Grandezza im farblichen Dreiklang Das Staatsballett Berlin zeigt „Jewels“ von George Balanchine als atemberaubend virtuose, aber auch etwas inhaltsleere Show

"Jewels" ist ein Ballett nicht nur über Edelsteine.

Marian Walter und Krasina Pavlova in „Emeralds“ in „Jewels“ von George Balanchine beim Staatsballett Berlin. Foto: Carlos Quezada

Es ist ein farblicher Dreiklang, eine getanzte Trikolore, die das Staatsballett Berlin nach sichtlich intensiver Probenzeit jetzt zur Premiere brachte: „Jewels“ von George Balanchine besteht aus den Farben der Smaragde, der Rubine und der Diamanten. Grün, Rot, Weiß. Das sind zwar auch die Farben der Nordseeinsel Helgoland, aber bei Balanchine dominiert das Erhaben-Artifizielle, keinesfalls das Natürlich-Verwegene. Wie der Altmeister der Neoklassik 1967 darauf kam, dieses Ballett zu machen? Angeblich funkelten ihm nachts in einem New Yorker Schaufenster edle Juwelen entgegen und brachten ihn auf die Idee.

Dabei dürfte indes Folgendes eine Rolle gespielt haben: Balanchine war auf der Suche nach einem neuen Stückthema ebenso wie nach mehr Zuspruch – wie auch nach weiteren Geldgebern aus den gehobenen Publikumskreisen. Und wie kann man die Aufmerksamkeit wie den dazu gehörigen Geldfluss wohl besser auf Ballett lenken als von einem Thema aus, das den avisierten Geldgebern liegt? So wie teurer Schmuck etwa? Eben. Und auf was fahren alte wie junge betuchte Damen gleichermaßen ab? Eben: auf Juwelen! Mit ihnen kann man die Herzen vieler Frauen und mancher Männer immer begeistern. Statt neuer Klunker kauft man sich dann mit einer kräftigen Spende ans Ballett auch einen bleibenden Wert. Sogar einen mit Weihen. Es ist meiner Meinung nach darum ein psychologischer Trick, ein Werbetrick, aus dem heraus Balanchine dieses Ballett schuf. Schließlich war er für damalige Verhältnisse unverfroren genug, Auszüge aus „Schwanensee“ zu Werbezwecken auf New Yorks Straßen tanzen zu lassen. Und nicht selten sind sie ja ohnehin die Frauen, die ihre freigiebigen Gatten ins Ballett schleppen oder auch ihr Erbe und Witwenvermögen im Mäzenatentum spendieren. Und was sind vermögende Damen zumeist? Eben: Schmuck-Junkies.

Wobei auch die männlichen Ballettmäzene – wie Lincoln Kirstein, der George Balanchine 1932 von Paris nach Übersee geholt hatte, um in New York eine Ballettschule aufzubauen – selbstredend einen ausgeprägten guten Geschmack haben. Die Ästhetik im allgemeinen wie die des Balletts im Besonderen ist für sie alles andere als Überfluss oder Luxus. Sondern ein Grundlebensmittel!

Zugleich übertrifft die Liebe zum Tanz bei den Ballettomanen diejenige zur Sucht, sich mit Geschmeide zu schmücken. Die Begeisterung durch Ballett kann halt mehr: Mehr noch als alle Smaragde, Rubine, Diamanten der Welt zusammen…

Aber gleich, welche Farbe: Juwelen spenden – wie auch Ballett – vor allem den Damen viel Trost, etwa, wenn das Eheversprechen mit dem Brillantring nach soundsoviel Jahren in die Scheidung mündete. Weshalb Schmucksteine als Souvenirs, als Erinnerungsstücke, besonders akzeptiert sind. Sie komplettieren zudem das Outfit, wenn mal nicht alles so am Körper sitzt, wie eigentlich gedacht. Und: Sie wärmen sogar die Seele, wenn die Welt draußen trübe und grau vor sich hin dümpelt – denn genau wie das klassische Ballett symbolisieren sie das Ästhetische, Edle, Unvergängliche.

Dabei sind Ballette von George Balanchine auch immer Ballette über Ballett.

In diesem Fall werden drei Stimmungen und drei Tugenden des Balletts choreografisch aufgefangen und destilliert: das Lyrische, das Rasante, das Festliche.

Es beginnt mit dem lyrischen Teil, den „Emeralds“, also den Smaragden.

Zu Musiken von Gabriel Fauré, die bereits bei noch geschlossenem Vorhang pathetisch-schwelgerisch ein Paradies der Sanftheit beschwören, trippeln mehr als ein Dutzend Ballerinen in dunkelgrünen Miedern zu romantischen, wadenlangen Tutus auf der Bühne hin und her.

"Jewels" ist ein Ballett nicht nur über Edelsteine.

