Das witzige Chaos als Beginn des erotischen Seins Wie ein spritziger Weltenknall: der furiose zweiteilige Abend „Ratmansky / Welch“ mit dem Berliner Staatsballett

Viele Jungs und nur ein Mädel tanzen bei Stanton Welch

Sanfter Stilmix, in geschmeidigem Bewegungsfluss: „Clear“ von Stanton Welch beim Staatsballett Berlin. Foto: Bettina Stöß

Chaos und Ordnung, Ordnung und Chaos: Ballett ist eine Insel der Ordnung in einer chaotischen Welt. Oder ist es umgekehrt? Ist Ballett wohltuendes Chaos in einer scheinbar ordentlichen Welt? Sieht man den nach seinen Choreographen benannten Abend „Ratmansky / Welch“ vom Staatsballett Berlin im hauptstädtischen Schiller Theater, dann erhalten die philosophischen Begriffe Chaos und Ordnung neue Dimensionen. Und zwar solche aus Witz und Ironie, aus Stil und Hintergründigkeit, aus Steigerungen und Höhepunkten – und entzückend-verspielter Erotik. Hier knallen die Welten, auch die von Mann und Frau, spritzig aufeinander. Komik ist dabei Trumpf!

Zunächst sieht man klar mit „Clear“, das die Schaffung von klaren Verhältnissen ganz wörtlich groß schreibt. Es ist herrlicher Sommer auf der Bühne, ein gelbes warmes Licht strömt auf die in goldenes Ockergelb gehüllten Körper. Der Choreograph Stanton Welch, 1969 geboren, leitet in den USA das bekannte Houston Ballet und weiß von daher, was er tut: Er frönt einem angenehm ruhigen Stil, der in die Tiefe wirksamen ist.

Es strengen sich alle an bei Stanton Welch

Marian Walter in „Clear“: Einer von sieben jungen Männern im Zusammenspiel mit nur einer Frau – Stanton Welch zeigt, dass das gut geht! Foto: Bettina Stöß

In Berlin stellt er sieben Männer und eine Lady auf. Zur nun wirklich absolut ordentlichen barocken Musik von Johann Sebastian Bach – und zwar dem Konzert für Violine und Oboe c-moll sowie dem Konzert für Violoine g-moll, 1. und 2. Satz – entwickelt sich das tänzerische Oktett in geschmeidigen, aber modern-chaotischen Mini-Balletten. Man unterläuft hier mainstreamige Gefälligkeit, indem Elemente, die eigentlich nicht zueinander passen, charmant miteinander kombiniert werden.

Flugs und wie aus einem Guss zitiert Welch die Stiltechniken von Maurice Béjart und Jiri Kylián. Huch? Denkt man zwischendurch, und da ist es auch schon vorbei und das nächste Mixturenglück dräut. Technische Finessen in flotten Tempi geben dem Ganzen ballettöse Würze, und am Ende darf das Hauptpaar sogar eine fragile Variante der New Yorker Freiheitsstatue darstellen.

GEPFLEGTES CHAOS

Wie meinte Jimi Hendrix noch, bei seinem legendären Konzert, bei dem er seine Gitarre zertrümmerte? „The Statue of Liberty is a prostitute!“ So weit hinein in das fallenreiche Feld der drastischen Provokation geht Welch nun niemals. Aber in Frage stellt auch er alles, was es an scheinbar sicheren Werten schon gegeben hat. Die elegant-dogmatische Devise des Stücks in meiner Wahrnehmung: Leben ohne Gott, aber mit Einsicht und Rücksichtnahme. Dazu passen auch die sanften Farben und die Einpassung der Tänzer in eine Umgebung, die indes mehr naturhaft als zivilisationsbehaftet erscheint.

Die Stars der Premiere im März 2014 waren hier Vladimir Malakhov und Marian Walter, sie tanzten das bravourös und ausbalanciert, wie auch Vladislav Marinov, der eine schöne Kontinuität, ein Ebenmaß an Spannung auffährt. Elisa Carillo Cabrera war die dem aufrechten Gang verpflichtete First Lady in der ansonsten nur aus Jungs bestehenden Gruppe: stark, liebevoll, bildschön. Jetzt tanzt auch Iana Salenko diese Partie, mit der für sie typischen Flinkheit. Männer und Frauen, Frauen und Männer: Hier heißt es: Alle für eine und eine für alle!

Welch schickt Frauen und Männer durch eine sanfte Natur

Drei junge Männer des Staatsballett Berlins sehen „Clear“ im gleichnamigen Ballett von Stanton Welch. Foto: Bettina Stöß

Eine ganz ordentliche Antwort auf das ewige „Cherchez la femme“ liefert auch das zweite Stück des Abends: „Namouna“ von Alexei Ratmansky. 1968 in Leningrad geboren, ist er das wandelnde Bolschoi im Jetset-Format. Hoch begabt, war er zunächst Erster Solist, dann Choreograph und von 2004 bis 2008 Ballettdirektor beim Bolschoi. Seither düst er als begehrter Schöpfer von abstrakten wie handlungsreichen Balletten rund um den Erdball. Oft arbeitet er in New York, wo er mit Frau und Sohn auch lebt. Dieses Jahr aber verschlägt es ihn gleich drei Mal an deutsche Bühnen: nach Berlin, nach Dresden und, mit der Premiere einer ganz neu rekonstruierten „Paquita“, nach München.

