Die Liebe in Person Luciana Voltolini debütierte gestern als „La Sylphide“ beim Staatsballett Berlin: ein Fest der Jugend und Frische

"La Sylphide" mit La Voltolini

Glückseligkeit beim Applaus nach dem Debütabend, vorn (von li.): Aurora Dickie als Madge, Dirigent Christensen, Luciana Voltolini als „La Sylphide“, Marian Walter als ihr James, Alicia Ruben als seine Verlobte Effie und Ulan Topor als ihr Trostgatte Turn  so zu sehen mit dem Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Ach, sie ist so jung, so unbeschwert, so feinfühlig – was für eine Elfe! Luciana Voltolini, schon seit einigen Jahren im Staatsballett Berlin auffallend brillant in den wesentlichen tänzerischen Dingen, wirbelt und trippelt, charmiert und schwebt als „La Sylphide“ über die Bühne der Deutschen Oper Berlin wie ein Poesie gewordener Lufthauch. Welch eine sanfte Brise! Es ist, als habe der Sommerwind sein eigentliches Kostüm gefunden und die Zärtlichkeit ihr ureigenes Schuhwerk: La Voltolini – an der Bolshoi Theatre School in Brasilien sowie in Boston, USA, ausgebildet und vor ihrem Engagement nach Berlin 2015 beim American Ballet Theatre in New York tanzend – ist in dieser Partie die Liebe in Person. In ihren Spitzenschuhen wirkt sie wie ein surreales Wesen, das uns Menschen beibringen möchte, was das Leben ohne Hass, ohne Neid, ohne Arroganz wert ist. Schalkhaft und schelmisch ist sie manchmal, vor allem aber hilfreich und bezaubernd. Und sie hat eine so hübsche Figurine! Welcher Mann könnte da widerstehen… Kammertänzer Marian Walter als James jedenfalls nicht, und das ist auch gut so. Denn sonst könnten wir diese tiefsinnige Geschichte über die Liebe und ihre tödliche Ohnmacht nicht genießen.

"La Sylphide" mit La Voltolini

Ein neues Dreamteam auf Berlins Ballettbühnen: die erfrischende Luciana Voltolini und der fulminante Marian Walter. Applaus-Foto aus der Deutschen Oper Berlin: Gisela Sonnenburg

Wenn sich der Vorhang öffnet, ist das Bild stimmig: James sitzt selig schlummernd im Sessel, für seine Hochzeit mit der irdischen Effie schon mit dem Schottenrock geschmückt, und ihm zu Füßen kniet die süße überirdische Sylphide, die sich angelockt fühlt von diesem propperen, aber gern in verwegene Träume flüchtenden jungen Landadligen.

Das sich anschließende erste Solo von Luciana Voltolini als Sylphide kündet von der Verbindung des Menschen zu höheren Naturmächten: keine Unsterblichkeit gibt es da, aber ein sensitives Gefilde der organischen Schönheit und poetischen Daseinskultur. Grazie ist Trumpf, und das Flattern des vielschichtigen Tülltutus während der zierlichen Sprünge macht deutlich: Hier geht es nicht um Alltag und schon gar nicht um Konfliktbewältigung, sondern hier ist spirituelle Weltflucht mit erhabenem Impetus angesagt.

Als James erwacht, ist er durch Marian Walter von der ersten Sekunde an voll präsent. Was für eine Freude, diesen begabten Tänzer, der einst an der Staatlichen Ballettschule Berlin ausgebildet wurde, wieder in Hochform zu sehen! War er bei der Premiere noch viel zu repräsentativ im Ausdruck, kommt jetzt wieder jede Bewegung bei ihm ganz von innen. Zum Dahinschmelzen…

Leidenschaft und Sehnsucht beflügeln diesen James, sie beseelen seine exquisiten Sprünge – da gibt es große und kleine, solche mit Grandezza und solche mit dem verzwicktem Charme der winzigen Details – und sie lenken seine geschmeidigen Pirouetten tout en balance. Fulminant!

"La Sylphide" mit La Voltolini

Noch einmal das neue Bühnenpaar vom Staatsballett Berlin: Luciana Voltolini und Marian Walter beim Applaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist ja kein Zufall, dass die Sylphide, dieses Zwitterwesen aus Göttlichkeit und Menschheit, sich gerade ihm annähert, und das kann man in dieser Aufführung ausgiebig genießen.

