Die mysteriöse Verführerin Elisa Carrillo Cabrera debütiert als „La Bayadère“ beim Staatsballett Berlin – und bildet mit Alejandro Virelles als Solor und Aurora Dickie als Gamsatti ein köstliches Trio

"La Bayadère" mit Elisa Carrillo Cabrera in der Hauptrolle

Festliche Stimmung auch beim Applaus nach „La Bayadére“ in der Berliner Staatsoper unter den Linden. Von links vorn mit dem Staatsballett Berlin: Aurora Dickie (Gansatti), Maestro Victorien Vanoosten, Elisa Carrillo Cabrera (Nikia) und Alejandro Virelles (Solor), Rishat Yulbarisov (Radscha). Eine tolle Besetzung! Applausfoto: Gisela Sonnenburg

Die zeitlose Frische der Klassik – kaum ein Ballett stellt sie so perfekt auf die Bühne wie ausgerechnet die lyrisch-tragische Fantasie auf „La Bayadère“, die Marius Petipa 1877 für seine Lieblingsballerina Ekaterina Wazem choreografierte. Das Libretto stammt allerdings von einem Profi-Autor, von Sergej Khudekoff. Und es enthält alle Zutaten, die aus einem Märchen eine wahrhaftige Geschichte machen. Der Komponist Ludwig Minkus wiederum ließ sich auf das exotische Sujet einer Dreiecksgeschichte in Indien ein und schuf seine Walzermelodien mit heroischem Schwung. Elisa Carrillo Cabrera, Preisträgerin des  Benoit de la Danse, die vor Jahren schon die Rolle der Gamsatti, der Rivalin der Titelheldin, mit furioser Brillanz interpretierte, debütierte gestern so virtuos wie lyrisch funkelnd als lieblich leidende Bajadere Nikia. Mit Aurora Dickie als ihrer grandios-vitalen Kontrahentin Gamsatti und mit dem sanftmütig-galanten Alejandro Virelles als dem von beiden Frauen geliebten Mann Solor ergab sich eine hervorragend besetzte Trias, die den inhaltlichen Kontrastreichtum des Stücks fein hervorhob. Das fantastisch aufgelegte Corps de ballet vom Staatsballett Berlin (SBB) mit vielen solistischen Highlights sowie die zurecht berühmte, im Jahr 2020 ihr 250-jähriges Bestehen feiernde Staatskapelle Berlin unter dem noch jungen, aber sehr talentierten Maestro Victorien Vanoosten rundeten das Erlebnis eines Abends voller Brillanz ab.

"La Bayadère" mit Elisa Carrillo Cabrera in der Hauptrolle

Noch ein Blick auf dieselbe Applausreihe nach „La Bayadère“ mit dem Staatsballett Berlin, mittig rechts: Elisa Carrillo Cabrera mit Blumen. Foto vom Applaus: Gisela Sonnenburg

Wir befinden uns in Golconda, einer steinernden indischen Stadt, die hier alle nur möglichen Insignien der Exotik trägt. Es gibt ein Tempelfeuer und goldene Elefanten als Dekor, eine Opiumpfeife und einen prunkvollen Thron. Zahlreiche Komparsen und Gruppentänze illuminieren eine festliche Welt, in der man in Saus und Braus lebt – aber das Herz der Menschen gehört dem spirituell inspirierten Tanz, sowohl in der irdischen Gesellschaft als auch in einer geisterhaften Vorstellung vom Jenseits.

"La Bayadère" mit Elisa Carrillo Cabrera in der Hauptrolle

Alexander Abdukarimov als Fakir, hinter ihm Cécile Kaltenbach im blauen Tutu – auch ihre Variationen sind absolut sehenswert – beim Schlussapplaus nach „La Bayadère“ beim Staatsballett Berlin. Super! Foto: Gisela Sonnenburg

Zunächst aber tanzt Alexander Abdukarimov einen famos springenden, sich rührend untertänig krümmenden Fakir, der Nikia beschützt. Meistens wird diese Rolle mit einem eher kleinen Tänzer besetzt, aber auch Abdukarimov wirkt mit all seinen Muskeln und in voller Körpergröße sehr überzeugend. Er hat ja eine besondere Präsenz auf der Bühne, und es ist sehr erfreulich, dass er diesen Solopart so hervorragend umzusetzen weiß.

Schutz braucht die Bajadere (also die Tempeltänzerin) indes schon deshalb, weil der Großbrahmane, ihr Vorgesetzter (souverän von Arshak Ghalumyan dargestellt), sie liebt und sie das nicht erwidert.

Ihr Herz gehört einem anderen, wie wir wissen…

Und da ist sie, die bildschöne Tempeltänzerin, die sich in den Krieger Solor verliebt hat, obwohl diese Liebe auf Erden keine Chancen haben wird:

"La Bayadère" mit Elisa Carrillo Cabrera in der Hauptrolle

Elisa Carrillo Cabrera und Alejandro Virelles: strahlend beim Schlussapplaus nach „La Bayadère“ am 29.12.2019 in der Staatsoper Unter den Linden. Foto: Gisela Sonnenburg

Elisa Carrillo Cabrera glänzt und funkelt in ihrer neuen Partie, sowohl in den pantomimischen Parts im ersten Teil als auch in den lyrisch-tragischen Passagen voller Virtuosität im zweiten Teil.