Die Paare fliegen nur so dahin vor lyrischer Empfindsamkeit – das ist typisch für das romantische Stück „Emeralds“ in George Balanchines „Jewels“. Hier Aurora Dickie und Arshak Ghalumyan in der Sehnsuchtspose eines Pärchens. Foto vom Staatsballett Berlin: Carlos Quezada

Nut drei Galane sind nötig, um all diese weibliche Meisterschaft des lyrischen Impetus zu stützen und mit männlichem Charme zu ergänzen.

Marian Walter und Krasina Pavlova bilden dabei das erste Paar: Während das Damen-Corps Armhaltungen und Beinposen aus „Schwanensee“ (aus den weißen Akten), aus „Dornröschen“ (die Waldfeen) und aus „Giselle“ (aus dem zweiten Akt) zitiert, dürfen Walter und Pavlova sich als glückliches Liebespaar ohne jede Tragödie fühlen.

So könnte dieser erste Teil des Abends auch „Frühling“ heißen. Sowohl die Musik als auch der Tanz spiegeln das Hoffnungsvolle, Fröhliche, Keimende des Frühlings, ohne sich in den gelegentlichen Schlenkern des Detailreichtums zu verlieren.

Das große Solo von Krasina Pavlova, jener Berliner Tänzerin, die innerhalb weniger Jahre von der Babyballerina zum Ballettstern reifte, berückt und bezaubert denn auch gleichermaßen. Ihre schlängelnden Ports de bras sind weich und fließend, in ungewöhnlichen wedelnden Bewegungen dürfen die Arme und die Hände sich hin- und herbewegen.

Ansonsten sind die Arme besonders graziös gehalten; Geradheit und Schönheit, Anmut und Haltung bedeuten bei Balanchine vor allem auch das Vorzeigen der Innenseiten der Gliedmaßen. Die Arme werden nicht krampfhaft hoch gehalten, sondern bilden sanft gerundete, abfallende Linien, so, als würden sie in der Luft schweben.

Der Balanchine’sche Esprit leitet sich ja zum großen Teil von diesen für seinen Stil typischen Armbewegungen ab. Da ergeben sich Wellen, die von den Fingerspitzen aus den ganzen tanzenden Körper zu erfassen scheinen; eine Energie durchfließt die ganze schöne Frau, über deren hohes Potenzial an Weiblichkeit überhaupt nicht diskutiert werden muss.

Feines Getrippel verleiht dieser lyrischen Passage besonders viel Poesie.

Krasina Pavlova endet im vornehmen Knien, die Arme vorn überkreuzt, mit sehnsüchtigem Blick. Ganz klar: Diese junge Dame sehnt sich nach mehr als nur nach Juwelen…

Sie trägt damit der nur wenig verkappten Erotomanie von George Balanchine vollauf Rechnung. „Ballet is woman“, das Ballett ist weiblich, sagte er einst, und dieser Slogan ist eines seiner berühmtesten Statements.

Hierzu sei eine Anmerkung erlaubt: Balanchine, in Russland geboren und erst als Erwachsener mit der angloamerikanischen Sprache konfrontiert, benutzte das zentrale Substantiv „Frau“ („woman“) in diesem Satz als abstrakte Größe, ohne vorangehenden unbestimmten oder bestimmten Artikel. Es ist schade, dass er manchmal, wie auch im Programmheft zu „Jewels“ vom Staatsballett Berlin, verfälscht zitiert wird, und dann wird aus dem alle Frauen umarmenden „Ballet is woman“ ein ziemlich schnödes „Ballet is a woman“. Das Ballett ist eine Frau – nein, das meinte Balanchine mitnichten. Das klingt fast nach Zickigkeit und Divenhaftigkeit, aber das ist nicht, was den Meister zu seinem Aphorismus oder auch zu seinen Balletten inspirierte.

Fürs Verständnis ist das schon wichtig: Das Ballett ist in der Philosophie von Balanchine keine einzelne Frau, auch wenn er manchmal sehr stark verliebt war. Sondern Ballett (und nicht „das“ Ballett) lebt für ihn von der weiblichen Schönheit und Energie, von der Klasse der Feminität und auch vom weiblichen Wohlgeschmack.

Man könnte „Ballet is woman“ denn auch gut übersetzen mit: „Ballett ist weiblich“.

Ich würde sogar zur Not über ein „Ballett ist wie ein Weib“ mit mir reden lassen, weil „ein Weib“ mit seiner veralteten Titulierung der Frau diese stärker verallgemeinert als das in die Irre führende „eine Frau“.

Am schönsten ist es immer noch so, wie George Balanchine es gesagt hat, und weil er Temperament hatte, darf man auch ein Ausrufezeichen dahinter setzen: „Ballet is woman!“

Wegen dieser seiner ziemlich heterosexuell gemeinten Begeisterung für Frauen war er im übrigen auch kein großer Männerchoreograf wie etwa Léonide Massine oder Maurice Béjart, wie später auch John Neumeier oder Yuri Grigorovich. Balanchine schuf seine Bravourstücke vielmehr fast ausschließlich für Ballerinen und Paare, wobei der Mann bei ihm weniger Möglichkeiten hat also noch bei Marius Petipa (dem Balanchine sich dennoch ausdrücklich verpflichtet sah).