Im Grunde handelt sich um einen Clash of cultures, denn die Luftgeistfrau kommt aus dem Wald, der Junker hingegen strebt die Weihen der im 19. Jahrhundert voran rückenden Zivilisation an.

James steht kurz vor der Verheiratung mit einem Mädchen aus seiner sozialen Klasse, aber innerlich zerreißt ihn der Wunsch nach einem ganz anderen Erleben. Wolllust und Scham mögen in ihm kämpfen, aber die auch sexuell motivierte Neugierde obsiegt.

Und das schon lange, bevor er es selbst bemerkt…

Als ihn später Gurn, sein Nebenbuhler bei seiner Braut, beim Flattertanz mit der Sylphide erwischt, streitet James alles ab. Die Zauberkünste der Sylphide helfen ihm dabei: Flugs verschwindet sie, löst sich in Luft auf, als wäre sie nie da gewesen.

Und genauso plötzlich und unverhofft kehrt sie zurück.

Da steht sie, vom Sonnenlicht übergossen, im Fensterrahmen und begehrt Einlass nicht nur in die gute Stube, sondern auch ins Herz des ihr ohnehin bereits erliegenden James.

Ihre Paartänze sind – choreografiebedingt – geprägt von großer Distanz trotz stetem Locken und Zueinanderstreben, was einerseits ihren Respekt und auch ihre Scheu voreinander ausdrückt, andererseits aber vor allem der hauchzarten Beschaffenheit der Sylphide geschuldet ist. Der dänische Ballettmeister Frank Andersen, der diese Rekonstruktion der Version von August Bournonville von 1836 verantwortet, betont gerade diesen Aspekt der Beziehung der beiden Liebenden.

"La Sylphide" mit La Voltolini

Applaus für Luciana Voltolini, derzeit Demi-Solistin beim Staatsballett Berlin, nach ihrem feinen Debüt als „La Sylphide“ in der Deutschen Oper Berlin. Rechts außen: Krasina Pavlova, eine sehr feine Erste Sylphide Foto: Gisela Sonnenburg

Letztlich ist es vielleicht ein Ding der Unmöglichkeit, als Normalsterblicher mit einer Sylphide glücklich zu werden. Es sei denn, man verzichtet auf die üblichen Praktiken, mit denen Menschen sich aneinander binden.

Symbolhaft wird das durch einen tödlich vergifteten Schal in „La Sylphide“ gezeigt.

Die Hexe Madge – fast naturalistisch hämisch von Aurora Dickie getanzt und gespielt – jubelt James den Schal als Liebesgabe für die Sylphide unter. Und ganz heiß wird die junge Elfe auf das Tüllteil, als James es ihr zeigt – es ist Anlass für einen weiteren wundervollen Pas de deux.

Jedoch: Kaum legt James der dafür wieder vor ihm kniedenden Elfe die Stola um, beginnt diese zu sterben. Erst brechen ihre Flügel ab, dann erblindet sie, friert und stirbt…

"La Sylphide" mit La Voltolini

Ein Luftgeist und ein ganz normaler Sterblicher – kann diese Liebe gutgehen? Luciana Voltolini und Marian Walter beim Applaus nach „La Sylphide“ mit dem Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Ein Luftgeistwesen zauberhafter Herkunft kann man nun mal nicht einfach einfangen und sich zum Weib machen, schlussfolgern viele daraus. Und tatsächlich: Die Liebe zwischen der Sylphide und ihrem James bricht alle Regeln, verstößt gegen die Konventionen, und da beide aus ganz verschiedenen Welten kommen, ist es ohnehin ein Wunder, dass sie so intensiv zueinander kamen.

Dass sie ohne die böse Madge aber zumindest noch einige schöne Stunden miteinander gehabt hätten, darf indes nicht bezweifelt werden. Und vielleicht, ja, vielleicht, hätte die Verbindung zwischen Mensch und Zauberwesen sogar etwas Göttliches hervorgebracht.

Aber hätten sie eine Liebeszukunft miteinander gehabt?