Ihre Nikia ist weniger die Temperamentsbombe, als welche das Libretto sie auf den ersten Blick erscheinen lässt. Immerhin geht die junge Frau, als sie entdeckt, dass „ihr“ Solor anderweitig zur Verheiratung verplant ist, im Affekt mit einem Dolch auf ihre Nebenbuhlerin los. Aber für Elisa Carrillo Cabrera ist ein anderer Aspekt der Persönlichkeit von Nikia wichtig:

Sie hat eine mysteriöse, fast überirdisch starke Verführungskraft und macht Solor dadurch nachgerade zu ihrem Opfer! Denn wer könnte einer Frau widerstehen, die tadellose Arabesken, elegant gebogene Posen, Füße von erlesener Schönheit und eine feinsinnige Armarbeit präsentiert?!

Dabei muss Carrillo Cabrera – die aus Mexiko kommt und in London ausgebildet wurde – nur scheinbar mühelos leichtfüßig und wie natürlich den Eingebungen der Musik folgen… und man schmilzt dahin.

"La Bayadère" mit Elisa Carrillo Cabrera in der Hauptrolle

Applaus mit Blumen: Der Maestro Victorien Vanoosten mit den Stars und dem Corps de ballet vom Staatsballett Berlin nach „La Bayadère“. Foto: Gisela Sonnenburg

Die pompösen Kostüme von Jérome Kaplan, die für diese Version des Stücks entstanden, bilden dazu – wiewohl sie der Protagonistin vorzüglich zu Angesicht stehen – beinahe einen Gegensatz. (Elisa sollte nur statt eines sehr dicken, entsprechend schweren langen Zopfes, der sie offenbar beim Tanz behinderte, weshalb er ans Kostüm angenäht war, was gar nicht gut aussieht, einen viel dünneren Zopf wählen – der wird sie weniger stören.)

Wir sehen hier in Berlin ja eine Rekonstruktion der „Bayadère“ von Alexei Ratmansky, die überwiegend der 1902 aufgeführten Fassung von Alexander Gorski entsprechen soll. Die Arbeit von Marius Petipa bleibt dennoch auch hier grundlegend – wenn auch die Handschriften der beiden anderen Choreografen durchaus erkennbar sind.

Für Carrillo Cabrera ist es nicht die erste Version des Stücks, in der sie tanzt.

Während ihre Gamsatti in der Vladimir-Malakhov-Version des Stücks (ebenfalls nach Marius Petipa) vor einigen Jahren hitzig und aufschäumend temperiert war, ist ihre Nikia nun lyrisch und impressionistisch.

Gerade das weckt im Konzept der Besetzung das große Interesse auch von Solor, den sie – solchermaßen von Beginn an wie entrückt und beinahe eine Außerirdische – dadurch betört.

"La Bayadère" mit Elisa Carrillo Cabrera in der Hauptrolle

Die Stars aus der „Bayadère“ verbeugen sich und nehmen gern den Applaus in Empfang (von li.): Aurora Dickie, Victorien Vanoosten, Alejandro Virelles und Elisa Carrillo Cabrera sowie das Corps vom Staatsballett Berlin. Bravo! Schlussapplausfoto: Gisela Sonnenburg

Die dunklen Farben der Nikia, die es in der Choreografie durchaus auch gibt, sind hier auf eine Szene beschränkt, in der sie kulminieren: als sie voller Wut und wie ferngesteuert auf Gamsatti losgeht. Nikia verliert da die Kontrolle über sich, einmal nur – aber sie wird darum auch ihr irdisches Leben hergeben müssen.

Denn ihre Rivalin ist mächtig. Gamsatti hat als Tochter des Radscha – also des Herrschers der indischen Stadt Golconda – Einfluss und Personal. Ihr Wille geschehe… das ist Gamsattis Welt.

Darum wird sie oft als herrschsüchtig und stolz interpretiert, als machtgeil und klassisch negative Person.

Aber es gibt auch andere Wege. Yolanda Correa etwa zeigt Gamsatti (auch beim SBB) als faszinierend selbstbewusste Society Queen, als eine durchaus glamouröse Persönlichkeit, die gelegentlich zwar diabolisch schillert, die vor allem aber auch ganz menschlich empfindet.

"La Bayadère" mit Elisa Carrillo Cabrera in der Hauptrolle

Aurora Dickie als Gamsatti nach „La Bayadère“ am 29.12.2019 in der Staatsoper Unter den Linden: fabelhaft! Foto: Gisela Sonnenburg

Und Aurora Dickie zeigt mit viel Spielfreude und ausgezeichneten Balancen, wie weit diese Menschlichkeit der Nikia auch gehen kann. Sie ist arglos und sehr verliebt in Solor, sie kuschelt sich gern an ihn – und leidet, wenn er ihre Zuneigung nicht erwidert, sondern sich ihr merkwürdig zu entziehen versucht.

