auf der Choreografie von Lew Iwanow (und von Marius Petipa) von 1895 basieren – Patrice Bart schuf auch hier eine ganz eigene Psychologie.

Erst, wenn der Prinz der Schwanenprinzessin frontal gegenüber tritt und ihre Händen ergreift, hat er eine Chance, von ihr erhört zu werden. Denn erst jetzt behandelt er sie nicht mehr wie ein wildes Tier, das er fangen will, sondern wie eine Person mit Recht auf Ehrlichkeit. Und: wie eine Frau, die ihn berührt und fasziniert.

Es ist ein magischer Moment, und man könnte sagen: Hier funkt es! Denn auch die Schwanenprinzessin schaut ihm nun erstmals ins Gesicht, statt sich ihm zu entziehen – und offensichtlich gefällt ihr sehr, was sie sieht.

Fortan diktiert die Liebe die Schritte dieser beiden Menschen, es ist eine verzweifelte Liebe, mit Hoffnung auf Erlösung auf beiden Seiten.

Der Prinz erhofft sich die Loslösung von seiner Mutter und die Autonomisierung seiner Lebensumstände.

Odette erhofft sich, dass die Macht des Zauberers Rotbart, der sie gefangen hält, durch die wahre Liebe des Prinzen gebrochen wird.

Die Liebe könnte die Befreiung aller verzauberten Vogelfrauen bewirken – dieser Mythos findet sich in verschiedenen Volksmärchen modifiziert.

Ach, und zunächst erhält die Hoffnung auch immer wieder Nahrung…

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Große Freude auf allen Seiten beim Schlussapplaus, noch im tadellosen Blaulicht vom „Schwanensee“ in der DOB stehend: die Superstars Iana Salenko und Marian Walter, dahinter eine der tollen Schwanenfrauen vom Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Das berühmte Adagio des Pas de deux zwischen Siegfried und Odette tanzen Walter und Salenko mit einem Schmelz, der sie als First class dancer ausweist. Harmonie und Würde kennzeichnen diese Liebe unter ähnlich Unglücklichen, zwischen Siegfried und dem weißen Schwan.

Rotbart indes erscheint mit grauschwarz marmorierten Textilflügeln im Hintergrund wie ein mächtiges böses Menetekel. Wenn er seine Arme hoch führt, wachsen die Stoffteile zu einem Kreis, die diesen Fürsten der Finsternis einschließen wie eine alarmierende Aura. Wie ein böser Schmetterlingskörper verharrt er in der Mitte dessen, wirkt wie eine moderne Chiffre des Unberechenbaren.

Auratisch aber auch das Ensemble! Das SBB muss sich, wenn man seine wunderschönen, absolut synchron und dennoch nicht roboterhaft tanzenden Schwäne anschaut, hinter Paris oder Moskau nicht verstecken!

Und es ist absolut bewunderungswürdig und hochgradig faszinierend, was im guten alten „Schwanensee“-Ritus steckt, was man mit künstlerischem Know-how und filigraner Fleißarbeit aus ihm heute noch machen kann.

Dabei ist anzumerken, dass vier dieser ätherischen, hochkarätig funkelnden Tänzerinnen mit ihrer Berufsausbildung noch nicht fertig sind, sondern noch bei Gregor Seyffert und Ralf Stabel an der Staatlichen Ballettschule Berlin studieren. Hui!

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Einige der wirklich wunderbaren Schwanenmädchen vom Staatsballett Berlin und der Staatlichen Ballettschule Berlin, wie sie beim Schlussapplaus in der DOB nach „Schwanensee“ am 18.1.2018 zu sehen und zu bejubeln waren. Foto: Gisela Sonnenburg

Es werden immer mehr tanzende Visitenkarten der Exzellenz, die diese Hochschule neben den SBB-Mitgliedern Jenni Schäferhoff, Alicia Ruben und Gregor Glocke und natürlich Marian Walter für sich verbuchen kann. Selbstverständlich ist das eine sehr gute Entwicklung!