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Darüber darf man sinnieren, während die Elfe in den Lüften ihr Grab findet, flankiert von sie liebenden tüllierten Sylphidenschwestern. Der ohnehin schon vor Kummer fast verrückt gewordene James wird derweil das nächste Opfer der abgrundtief bösen Madge.

In der Version, die Johan Kobborg für das Royal Ballet in London und das Bolschoi Ballett in Moskau schuf, blitzt unter Madges Hexenkostüm am Ende übrigens ein Sylphidentüllrock auf.

Das geschieht in Analogie zum biblischen Luzifer, der ja ein gefallener Engel ist: Bei Kobborg ist so die Hexe eine ehemalige Sylphide. Darum wusste sie auch so sicher, welcher Schal der Sylphide gefallen würde.

Frank Andersen hat auf solche inszenatorischen Zusätze ganz verzichtet und sich auf den Stil, also auf den dänischen Stil, Ballett zu tanzen, konzentriert.

"La Sylphide" mit La Voltolini

Das Damencorps vom Staatsballett Berlin trägt maßgeblich zur Beglückung durch die Vorstellung von „La Sylphide“ bei. Bravo! Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Besonders die Hauptpersonen, aber auch das Sylphiden-Damencorps und die Solistin Krasina Pavlova als Erste Sylphide bringen dieses Flair sehr schön über die Rampe, was einen von einer Fahrt nach Kopenhagen zum Royal Danish Ballet aber nicht abhalten sollte. Darauf macht die Aufführung unbedingt auch Appetit!

Und nur die musikalische Darbietung des Orchesters der Deutschen Oper Berlin unter dem an sich in der Partitur ja sehr versierten Gastdirigenten Henrik Vagn Christensen hat dieses Mal enttäuscht. Vielleicht hatte Christensen keinen guten Tag, vielleicht saßen nicht die besten Musiker des Orchesters vor ihm.

Jedenfalls fehlte die Koordination der Instrumentengruppen fast ganz, man hatte das Gefühl, dass die Bläser vornehmlich laut sein wollten und die Streicher vor allem unauffällig.

So geht das mit der melodischen Walzermusik von Herman Severin Løvenskjold nun aber wirklich nicht! Zuviel Routine kann halt verführerisch sein, vielleicht war es das, was den Dirigenten zwar zur guten Laune brachte, aber keineswegs zur Bestleistung. Oder es fehlte an Probenzeit mit den Musikern? Im Vergleich war Christensens Dirigat bei der Premiere nachgerade hervorragend, in dieser Vorstellung aber konkret mangelhaft. Ich habe selten einen solchen Qualitätssturz eines Orchesters erlebt.

"La Sylphide" mit La Voltolini

Noch ein Blick auf den Schlussapplaus (vorn, von li.) : Sofia Zubkova, Sarah Mestrovic, Aurora Dickie, Henrik Vagn Christensen, Luciana Voltolini und Marian Walter (schräg hinter ihr). Dankeschön! Nur das Orchester darf nächstes Mal wieder mehr aufbieten. Foto: Gisela Sonnenburg

Der Tanz, allen voran der von der erfrischenden Brasilianerin Luciana Voltolini und dem furiosen Deutschen Marian Walter, aber auch der vom liebreizenden Sylphiden-Corps, riss indes so mit, dass ein starkes  Vergnügen gewährleistet war.

Und wenn ich das nächste Mal eine Sylphide oder einen Sylphen sehe, werde ich zwar keinen Schal verschenken, mich dafür aber von James‘ Schicksal auch nicht abschrecken lassen. Vorsicht ist derweil nur vor den Hexen und Hexern geboten… vor ihnen warnt „La Sylphide“ eindringlich.
Gisela Sonnenburg

 P.S. Kommende Spielzeit steht „La Sylphide“ zwar nicht auf dem Programm, dafür aber zum Beispiel die überaus grandiose, klassisch-romantische „Giselle“ von Patrice Bart. Die Karten hierfür und für die anderen Ballettabende der Spielzeit 2019/20 gibt es im Vorverkauf aber erst ab dem 4. Juni 2019 statt schon im Mai, aus organisatorischen Gründen. Aber dann!

www.staatsballett-berlin.de

 

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