„Ballett ist eine transzendente Kunst“ Nacho Duato im Interview – und ein Outlook auf die Premiere „Duato / Kylián / Naharin“ mit den Stücken „Castrati“, „Petite Mort“ und „Secus“ beim Staatsballett Berlin

Nacho Duato erzählt von seiner Arbeit.

Er konzentriert sich gern auch auf die schwierigen Fragen – und auf die Gegenwelt zur Gegenwelt des Balletts: Nacho Duato sieht Bühnentanz nicht eindimensional. Foto: Gisela Sonnenburg

Das kleine Büro des Intendanten vom Staatsballett Berlin bietet einen ungewöhnlichen Ausblick. Draußen, auf der schmalen Terrasse, kriecht ein knallweißes Reptil, ein Alligator, über die Holzplanken: Es ist ein Prototyp seines vergoldeten Artgenossen in der Ausstattung von Nacho Duatos Inszenierung von „Dornröschen“. Als unübersehbarer Talisman sorgt das hereinlugende, metergroße Utensil für Lacher bei jedem aufmerksamen Besucher des Büros. Da ist die Atmosphäre gleich hintergründig aufgeladen, und die schön aufgemachten Bücher, die sich drinnen stapeln – eines davon über Yoko Ono, die aus einer Samurai-Familie stammende Künstlerin und Witwe von John Lennon – ergänzen die Stimmung von Kreativität und Stil. Nacho Duato, der geniale spanische Choreograf und Ballettintendant, ist Ästhet durch und durch, davon erzählt sein Büro, und davon spricht ja auch seine Arbeit Bände. Die Berliner Premiere seines Stücks „Castrati“ steht kurz bevor, gemeinsam mit „Petite Mort“ von Jiří Kylián und „Secus“ von Ohad Naharin.

Nacho Duato erzählt von seiner Arbeit.

Die Männer finden sich in ihre Positionen zum Probenstart: Probe bei Staatsballett Berlin für „Castrati“ von Nacho Duato. Foto: Gisela Sonnenburg

Eine Verklammerung der drei Stücke ergibt sich durch ihre Sinnlichkeit, die jede Bewegung durchdringt – und die auch thematisch Anlass für die drei dennoch sehr unterschiedlichen Ballette gibt.

Nacho Duato erzählt von seiner Arbeit.

Nacho Duato probt mit Alexej Orlenco und dem Staatsballett Berlin für „Castrati“. Foto: Gisela Sonnenburg

Nacho Duatos „Castrati“, ein reines Männerballett mit neun Protagonisten, erzählt in Duatos elegant-prägnantem Stil von einem historischen Tabuthema, von den entsprechenden Ängsten und Schrecken. Es geht um die Angst vor dem Verlust von sexueller Identität. Dennoch geht es auch, zur barocken Musik von Antonio Vivaldi und zur zeitgenössischen von Karl Jenkins, um den mal tröstlichen, mal brutalen sinnlichem Umgang miteinander, hier: in einem Klima der Angst.

Nacho Duato erzählt von seiner Arbeit.

Nacho Duato tanzt – oft mit seinem Ersten Ballettmeister Gentian Doda – viel vor. Hand up! Und auf den Ausdruck kommt es an… Foto: Gisela Sonnenburg

„Secus“ von Ohad Naharin, dem Leiter der Batsheva Dance Company in Tel Aviv, baut darauf gewissermaßen auf, verkehrt aber die Stimmung ins Helle, ins Positive und ins Hoffnungsvolle: das Miteinander von 16 Tänzerinnen und Tänzern steht auch hier im Vordergrund, und in schnellen, raschen Bewegungen und mit flippigen, frei gefundenen Gesten ergibt sich eine energetische Explosion aus Nähe und Sensualität. Nicht zufällig klingt „Secus“ ähnlich wie „Sexus“. Dass unter anderem rhythmisch mitreißende Musik der „Beach Boys“ verwendet wird, klingt da nur logisch.

Nacho Duato erzählt von seiner Arbeit.