Bei der Gelegenheit muss denn auch berichtet werden, dass Victor Goncalves Caixeta, der letztes Jahr noch mit dem Landesjugendballett Berlin auf der Staatlichen Ballettschule trainierte (siehe: hier), seit dieser Saison fest beim Mariinsky Theater in Sankt Petersburg tanzt – also bei einer der renommiertesten Truppen weltweit – und dort auch schon mit Solopartien betraut wird. Bevor Victor Berlin verließ, nahm er noch gern den Alexander-von-Swaine-Preis entgegen, der sein Nachwuchs-Potenzial würdigt.

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Sehr vielversprechend: Victor Goncalvez Caixeta, Preisträger des jüngsten Alexander-von-Swaine-Preises, probte im April 2017 mit Elena Iseki in der Staatlichen Ballettschule Berlin „Le Corsaire“ – fotografiert von Gisela Sonnenburg.

Nun zu fragen, ob nicht auch Victor hätte in Berlin bleiben können, ist allerdings müßig. Die internationale Kunst Ballett verlangt nach internationalem Austausch und nach künstlerischer Freiheit bei der Zusammensetzung ihrer Ensembles.

Zurück auf die Bühne der Deutschen Oper Berlin:

Zu Beginn der ersten Schwanenszene laufen die 26 Schwäne nach Serpentinenart der Bayaderen von rechts hinten nach vorn, und zwar im zügigen Allegro. Es beginnt ein kaleidoskopartig gesetztes, stets wechselndes Gefüge von Mustern:

Kreise, Spiralen, Reihen, Grüppchen aus Damen in weiß glitzernden Tutus, mit Schwanenfedergestecken über den Ohren entstehen.

So raffiniert sind die Kreise und V-Muster, Halbkreise und Diagonalen gesetzt, dass der Eindruck entsteht, es handle sich um etliche Dutzende weiß flirrender Schwanendamen.

Die Akkuratesse, mit der sie über die Bühne schweben, ergänzt diese Impression – man ist ganz überwältigt von ihrer Schönheit.

Die vier Kleinen Schwäne dürfen da, die Hände gekreuzt zur Reihe haltend, vom Lob nicht ausgespart werden: Iana Balova, Maria Boumpouli, Danielle Muir und Luciana Voltolini tänzeln wunderbar knapp und intensiv, sie vereinen das Trotzige mit dem Anmutigen, wie es sich für diese jüngsten der Schwanenmädchen gehört.

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Graziös auch beim Verbeugen für den Applaus: Die „Großen Schwäne“ Julia Golitsina, Aurora Dickie, Weronika Frodyma und Aoi Suyama in der DOB. Foto: Gisela Sonnenburg

Und Aurora Dickie, Weronika Frodyma, Julia Golitsina und Aoi Suyama veredeln als Große Schwäne mit hohen Beinen die Choreografie.

Absolutes Highlight sind natürlich die Paartänze und Soli der beiden Liebenden. Ob Adagio oder Andante, ob Allegro oder Vivace: Marian Walter und Iana Salenko lassen keine Sekunde aus, uns klar zu machen, das nur die Liebe die Welt retten könnte.

Salenko stammt aus Kiew, wurde aber in Donetsk ausgebildet. Sie war schon Erste Solistin wiederum in Kiew, als sie 2004 in Wien einen internationalen Wettbewerb gewann.

Es war der Wettbewerb ihres Lebens, sozusagen, denn hier wurde sie von Marian Walter sowohl als Frau als auch als Ballerina entdeckt.

Ohne Fürsprache ihres damals zukünftigen Gatten hätte Salenko bei Malakhov nicht fürs SBB vortanzen dürfen, denn sie entsprach mit etwas weniger als 1,60 m Körpergröße nicht seinen etwas größeren Wunschgardemaßen.

