Früher oder später? Bei Statements von Künstlern, die sich lesen, als habe ein Rudel von inkompetenten Juristen tagelang daran herumgefummelt, wird der Deutungseifer geweckt. So vermuten manche, die Berliner Noch-Ballettintendantin Sasha Waltz wolle mit ihrer jüngsten schriftlichen Verlautbarung (von gestern, siehe weiter unten) vor allem Zeit schinden, um ihren lukrativen Job nun doch noch nicht abzugeben. Aber faktisch ist ihrem Wortlaut nach wohl auch die Möglichkeit gegeben, dass sie noch früher geht als letzte Woche angekündigt. Memo: Sie und ihr Co-Ballettintendant Johannes Öhman hatten am 22. Januar 2020 gemeinsam mit der Berliner Senatskanzlei für Kultur und Europa schriftlich verkündet, zum Jahresende 2020 ihre Intendanz beim Staatsballett Berlin (SBB) zu beenden. Öhman – der in Berlin kaum noch begeistert wirkte – nahm die Sache auf sich, weil er einen neuen Posten in Stockholm antreten wird (siehe ausführlicher Bericht: hier klicken). Jetzt schob Sasha Waltz nach längerem Nachdenken nach, sie habe sich „überrumpelt“ gefühlt.
Und weiter? Profis kommen mit solchen Gefühlen der auch negativen Überraschung normalerweise zurecht und können sachgerecht entscheiden.
Das scheint Waltz schwerzufallen. Vielleicht genügt ihr auch die Abfindung nicht, die ihr der Senat wohl angeboten haben muss. Oder hatte man das gar versäumt?
Als beglückend empfand Waltz derweil vermutlich den beeindruckenden Zuspruch vom Ballettvorstand, welcher die Tänzerinnen und Tänzer vom Staatsballett Berlin vertritt. Er sprach nämlich nach dem erklärten Doppelabgang der beiden Ballettchefs sein empörtes Bedauern darüber aus. Was nur ein ganz klein wenig heuchlerisch wirkte.
Denn die Company vom Staatsballett Berlin hatte vor dem Amtsantritt von Sasha Waltz massiv gegen sie als Ballettintendantin protestiert, weil sie als Vertreterin und Verfechterin des Contemporary Dance vom Ballett nicht genügend Ahnung hat.
Waltz‘ jüngster Erguss – der von gestern stammt – nun im Original (Anmerkung: der hier zweite Satz unten ist grammatisch nicht haltbar, aber der Authentizität wegen ist das hier nicht geändert worden):
„Ich sehe nicht, dass unter diesen neuen Bedingungen eine alleinige Intendanz meinerseits sinnvoll wäre.
2016 erklärte ich mich bereit eine Leitungsrolle zu übernehmen, aber nur mit einem Partner, der das klassische Erbe vertritt und ich weiterhin künstlerisch als Choreographin tätig sein kann. Aus Verantwortungsbewusstsein für die Zukunft des Balletts und die Bedürfnisse dieser komplexen Struktur stelle ich mein Amt zur Verfügung.
Ich habe mich von den Ereignissen überrumpelt gefühlt und konnte keinen Einfluss auf den Zeitpunkt der Auflösung unserer Intendanz mehr nehmen. Die Ereignisse haben sich überschlagen. In meiner Verantwortung gegenüber dem Staatsballett, werde ich in Ruhe und ohne Zeitdruck eine Entscheidung über das Ende meiner Amtszeit fällen.“
Sollte Sasha Waltz oder auch Johannes Öhman im Rahmen ihres Berliner Dilettantenstadl zum Thema ihres Weggangs noch Bedeutenderes einfallen, so wird das hier selbstverständlich vermeldet.
Ob sich ein Choreograf des Themas annehmen wird und über das Hickhack der beiden ein satirisches oder auch tragisches Ballett (!) kreieren wird, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest.
Und wie hoch soll die Abfindung für Sasha Waltz eigentlich sein?
Davon war bis jetzt noch nichts zu hören. Es ist anzunehmen, dass hinter den Kulissen genau darüber gepokert wird. Aber öffentlich gesagt hat Waltz noch nichts dazu. Dient ihr Taktieren dem Hochtreiben des Preises?
Auch einen oder mehrere Nachfolger in ihrem Amt hat Waltz bis jetzt öffentlich noch nicht vorgeschlagen, ebenso wenig wie Johannes Öhman.
Irgendwie hat man den Eindruck, dass es den beiden doch mehr um ihre eigene Befindlichkeit geht als um die Zukunft vom SBB.
Die Klärung der Personalfrage sollte aber schon vorrangig sein.
Wer also will und kann das SBB in Zukunft lenken? Wer sammelt die Vorschläge, wer eruiert deren Machbarkeit und wer wird entscheiden? Will das Land Berlin etwa wieder einen Alleingang unternehmen? Davon ist wirklich abzuraten.
Zunächst wäre es aber außerdem schön, wieder gelungenere und besser ausgelastete Vorstellungen vom SBB sehen zu können als heute abend das vom Ballettpublikum definitiv nicht akzeptierte Bewegungstheater „Plateau Effect“ von Jefta van Dinther in der Komischen Oper (zur Rezension geht es hier), für welche Aufführung bei Redaktionsschluss nicht mal die Hälfte des Kartenkontingents verkauft war.
Gisela Sonnenburg