Aber als hartnäckige und machtgewohnte Person gibt sie nicht auf. Sie beschließt den Tod der Bajadere als Konsequenz aus deren Attacke, um die eigene Zukunft, das eigene Glück zu sichern. Sie tut es nicht gerne, aber sie sieht keine andere Möglichkeit – und sie ist Macht über Leben und Tod gewohnt, in ihrer Sphäre zählen die meisten Menschenleben nicht viel. Dass sie mit dem Mord an Nikia durch eine giftige Schlange in deren Blumenkorb den Geist dieser verführerischen Dame nicht loswird, hat sie indes nicht bedacht.

Aurora Dickies Tanz wühlt auf, reißt mit, ihre Gamsatti ist leidenschaftlich und hat große Hoffnung, die beste Liebende zu werden – und sie wird bitter enttäuscht.

Und so ergibt sich nach einem fabelhaften Tanz im Reich der Schatten – es handelt sich um weibliche Schatten in weißen Tutus, alles Geister von unglücklich liebenden jungen Frauen – in dem außer Elisa Carrillo Cabrera und Alejandro Virelles auch Iana Balova, Aya Okumura und Clotilde Tran sowie das Corps begeistern, ein spannungsreiches, fabelhaft getanztes Finale.

Die beiden unterschiedlichen Frauen – Nikia bereits als Geist im weißen Tutu – umwirbeln darin den geliebten Mann, der wiederum nicht weiß, ob er seinen Sinnen noch trauen darf.

"La Bayadère" mit Elisa Carrillo Cabrera in der Hauptrolle

Hier freut er sich über die Blumen, die ihm Elisa Carrillo Cabrera zeigt: Alejandro Virelles als Solor nach „La Bayadère“ in der Staatsoper Unter den Linden. Applausfoto: Gisela Sonnenburg

Alejandro Virelles bezaubert mit seiner noblen Haltung, seiner Sprungkraft und seinen sanften Landungen, mit wunderbaren Ports de bras und einem hinreißenden Schauspiel, wenn er den Verwirrten gibt, dem seine Geliebte keine Ruhe lässt.

Nikia erscheint ihm und drängt ihre Konkurrentin im Pas de trois immer wieder ab, diese aber gibt nicht auf, holt sich ihren Mann zurück – und muss doch zwei Mal statt mit Solor mit Nikia tanzen beziehungsweise sich Arm in Arm im Kreise drehen.

Dieser fast satirischen Choreografie im vierten Akt steht die hehre Feinheit des dritten Akts entgegen.

Die atemberaubende Schönheit der Choreografie des weißen Akts – im Königreich der Schatten – entspricht weitgehend der Intention von Petipa, mit kleinen und großen Sprüngen, mit exquisiten und ausgefallenen Drehungen sowie mit manchmal experimentell anmutenden Hebungen.

In den Passagen des Pas de deux wie der Soli, im Pas de trois wie in den Gruppentänzen triumphiert hier die Macht der Erhabenheit.

Es ist, als wolle das Ballett als Kunstform damit beweisen, dass es keine delikatere noch edelmütigere Art des Seins geben könne.

"La Bayadère" mit Elisa Carrillo Cabrera in der Hauptrolle

Exzellente Damen: Das Corps vom Staatsballett Berlin als weiße Schatten in „La Bayadère“ in der Staatsoper Unter den Linden. Applausfoto: Gisela Sonnenburg

Ein gutes Jahr nach der Premiere in Berlin tanzt das SBB dieses Juwel der Klassik besser denn je, nicht nur im technischen Sinn, sondern auch den Ausdruck betreffend.

Gen Ende des Stücks, als das Hochzeitsfest von Solor und Gamsatti durch die magischen Befähigungen von Nikia langsam, aber sicher zu einem Fiasko wird, das wiederum in einem für alle tödlichen Unwetter mit Erdbeben endet, dreht die Choreografie allerdings noch einmal wild auf.

Dieses Mal geht es nicht um ätherische Zwischenbefindlichkeiten, sondern um einen lebhaft getanzten Kampf innerhalb einer Dreiecksbeziehung, der die drei Hauptpersonen zu einer fast unauflösbaren Trias vereint.

Das Erdbeben verhindert die Eheschließung von Solor – tot liegt er am Boden, als sich der Geist von Nikia ihm erneut nähert. Und er steht auf, wie zu neuem Leben erweckt, fügt sich in sein Schicksal, das von ewiger Liebe kündet – und er bestätigt dieses mit der sehr eleganten Schlusspose als Paar.

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Womit einmal mehr festgestellt sei: Ballett ohne Liebe wäre wie eine Suppe ohne Salz. Eben das macht diese Tanzkunst so seelenumspannend.
Gisela Sonnenburg

www.staatsballett-berlin.de

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