Als er sie dann tanzen sah, war ihm plötzlich egal, wie groß oder klein sie gewachsen ist! Diese kleine Primadonna ist aber auch ein Ausbund an Talent: so geschmeidig wie keine zweite, so wohlproportioniert, wie es im Ballett selten ist, mit einer Sprungkraft und edel geformten Armen, mit hohen Beinen und umwerfend schönen Füßen, dazu noch mit einem äußerst niedlichen, charmanten Gesicht gesegnet, dem auch Schalk und Koketterie nicht abgehen.

Natürlich ist da die Körpergröße total egal!

Genau so sollte es sein, und Iana Salenko sollte für alle Ballettchefs auf der Welt als ein wandelndes Mahnmal dafür sein, dass mainstreamige Körpermaße im Ballett kein Grund für einen Ausschluss sein dürfen.

Bei Jungen übrigens auch nicht, zumal nicht ohne Grund viele kurzbeinige Tänzer – wie Nurejew und Baryshnikov – Ballettgeschichte gemacht haben. Aber auch bei den Mädels wird heutzutage immer wieder auf Oberflächliches geachtet, statt auf wahre (Bühnen-)Qualitäten.

Kluge Ballettmeister wie Barbara Schroeder vom SBB fühlen sich jedoch nicht überfordert damit, wenn sie „kleine“ und „große“ Schwäne in der Truppe haben und die Reihen mit ihnen so geschickt aufstellen, dass die Mädchen optisch eine Einheit ergeben.

Auch einen passenden Tanzpartner zu finden, hängt zum Glück immer weniger von der Körpergröße ab. In modern denkenden Gesellschaften dürfen die Damen die Herren ruhig mal überragen – das hat sogar einen besonderen Reiz. Nur Vorgestrige beharren darauf, der Mann müsse größer sein als die Frau. Im Ballett können die Jungs beweisen, was sie können – ohne auf Zentimetermaße zu verweisen.

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Noch eine Verbeugung vor dem Publikum: Murilo de Oliveira nach „Schwanensee“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

So ergeht heißer Dank nicht nur an die Tänzer, sondern auch an die Berliner Ballettmeister für diesen fantastischen „Schwanensee“ – und auch an die Lehrkräfte der „Staatlichen“, also der Ballettschule, die ganz offensichtlich für hervorragende kommende Generationen von Ballerinen und Ballerinos sorgen. Sie haben nicht nur schöne Beine, sondern auch Persönlichkeit, Intelligenz und Ausstrahlung.

Mit dieser Gewissheit geht man in die Pause, wenn nicht auch mit Tränen der Rührung in den Augen. Die verzauberten Schwäne, der unglückliche Prinz, diese vertrackte Hofgesellschaft – wird es für sie alle eine Rettung geben?

Mit der Version von Vladimir Burmeister (auf der Grundlage von Iwanow) von 1953 aus Moskau gibt es tatsächlich eine überzeugende Happy-End-Version. Da kehrt die Prinzession ohne Schwanentutu am Ende in die Arme ihres Helden zurück, nachdem dieser Rotbart im Zweikampf besiegt hat.

Für einen raffinierten Denker und Zivilisationsverfechter wie Patrice Bart macht ein solches Ende keinen Sinn. Auch John Cranko und John Neumeier können sich ihren „Schwanensee“ keinesfalls mit positivem Ausgang vorstellen.

Auch wenn Tschaikowskys absolut genialpathetische Musik beides enthält: die Hoffnung ebenso wie die Tragik.

Die Vorzeichen der Verzauberung sind hier so ernst und tiefgreifend, dass eine Lösung des Problems nicht leichthin ohne Grund in Sicht ist.

Und Siegfried – das ist das Tragische an diesem Märchen – verpasst seine Chance, sich und die Schwanenfrauen zu retten.