Zwei Männerpaare tanzen hier, aber um Liebe geht es nicht – „Castrati“-Probe beim Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

„Petite Mort“ von Jiří Kylián ist hingegen weniger poppig-swingend als vielmehr ganz elegisch und getragen. Ein überraschungsvolles Stück für sechs Paare, das einerseits die speziell männliche und andererseits die speziell weibliche Energie untersucht. Adagio-Sätze von Mozart bilden die musikalische Grundlage. Die Männer hantieren da mit Degen, die Damen mit Kleiderbüsten. In gewisser Weise greift „Petite Mort“ – der Titel bezieht sich auf den „kleinen Tod“ als Synonym für den Orgasmus – die dunklen und hellen Gedanken über Menschen auf, die in den beiden voran gegangenen Stücken bereits zu Tage treten.

Nacho Duato erzählt von seiner Arbeit.

Hebungen und dann folgen oft Bodenkontakte: „Castrati“ von Nacho Duato hat viel mit den schwierigen Beziehungen von Menschen zu tun. Proben-Foto: Gisela Sonnenburg

Das folgende Interview mit Nacho Duato fand wenige Tage vor der Premiere statt:

Nacho Duato erzählt von seiner Arbeit.

Die jungen Männer stellen sich in eine Reihe – aus dieser entwickeln sich dann wieder vielfältige Bewegungskombinationen. Probenfoto von „Castrati“ von Nacho Duato beim Staatsballett Berlin: Gisela Sonnenburg

Ballett-Journal: Nacho, Sie sind sozusagen der Spezialist für Barockmusik unter den bedeutenden zeitgenössischen Choreografen.

Nacho Duato: Oh nein, ich bin kein Spezialist, aber ich liebe die Musik des Barock. Bach, Vivaldi, Scarlatti, Corelli und so weiter – das sind Musiken, die eine große Erhabenheit verströmen, und das wiederum berührt mich sehr. Außerdem liebe ich Musik mit Gesang, mit der menschlichen Stimme. Mein erstes Ballett, „Jardi tancat“, choreografierte ich zum Gesang der spanischen Sängerin Maria del Mar Bonet. Und auch in „Castrati“ spielt die menschliche Stimme eine große Rolle. Ich kam über die Beschäftigung mit den Arien, die im Barock für Kastraten geschrieben wurden, zu diesem Thema.

Nacho Duato erzählt von seiner Arbeit.

Zu Beginn ist auch Gehen noch Teil der Choreografie, die dann schnell an Tempo und Raffinesse gewinnt. So bei einer intensiven „Castrati“-Probe beim Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Ballett-Journal: Es geht in „Castrati“ um die Ängste eines Jungen im Barockzeitalter, der in die Gemeinschaft der singenden Kastraten aufgenommen und darum entmannt werden soll. Die schönsten Arien wurden damals für die hohen Männerstimmen der Kastraten geschrieben.

Nacho Duato erzählt von seiner Arbeit.

Auch das gehört zu einer Ballettprobe dazu: aufmerksam zuschauen, beobachten, lernen, dabei Kraft sammeln. Alexej Orlenco während der „Castratii“-Probe beim Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Nacho Duato: Dabei war die Kastration eine schreckliche Folter, die man den kleinen Kindern antat. Man hat die Familien dieser Kinder dafür bezahlt, dass sie ihre Jungs dafür hergaben. Aber es war für alle furchtbar: für die Kinder, für ihre Familien, für ihre Zukunft. Es bildeten sich dann auch Vorurteile heraus: Die Kastraten seien alle homosexuell oder Lustknaben oder so etwas. Das stimmt aber nicht. Man hat sie nur der Musik wegen entmannt: damit sie diese schönen Arien in den hohen Tonlagen singen konnten.

Nacho Duato erzählt von seiner Arbeit.

Kévin Pouzou, der hier nicht das Opfer darstellt, beim Tanzen in „Castrati“, während der Probe mit dem Staatsballett Berlin: so passioniert wie konzentriert. Foto: Gisela Sonnenburg

Ballett-Journal: Als Liebhaber waren manche von ihnen bei reichen Damen begehrt, weil es zu keinen Schwangerschaften kommen konnte. Aber das Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität wurde den Jungen durch die Kastration auf grausame Weise genommen, ihre Libido stark eingeschränkt. Gibt es da im übertragenen Sinn Parallelen zur heutigen Zeit, dass Menschen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, ihre Sexualität opfern müssen?

