Orgiastisch. „Onegin“ ist ein so orgiastisches Ballett, so voller Verstand und Emotionen, so voller Schönheit und Liebe, so voll von Radikalität und doch auch Ebenmaß! Und es ist so stark von echter Leidenschaft geprägt wie sonst kaum ein moderner Klassiker. John Cranko gelang eines der bedeutendsten Ballette überhaupt, und in jeder Vorstellung gibt.es Zuschauer, die nachgerade initiiert werden, was ihre Erfahrungen mit Bühnentanz angeht. Das Staatsballett Berlin bewies dieses mit seiner jüngsten Vorstellung gestern in der Staatsoper Unter den Linden einmal mehr. Die schönste Überraschung darin: Kammertänzer Marian Walter, der bei seinem Debüt als Titelheld vor zwei Jahren darstellerisch noch dilettierte, hat alle Facetten entwickelt, um als verwöhnter, aber an Weltschmerz leidender Dandy zu überzeugen. Es ist ein Genuss, dieser Entwicklung beizuwohnen! Jetzt muss er nur noch lernen, auch bei Premieren und Debüts diese Power, ebenso diese Demut zu entfalten. An seiner Seite brilliert Ksenia Ovsyanick als eine Tatjana, die zwar bis zum Schluss erkennbar das scheue Mädchen vom Land bleibt, darin aber dermaßen anmutig und passioniert agiert, dass man von einer en detail bahnbrechenden Neuinterpretation sprechen muss. Bravo! Dank dafür auch an ihre Ballettmeisterin und Vorgängerin als Tatjana, Nadja Saidakova – ohne deren energetisch, aber auch intellektuell tiefgreifenden Kenntnisse des Stücks wäre diese Leistung vielleicht nicht möglich gewesen. Ebenfalls eine feine Überraschung: Iana Balova in ihrem Rollendebüt als zarte, frisch-elegante, dabei hoch präzise getanzte Olga. Eine Erbauung! Ich erinnere mich an einen Auftritt von ihr 2009 in den „Glories of the Romantic Ballet“ von Pierre Lacotte– und daran, dass ich sie, die damals im Corps tanzte, daraufhin als Solistin empfahl, was sich jetzt endlich mal wieder vollauf einlöst. Mit Primoballerino Dinu Tamazlacaru als charmant-temperamentvollem Poeten Lenski bildet sie ein nachgerade himmlisches lyrisches Paar, wie aus feiner Spitze gewebt und stets in den Lüften der Liebe schwebend. Die beiden möchte man öfter zusammen sehen!
Hinreißende Ensembleszenen ergänzen den Abend zu einem fulminanten Gesamterlebnis, begleitet von der kontrastreich schillernden, filigran getakteten Musik von Peter I. Tschaikowsky, welche der hierin geniale Kurt-Heinz Stolze fürs Ballett bearbeitete. Stardirigent Paul Connelly erweist Berlin wirklich eine Ehre, die ihrerseits hervorragend aufgestellte Staatskapelle Berlin solchermaßen auf den Punkt gebracht, dennoch im Ausdruck spritzig und vital zu leiten: Das macht den Abend zu einem auch akustischen Höhenflug der schönen Künste!
Stolze (1926 – 1970) war aber auch ein Glücksfall ohne Beispiel fürs Ballett.
Er verstand es, den Esprit eines Komponisten durch neue Orchestrierungen nochmals zu steigern, was im Fall des ohnehin ballettaffinen Tschaikowsky (1840 – 1893) zu einer cineastisch so hauchzart wie schwer dramatisch austarierten Partitur führte.
„Onegin“ ist Stolzes Meisterstück, wie es auch das „Best of“ des choreografischen Genies John Cranko (1927 – 1973) ist. Bei der ersten Uraufführung in Stuttgart 1965 konnte es dennoch nicht genügend mitreißen, wohl aber 1967, nach einer kräftigen Überarbeitung. Die doppelte Arbeit, die Cranko hineingesteckt hat, zahlt sich noch heute bei jeder Aufführung immer wieder aufs Neue aus: Es gibt wohl keinen Ballettfan, der dieses Werk nicht jedes Mal in vollen Zügen gierig aufsaugt, ohne je davon genug zu bekommen.