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Alexej Orlenco beim Schlussapplaus nach „Schwanensee“ in der DOB – als Premierminister von Rotbart vereitelt er den Triumph der Liebe… Foto: Gisela Sonnenburg

Er verfällt nämlich den sinnlichen Verlockungen des Schwarzen Schwans, der ihm in der Version von Bart nicht nur von Rotbart als dessen Tochter, sondern vor allem durch eine Intrige seiner Mutter aufgedrängt wird. Sie bemerkt – dank der eifersüchtigen Zuträge Bennos – dass ihr Sohn mit einer rätselhaften Schwanenprinzessin geflirtet hat, was ihr nicht passt, denn für ihren Sohn hat sie ganz andere Pläne.

So sinniert sie vor einem unvollendeten Gemälde des Thronfolgers über dessen und über ihre eigene Zukunft – es ist symbolträchtig, dass dieses Bildnis nicht fertiggestellt ist. Denn die Königin sieht in ihrem Sohn die Beute ihres Willens. Sie ist macht- und herrschsüchtig und verspricht sich von einer Verbindung mit der Tochter von Rotbart politischen Gewinn.

Sie inszeniert einen Ball, um Siegfried mit Odile zu überraschen.

Wieder also sehen wir die höfische Gesellschaft einen Ball feiern. Wieder soll es eigentlich um Siegfried – um dessen Brautsuche – gehen, aber wieder steht im Grunde seine Mutter im Zentrum.

Und: Ihr Favorit Rotbart zelebriert seine verbesserte Position am Hof – mit großen Sprüngen, im wehenden Umgang überm Frack zeigt Alexej Orlenco das Dubios-Dämonische seiner Doppelrolle.

Die angereisten Prinzessinnen haben gegen solche Intriganten keine Chance. Obwohl Weronika Frodyma, Sarah Mestrovic, Aurora Dickie und Julia Golitsina mit ihren edelmütigen Soli absolut gute Partien wären!

Doch immer wieder führt Rotbart seine Tochter Odile vor, die als Schwarzer Schwan verkleidet ist und dadurch höllische Ähnlichkeit mit Odette hat.

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Ein Kuss sagt mehr als viele Worte: Liebe vor dem roten Vorhang – Iana Salenko und ihr Gatte Marian Walter nach „Schwanensee“ am 19.1.18 in der DOB. Foto: Gisela Sonnenburg

Iana Salenko funkelt gerade in diesem Teil ihrer Doppelrolle: von furchtsamer Jungmädchenart, wie der des weißen Schwans, ist keine Spur mehr, dafür zeigt sie virtuos und auftrumpfend die Macht der Weiblichkeit. Mondän und kokett, selbstbewusst und so charmierend, dass man den armen Prinzen nur zu gut versteht, wickelt Odile Siegfried um den kleinen Finger.

Ihre Tanzkunst, oh ja, ist ihr dabei eine große Hilfe!

Der Grand Pas de deux der beiden ist denn auch ein vielschichtiges und ausdrucksstarkes, so virtuoses wie halsbrecherisches Gesamtkunstwerk:

Voller akrobatischer wie auch sensitiver Details. Siegfried ist dabei hin- und hergerissen, weiß er doch, dass diese Ballkönigin in Schwarz wirklich nicht Odette, seine Geliebte sein kann. Ihr hatte er Treue geschworen…

Aber seine Sinne sind allzu empfänglich für die Verführungskünste von Odile… und nach orgiastischen Sprung- und Pirouettenläufen von ihm und nach irrsinnig schönen Fouettés und mehrfachen en-dehors-Drehungen von ihr ergibt sich die treue Seele des Prinzen der Kraft der Dämonie.

Philosophisch ist es hier eine Illusion innerhalb der Illusion, die den Prinzen vernichtet. Er glaubt nicht mehr an seine Utopie, die Prinzessin zu retten, sondern verpflichtet sich dem Konsum einer Frau, die ebenso schön und ebenso begabt erscheint. Er fällt auf die falschen Versprechen Rotbarts herein, ebenso wie seine Mutter, wenn auch aus anderen Gründen.