Nacho Duato: Man kann das nicht direkt vergleichen. Heute singen Countertenöre diese Arien, und es klingt wunderschön. Aber was es heute auch gibt, ist, dass Menschen sich und die Ausrichtung ihrer Sexualität verstecken. Ich bin dafür, dass man so leben kann, wie man es möchte, und dass man das auch sagen darf. Unsere Welt ist aber nicht nur einfach und nett, da gibt es viele Konflikte, und ich möchte in der Kunst auch über die Probleme sprechen. Da gibt es Intoleranz, Verleumdung, Terror. Verfolgung, Folter.

Nacho Duato erzählt von seiner Arbeit.

Das Ende von Nacho Duatos „Castrati“ ist realistisch, nicht märchenhaft. Die Tänzer müssen auf sehr hohem Niveau emotional und körperlich agieren. Proben-Foto: Gisela Sonnenburg

In meinem nächsten Ballett hier in Berlin, „Herrumbre“ („Rost“, d. R.), geht es sogar um Folter, um den ganz krassen Machtmissbrauch, also um schwer wiegende, auch real aktuelle Probleme. Ich möchte nämlich nicht, dass es im Ballett immer nur so vor lauter Prinzen wimmelt und alles eine heile Welt ist. Das ist nur die eine Seite vom Ballett, ich habe sie mit „Dornröschen“ gezeigt. Die andere Seite der Medaille aber muss sich mit den ganz ernsthaften Dingen befassen. Natürlich auf eine ästhetische Weise, dafür ist es ja Ballett. Aber man kann und muss das tun: Die Gegenwart darf nicht ausgeklammert werden von unserem Denken und Schaffen.

Ballett-Journal: Darin sind Sie ein großer Pionier im Ballett. Die meisten modernen, auch die abstrakten Choreografen vor Ihnen haben sich vor so „harten“, realistischen Themen gescheut. Sie hingegen haben mit „White Darkness“ auch über Drogensucht schon ein Ballett gemacht. Es wird Zeit, dass Tanz sich dieser Dinge verstärkt annimmt. Wann haben Sie damit begonnen?

Nacho Duato: „Castrati“, das 2002 entstand, ist das erste meiner bis heute insgesamt etwa 80 Ballette, das so ein hartes Thema behandelt.

Nacho Duato erzählt von seiner Arbeit.

Wie ist die Emotion hier? Wie setzt man sie als Tänzer um? Das Staatsballett Berlin probt mit vollem Einsatz „Castrati“ von Nacho Duato. Foto: Gisela Sonnenburg

Ballett-Journal: Insofern ist es ein Meilenstein in Ihrem Gesamtwerk.

Nacho Duato: Auch wenn ein Thema hart ist: Zugleich benötigt Ballett mehr Schutz. Es ist immer eine sehr fragile Kunst, die Schutz sehr nötig hat. Ballett ist unantastbar, unberührbar, fast sakral, man kann es nicht anfassen oder festhalten, es verfliegt so leicht. Es ist eine transzendente Kunst. Dennoch haben all die anderen Künste mehr Schutz: Oper, Theater, Museen – da wird sich viel mehr darum gekümmert. Dieses Engagement muss für den Tanz wachsen und stärker werden. Gerade weil die Ballettkunst nicht so fassbar ist wie beispielsweise ein Gemälde, das man an die Wand hängen kann, oder wie eine Oper, die vehement mit Lautstärke präsent ist.

Ballett-Journal: In Deutschland haben wir wohl zudem noch immer ein Handicap mit dem Tanz, weil die Nazis das Ballett stark unterdrückten. Sie wollten Ausdruckstanz und Gymnastik, aber Ballett fanden sie dekadent und morbide. Unausgesprochen hängt uns das noch nach. Dabei ist Ballett eine so vitale und sinnliche Kunst! Und die Tänzer tun soviel dafür, um sie möglichst vollendet auszuüben.