Das in Berlin zu sehende „Namouna“ wurde wie „Clear“ in New York uraufgeführt, ist aber viel knalliger und grotesker als dieses, und es stellt, typisch für den bisherigen Ratmansky-Stil, allerhöchste technische Ansprüche an die Tänzerinnen und Tänzer. Das ist nun in der Tat chaotisch im Sinne eines Vorstadiums der Perfektion: Ratmansky treibt seine Interpreten gern bis an ihre Grenzen, ändert dafür sogar die eigenen Choreographien. Blitzschnell und hoch virtuos, wirken seine Stücke mitunter, als habe jemand das Tempo mutwillig verschärft.

Bei einer von mir erlebten Probe in Berlin zeigte er mit eigenem körperlichen Einsatz, wie ernst es ihm mit jeder Sekunde Tanz ist. Nadja Saidakova, Rainer Krenstetter und Sarah Mestrovic ließen sich gern so stark fordern – und nutzten die brillant-furiose Gelegenheit, um sich zu entwickeln. Da Krenstetter aber als Principal ins Miami City Ballet in die USA wechselt, tanzt jetzt Marian Walter in Berlin die Herrenhauptrolle in „Namouna“. Gediegen-lyrisch ist seine Stärke, das jungenhaft Erfrischende, das die Rolle hier ausmacht, zeigte er auch schon als junger Siegfried in Maurice Béjarts „Ring um den Ring“.

Viele junge Damen buhlen um einen jungen Herrn

Wer die Wahl hat… bemerkt aber auch die Ähnlichkeiten der jungen Damen in Ratmanskys „Namouna“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Bettina Stöß

In „Namouna“ schaut man zunächst fast ungläubig den Irrungen und Wirrungen dieses jungen Matrosen zu, der staunend und berserkernd unter Dutzenden süßer Mädels die für ihn richtige Partnerin aussuchen darf. Was für eine Brautschau! Doch flugs versetzt einen die nächste Szene in eine andere Sphäre: als krasse Ballettparodie. Darin drehen sich die Frauen im knackkurzen Teller-Tutu nur um sich selbst; die Männer liefern sich wahre Schlachten an gesprungenen Pirouetten. Es wird gestorben und gleich wieder auferstanden, Pantomimen inklusive.

Das ist zum Piepen witzig. Marian Walter, mit Robert-Redford-Haartolle im sexy Matrosenlook, muss dazu laut „Drehbuch“ mit bubihaft-niedlichem Spiel entzücken, auch mit galant-gediegenen Tanzphrasen. Manches besteht aber auch aus glamourösen Zitaten, wie die schwierigen, aber so kecken Sprünge des „Blauen Vogel“ in der Petipa-Choreographie aus „Dornröschen“. Bei der Premiere riss Ulian Tupor als tänzerischer Widersacher in den Passagen der Klassik-Satire, die Aufmerksamkeit der Bravo-Rufer mit phänomenal symmetrischen Sprüngen an sich.

Furios und temporeich

Hier wird rasant gesprungen, Partnerwahl hin oder her! „Namouna“ beim Berliner Staatsballett. Foto: Bettina Stöß

Iana Balova war bei der Premiere mit flinken Spagatsprüngen eine Art personifizierte Mädchenhaftigkeit: frisch und froh. Die frauliche Nadja Saidakova ist hingegen die letztlich vom Matrosen Erwählte. Genialisch zuckt und streckt sie sich in dieser Partie, sie ist eine Überfrau und doch zugleich auch eine Parodie aufs Weiberklischee. So etwas können nur ganz großartige Damen tanzen!

Das ungleiche Paar, der Bubi mit Lady, beglückt im Stück alsbald mit schwierig-akrobatischen Hebungen. Aber erst, nachdem der Rest der Gesellschaft in Form des hervorragend gecoachten Ensembles den Liebenden huldigte, darf Lady Nadja ihrem Herzbuben einen fetten Knutschkuß aufdrücken. Diese Pose wird gehalten – als modernes Schlussbild. Sensationell. Für Ballett eine kleine Revolte!

Keine LIebhaber, nur Verehrer!

Wozu so eine Zigarette führen kann… aber eben nicht zu der einen Verführung, die genießen hier andere! Sarah Mestrovic posiert mit neugierigen Jungs in „Namouna“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Bettina Stöß

Der Stücktitel und die von Claude Debussy gelobte, pompös-theatrale Musik von Édouard Lalo zu „Namouna“ entstammen übrigens einem 1882 uraufgeführten Ballett über eine Sklavin. Diese, namens Namouna, erringt im Libretto erst ihre Freiheit und dann die große Liebe. Schon Giacomo Casanova erwähnt diese außergewöhnliche Liebhaberin in seinen Memoiren. Ratmansky nun nutzt im Bühnenspiel neben einer trendigen E-Zigarette – als Starthilfe beim Anbaggern der „Ballerinenschlampe“ Elena Pris – auch einzelne optische „Namouna“-Zitate.

So ist das Matrosenkostüm des heldenhaften Bubis eine Anspielung auf die Piraten, die Namouna ursprünglich entführen wollen. Stellt sich allerdings die Frage aller Fragen: Ist das nun eine chaotische oder ordentliche Modifizierung, die Ratmansky vornahm? Weil hier Utopie, Realität, Fantasie und Satire zusammen kommen, wird man darüber lange diskutieren müssen. Derweil kann man diesen Ballettabend besten Gewissens als fetzig bezeichnen. Insofern hat also doch alles seine Ordnung hier!

Wieder am 24.10. sowie am 1. und 7.11. im Berliner Schiller Theater.

www.staatsballett-berlin.de

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