Zu spät erscheint ihm Odette, hilfesuchend trippelnd, am Bühnenhorizont… Odile lacht ihn nur aus.

Die Musik des Zwischenspiels weckt zum letzten Mal Erwartungsfreude.

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Wunderschöne Schwäne beim ersten Applaus nach der Vorstellung in „Schwanensee“ von Patrice Bart in der DOB. Foto: Gisela Sonnenburg

Siegfried flieht in den Wald, an den See, zu den Schwänen. Noch einmal zeigt sich der weiße Schwarm in voller Pracht. Doch Gefahr und Bedrohung lassen sie immer wieder auseinanderstieben, dann wieder zusammen finden, zu einer Spirale surrealer Mondlicht-Schönheit.

Doch wo ist Odette? Schließlich findet der Prinz sie, am Boden in der Pose des sterbenden Schwans kauernd, und für kurze Zeit kann er sie wiederbeleben, noch einmal durch seinen Tanz Hoffnung geben.

Doch Nebel zieht auf. Der Prinz befindet sich im See. Seine Geliebte ist für immer entschwunden. Siegfried kämpft mit dem Tod. Plötzlich steht Rotbart vor ihm, mit den furchtbar großen Schwingen. Doch Siegfried gibt nicht auf. Besiegt den mächtigen Zauberer, der erst seine Schwingen, dann seine Kräfte verliert. Siegfried erwürgt seinen Widersacher.

Und wacht auf wie aus einem bösen Traum. Er schaut seine Hände an – es sind jetzt Mörderhände. Hat er nicht in Notwehr gehandelt? Wem soll er das erklären? Er wäre im Recht gewesen, wenn er nicht zuvor seinen Schwur, nur Odette zu lieben, gebrochen hätte. Dann wäre er ein Held geworden. So aber ist er verloren. Siegfried ertrinkt im Nebelmeer des Sees.

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Schöne Schwanenmädchen im Hintergrund mit Cameron Hunter und Dominic Hodal im Vordergrund, die bravourös mit Maria Boumpouli und Cécile Kaltenbach den Spanischen Tanz auf dem Ball absolvierten. Olé! Applaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Da eilt noch die Königin heran, sucht ihren Sohn und Rotbart, findet sie nicht. Zum dramatischem Schlussfinale der Musik weiß sie dann Bescheid: Sie ist allein. Ganz allein.

Es gibt ein Gedicht von Ingeborg Bachmann, der großen Dichterin, das zu dieser Stimmung passt: „Nebelland“ heißt es, und es handelt von der Untreue der Geliebten. „Im Winter ist meine Geliebte / unter den Tieren des Waldes“, so beginnt es. „Treulos ist meine Geliebte“, heißt es in einer Schlüsselzeile. Und so endet es: „Nebelland hab ich gesehen, / Nebelherz hab ich gegessen.“

Siegfried war sich selbst untreu, aber er war es nicht aus eigenem Antrieb. Er sah das Nebelland, aß vom Nebelherz, kurz bevor er starb. Der Verrat von Liebe kann tödlich sein.

Es ist zwar in Deutschland noch ungewöhnlich, für journalistische Projekte zu spenden, aber wenn man die Medienlandschaft um das Ballett-Journal ergänzt sehen möchte, bleibt keine andere Möglichkeit. Es erhält nämlich keine öffentliche Förderung. Im Impressum erfahren Sie mehr. Danke.

P.S. Die Nebelmaschine funktioniert einwandfrei. Aber die Unendlichkeit des Seins besteht auch jenseits dessen, in den tänzerischen Flügelschlägen der auf immer verzauberten Schwäne…
Gisela Sonnenburg

Weitere Beiträge zu dieser Inszenierung über:

www.ballett-journal.de/die-verzauberten/

Termine: siehe Spielplan

www.staatsballett-berlin.de

 

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