Auf ein absolut hohes Niveau bei der Einstudierung und Interpretation muss indes geachtet werden!
Da konnte man beim Staatsballett Berlin insgesamt noch nie meckern, „Onegin“ ist eines jener Stücke, die man untrennbar mit der Company erinnert und verbindet.
Das liegt auch an der geradlinigen, dennoch romantisch-schwärmerischen Darbietung des Corps de ballet, das unter anderem mit den die beiden Bühnendiagonalen füllenden Spagatsprüngen der Damen an den Händen ihrer Kavaliere so majestätisch wie demokratisch reüssiert.
Ausgelassenheit – die auch in wundervollen, großen Sprüngen der Jungs kulminiert – und stilistische Akkuratesse prägen in eins Hand in Hand Crankos Handlungsballette, so auch den „Onegin“.
Wer aber nun glaubt, hier triumphiere der Tanz pur, täuscht sich: Nichts ist Selbstzweck im „Onegin“, jede Geste, jede Pose, jeder Sprung, jede gleitende Bewegung hat im Kontext des Stücks ihre darstellerischen Bedeutungen, die sich auch unübersehbar übermitteln. Die Figuren sind so deutlich gezeichnet, dass man glauben könnte, der Choreograf habe sie frei und speziell für sein Libretto erfunden. Faktisch basieren sie aber sowohl auf der Tschaikowsky-Oper „Eugen Onegin“ – dessen Opernmusik hier dennoch gerade nicht verwendet wird – als auch auf dem auch der Oper zu Grunde liegenden gleichnamigen Versroman von Alexander Puschkin (1799 – 1837).
Russische Kinder wachsen mit dem Helden Onegin auf: Der vom Schicksal verwöhnte Lebemann Eugen Onegin wird von der jüngeren, aber klugen Tatjana geliebt, die er zu spät schätzen lernt, nämlich erst, wenn sie bereits eine verheiratete Fürstin Gremin ist.
Als Onegin, der etwas hochnäsige Aristokrat, Tatjanas Familie, die aus von Frauen dominierten Landadligen besteht, besucht, verliebt sich Tatjana sofort in ihn. Aber auch Angst erfasst die schüchterne junge Dame bei seinem Anblick, denn sie ahnt, dass er ihr kein Glück bescheren wird. Bei einem Spaziergang offenbart sich Onegin ihr nicht als Verehrer, aber als von Weltschmerz geplagter, an ewiger Sehnsucht leidender Intellektueller.
Tatjana erringt sein Herz, ohne es zu wollen, als sie bereits verheiratet ist, und zwar glücklich.
Zehn Jahre liegen dazwischen, Onegins schöne Schläfen sind ergraut.
Auf den das Stück beschließende Pas de deux läuft hier alles hinaus: Onegins Grausamkeit Tatjana gegenüber im ersten Akt, als er ihr ihren Liebesbrief zurückgibt; die Vergebung des Duells mit Lenski, das Onegin ja provozierte, als er heftig mit Lenskis Verlobter Olga flirtete; Onegins zahlreiche Erinnerungen an elegante Damen, die er verführt hat; Tatjanas Erfahrung einer gefestigten, gewachsenen ehelichen Beziehung.
Aber dieser atemberaubende, immer noch hochmodern anmutende Pas de deux, in dem er sie fast – aber nur fast – verführen kann, beruht choreografisch auch auf einer Fantasie Tatjanas, die sie einst nächtlich beim Schreiben des verfänglichen Liebesbriefes hatte. Darin trat der geliebte Kerl aus dem Schlafzimmerspiegel und lehrte die arglose Büchernärrin das sinnliche Begehren. Akrobatisch-raffinierte Hebungen, Sprünge, Umarmungen – all das hatte Tatjana in ihrem Traum mit Onegin.