Nacho Duato: Ich stimme Ihnen zu. Ja, und wenn man sich ansieht, wie schwer das Tänzerleben ist, dann muss man sich auch anschauen, wo man es verbessern, es erleichtern kann. Ich kümmere mich zum Beispiel gerade darum, dass, wenn das Staatsballett Berlin eine Vorstellung am Vorabend hatte, es nicht am Vormittag schon wieder zur Probe da sein muss. Das ist doch einfach zuviel verlangt: Die Tänzer sind gegen Mitternacht zu Hause und sollen nach ein paar Stunden schon wieder proben, womöglich noch eine Generalprobe leisten, was besonders anstrengend ist. So etwas geht nicht, Ballett ist eine auch körperlich sehr fordernde Arbeit, und derzeit kämpfe ich hier im Haus dafür, dass dem Rechnung getragen wird.

Ballett-Journal: Die Tänzer und Sie ziehen sehr gut an einem Strang. Das hat sich auch während der Streiks in der letzten Spielzeit gezeigt.

Nacho Duato erzählt von seiner Arbeit.

Jede Pose muss stimmen, auch wenn es dann nur Sekundenbruchteile auf der Bühne sind: „Castrati“-Probe beim Staatsballett Berlin, mit zwei völlig synchron tanzenden Körperkünstlern. Foto: Gisela Sonnenburg

Nacho Duato: Ich verbringe auch möglichst viel Zeit im Ballettsaal. Das ist meiner Meinung nach extrem wichtig: dass man den Kontakt, den engen Arbeitskontakt zu den Tänzerinnen und Tänzern hat. Das gehört zu meinen Aufgaben, so, wie ich meinen Job verstehe: Ich muss wissen, wie es meiner Compagnie geht. Es war jetzt auch aufregend für mich, das Ensemble mit Ohad Naharins Tanztechnik „Gaga“ arbeiten zu sehen. Die Tänzer haben Unterricht in Naharins moderner Methode bekommen, und das hat ihnen sehr gut getan. Gaga lockert auf – und hilft den Tänzern dann vor allem beim klassischen Tanz, der so ein starkes Regularium hat, nicht zu verkrampfen.

Nacho Duato erzählt von seiner Arbeit.

Arshak Ghalumyan nach der „Castrati“-Probe: erschöpft, aber weiter tatenfroh. Foto: Gisela Sonnenburg

Ballett-Journal: Das ist ein schöner Nebeneffekt! Die kommende Premiere zeigt ja mit „Secus“ auch ein Stück von Ohad Naharin. Woher kommt eigentlich der Titel?

Nacho Duato: Ich glaube, Naharin benutzt Fantasiewörter. So wie „Gaga“ eben auch „Secus“. Da darf man assoziieren. Es geht in dem Stück um Lust, um Leidenschaft, um Sinnlichkeit, aber es gibt keine große Dramatik, sondern alles ist wie ein einziger Fluss, der sich in vielen Strudeln entfaltet. Das macht sehr großen Spaß! Die Tänzer improvisieren außerdem auch, live auf der Bühne – das gehört bei Ohad Naharin häufig dazu.

Ballett-Journal: Und dann gibt es noch ein weltberühmtes Stück von Jiří Kylián.

Nacho Duato erzählt von seiner Arbeit.

Schaut gespannt in die Zukunft: Nacho Duato nach unserem Interview am 20.10.15. Foto: Gisela Sonnenburg

Nacho Duato: „Petite Mort“ – ein wundervolles Stück! Ich kenne es aus der Zeit, als ich in Den Haag Tänzer im Nederlands Dans Theater (NDT) war, unter der Leitung von Jiří Kylián. Ich bin von der Zeitspanne dort geprägt, es waren immerhin neun Jahre, und ich habe damals angefangen zu choreografieren. Heute lade ich Kylián, zu dem ich eine herzliche Beziehung habe, ein, sein Stück in Berlin zu zeigen. Ich kenne ihn aber sogar noch länger als aus der Zeit beim NDT. Und zwar tanzte er bei Maurice Béjart, als ich Student in Béjarts Schule „Mudra“ war. So schließt sich immer wieder ein Kreis.
Text und Interview: Gisela Sonnenburg

„Duato / Kylián / Naharin“ premierte am Donnerstag, 22.10.15, 19.30 Uhr in der Deutschen Oper Berlin. Zur Rezension bitte hier:

www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-duato-kylian-naharin/

Weitere Termine: siehe „Spielplan“ – und hier:

www.staatsballett-berlin.de

ballett journal