Seiner realitären Ablehnung – im Roman mit der Begründung, er wolle sich nicht binden – steht ihr Liebeskummer, ihr Liebesweh entgegen. Als Onegin, um sich abzureagieren und auch, um Tatjana für ihre wiederholte Annäherung zu bestrafen, heftig mit der Verlobten seines Freundes Lenski flirtet, also mit Olga, kommt es zum Bruch der Männerfreundschaft.
Lenski, der ein so empfindsames wie eifersüchtiges Naturell hat, fordert den viel erfahreneren Onegin zum Duell.
Das große Mondschein-Solo Lenskis ist sein Abschied vom weltlichen Dasein.
Oftmals ist es so gedeutet worden, dass Lenski weiß, dass sein Leben enden wird, dass Onegin ihn tödlich treffen wird, um nicht selbst zu sterben. Dinu Tamazlacaru verleiht dieser Partie aber auch das tragische Flair dessen, der als Opfer seiner eigenen Heißblütigkeit stirbt.
Autoaggression ist ein Thema in diesen Zeiten, und es ist großartig, dass man auch im Ballett darüber nachdenken kann.
Zumal wenn sie die zweite Seite einer Medaille ist, die ansonsten aus liebevoller Glücksverheißung besteht. Doch eben der feste Glaube an eine gute Zukunft erweist sich als trügerisch.
Choreografisch haben die beiden Männer Lenski und Onegin in ihren Soli sogar Ähnlichkeit. Vom Ausdruck her aber stehen sie im Gegensatz: Lenski ist der gefühlvolle, sanfte, charmante Liebhabertyp, Onegin hingegen der sich arrogant gebende intellektuelle Macho.
In Tschaikowskys Oper trägt ihre Freundschaft auch homosexuelle Züge, im Ballett von Cranko jedoch ist Bisexualität eher tabuisiert. Allerdings fällt auf, wie eifrig sich Onegin um Olga bemüht, offenbar aber ohne ernsthaftes Interesse an ihr zu haben.
Iana Balova ist als Olga weniger ein kesses Flittchen (was so manche Olga ist und auch sein darf) als vielmehr eine – trotz oder sogar wegen ihrer ätherischen Leichtigkeit – sehr emanzipierte junge Frau. Sie ist zwar mit Lenski verlobt, will sich die Freiheit, auch mit einem anderen flirtend zu tanzen, aber nicht nehmen lassen. Natürlich macht sie sich Vorwürfe, als ihr Verlobter wegen ihr ins tödliche Duell geht.
Unmittelbar vorher gibt es einen heißen Kuss zwischen den beiden, der anknüpft an einen erotisch aufgeladenen Kuss, aus dem Olga noch jungfräulich erschrocken flüchtete. Jetzt, kurz vor dem Duell, ist es Lenski, der sie rüde aus der Umarmung stößt – es ist ein Schlüsselmoment an Unglück unserer Zivilisation, das Cranko hier inszenierte: Bevor der Mann in den Krieg zieht, verschmäht er die Liebe.
An Sexiness fehlt es in „Onegin“ allerdings keiner Szene.
Es wird getändelt und gescherzt, tänzerisch wie schauspielerisch.
Die drei heiratsfähigen Männer, die die Handlung beeinflussen, repräsentieren drei Liebhabermodelle.
Onegin steht für den vielseitigen, promiskuitiven Mann; Lenski für den unbeherrschten Sensiblen; Gremin – noch etwas ungeübt, aber mit sehr viel vornehmem Potenzial von Vahe Martirosyan getanzt – für die aufgeklärte, solide Partnerschaft.
Und: Drei Generationen agieren hier miteinander, es gibt alte Menschen mit weißen Haaren, es gibt die Elterngeneration erwachsener Kinder und es gibt junge Erwachsene, die auch das Gros des Corps ausmachen. Aber die Interaktionen sind liebenswert und pfiffig gemacht: Cranko zeichnet sehr geschickt das Panorama einer Gesellschaft mit utopisch hierarchielosem Profil.
Onegin steht hier fast außen vor, er kommt als Außenseiter aus der Stadt aufs Land, in eine Gemeinschaft der alltäglich Seligen, wenn man so will. Er bringt das Unglück, denn er bringt Liebe, Schmerz und Tod…
Marian Walter ist endlich das, was er als Onegin sein muss: eine Erscheinung vom ersten Auftritt an.
Seine Mimik, seine Schritte, sein Tanz zeichnen den charismatischen Egozentriker, der alle Blicke auf sich zieht und dennoch so tut, als wüsste er das nicht. Zielstrebig schaut er Tatjana an, erkennt die von innen erblühende Schönheit in ihr, klopft sich aber nach dem Spaziergang mit ihr die Haare vom Ärmel, als wolle er mit einer so braven Landpomeranze nicht allzu viel zu tun haben.
Als er sie später wiedersieht und als glückliche Gattin eines anderen begreifen muss, entflammt das in ihm nicht nur auf Anhieb Eifersucht und sexuelle Begierde – wie in vielen anderen fabelhaften Onegin-Darstellern – sondern auch wahre Liebe.
Walters Onegin ist nicht nur Triebtier, sondern auch ein unglücklich verrutschtes Herz, ein Mann, der jahrelang sexuelle Ausschweifung als Selbstverwirklichung praktizierte, bevor er erkennt, dass eine intensive Zweierbeziehung auch Vorteile hat.
Und so kämpft er im abschließenden Pas de deux mit Tatjana um sein Lebensglück, nicht nur um eine Verführung.
Ach, Tatjana! Dass sie hier standhalten kann! Wie bei jeder wirklich grandiosen Besetzung dieser Partie zittert man auch bei Ksenia Ovsyanick mit ihr mit, hofft und bangt und hält es bis zum Schluss für möglich, dass sie doch noch ihren Gefühlen nachgibt und dem einst so begehrten Schönling folgt. Wohin auch immer…
Aufgeladen mit Wut und Liebe, Angst und Hass, vor allem aber mit erotischer Anziehungskraft strotzt dieser Schluss-Pas-de-deux nur so durch das Widerspiel zweier Ungleicher, die dennoch nicht voneinander lassen können.
Fast scheint es purer Zufall, dass Tatjana den Kopf oben behält und den Verstand siegen lässt.
Dabei kommt es zum Kuss, kurz sogar auf den Mund, in anderen Interpretationen nur auf die Schultern – und Tatjana erschaudert, weil sie sich gegen die Liebe in sich selbst nun mal nicht wirklich wehren kann.
Endlich verehrt sie der einst so stark Geliebte mit ganzer Seele, er legt sich ihr zu Füßen, packt sie am Handgelenk, um sie zu umfangen – und doch ist es zehn Jahre zu spät, um miteinander ein Glück zu beginnen.
Die absolut fordernden Hebungen und auch die beiden fantastischen „Hexensprünge“, bei denen Onegin seine Tatjana erst auf den Boden legt, um sie dann zwei Mal in den vertikalen Spagatsprung zu manövrieren, absolviert das Duo Walter-Ovsyanick mit Verve! Welche Schönheit, welche Anmut, welche Leidenschaft!
Und welche erotisierende Akkuratesse!
Oh, und es funkt zwischen ihnen, wie es nur zwischen zwei tragisch einander Verbundenen ergehen kann. Denn nur zwischen ihnen sind die Grenzen bereits aufgehoben, nur sie balancieren mit jedem feurigen Blick zwischen Leben und Tod.
Das schafft so nur die ganz hohe Kunst… Bravissimo!
Und ein herzliches Dankeschön an alle, die zum Gelingen dieser Aufführung beigetragen haben. Es wird fürs Erste nicht mehr viele davon geben, denn „Onegin“ verlässt im April 2019 den Berliner Spielplan. Schluchz. Seufz!
Gisela Sonnenburg