Die Gelegenheiten, die Balanchine männlichen Tänzern zum solistischen Brillieren gab, sind indes rar – und darum umso stärker auszukosten.

Auch in „Emeralds“ folgt auf die erste anmutige Ballerina ein zweites Aufsehen erregendes Frauensolo:

Aurora Dickie, die Brasilianerin, die erst seit letzter Weihnacht in Berlin zeigt, was sie als Solistin alles kann, tanzt darin mit äußerster Hingabe einen weiteren typischen Balanchine-Aspekt mustergültig vor: die Akkuratesse, die Präzision, die in Kombination mit der anmutigen und huldvollen Körperpoesie aus dem Wechsel von strenger, aufrechter Haltung und sanfter Beugung entsteht.

In munteren Walzern biegt sich Aurora Dickie vor und zurück; ihre Arme sind dabei jeder ein Gedicht für sich.

Ihre Oberarme sind stark und angespannt, ihre Unterarme greifen deren Energie auf und leiten sie sicher in den Raum.

Die angespannte Rücken- und Armmuskulatur bewirkt ja bei richtiger Betätigung einen unendlich wohltuenden Schauer schon beim Zuschauen – und auch die Ballerina fühlt, das darf man ruhig sehen, sich paradiesisch leicht und stark zugleich.

Ihr Partner Arshak Ghalumyan kommt da erst später ins Spiel.

Gleich zwei Ballerinen auf einmal hat dann Arman Grigoryan, ein sehr begabter Tänzer, der aus Armenien stammt, der einige Goldmedaillen bei Wettbewerben gewann und der seit 2015 im Staatsballett Berlin erblüht, zu Partnerinnen.

Man muss „erblühen“ sagen, weil er tatsächlich von Auftritt zu Auftritt dazuzulernen scheint. Jetzt hat er mit Cécile Kaltenbach und Danielle Muir zwei prachtvolle, gut gewachsene Damen im Arm und sozusagen am Hals, und wer will, kann hier George Balanchines dezente Ironie erkennen. Denn nur einfach hat es ein einzelner Kavalier mit so einer weiblichen Übermacht natürlich nicht!

"Jewels" ist ein Ballett nicht nur über Edelsteine.

„Jewels“ ist ein Ballett nicht nur über Edelsteine. Es geht darin auch um Menschen. Foto vom Staatsballett Berlin: Carlos Quezada

Choreografisch aber bieten sich mit diesem Pas de trois Gelegenheiten, die es sonst mitnichten gäbe. Symmetrie und Asymmetrie können neu ausgelotet werden; mal hält der Mann beide Damen, mal emanzipieren sie sich zu zweit von ihm. Eine Vorliebe für eine der beiden darf er nicht haben oder wenigstens nicht zeigen – das Partnern in gleich doppelter Hinsicht, das Arman Grigoryan hier besorgt, ist durchaus als besonders liebenswert zu bezeichnen. Ein uralter Männertraum wird indes damit thematisch angespielt – Bigamie wird auch heute noch öfters praktiziert, als die Katholische Kirche es erlaubt.

Und dann kommt endlich der erste Pas de deux, von Marian Walter und Krasina Pavlova hinreißend feinsinnig interpretiert.

Ben Huys, das sei an dieser Stelle angemerkt, ist der vom Balanchine Trust aus New York geschickte Coach für die „Emeralds“, und er hat zweifelsohne ganze Arbeit geleistet, und zwar beim ganzen „Smaragd“-Stück. Danke, Ben!

Stolz schreitet das Paar also zu Beginn solistisch getrennt von hinten nach vorne: der Mann rechts, die Dame links auf der Bühne, aber sie haben sich fest im Blick dabei. Was für ein fast angeberischer Auftritt für ein Paar! Die beiden demonstrieren sich gegenseitig und auch dem Publikum: Hier bin ich! Hier sind wir! Ich bin wichtig! Wir sind wichtig! Man kann das altbacken finden, aber wie es hier ausgetanzt wird, ist es ein großartiges Spiel.

Eine erste geführte Attitude der Dame auf Spitze, also mit dem Standbein auf den Zehenspitzen stehend, macht klar: Hier handelt es sich um ein klassisches Liebesverhältnis im Ballett, mit allen Anforderungen, die ein lyrischer Paartanz so haben kann.

Marian Walter, der in Thüringen geborene und in Berlin ausgebildete Superprimoballerino, demonstriert denn auch, dass ein Mann auch mit relativ wenig tänzerischer Aktivität eine große Wirkung auf der Bühne haben kann. Marians Erfahrung als Siegfried im „Schwanensee“ oder als Albrecht in „Giselle“ kommt ihm dabei sicher zu Gute – aber die schnörkellose Anspannung der Gliedmaßen, so wie er sie zeigt, findet man in dieser Reinkultur tatsächlich nur in Werken von George Balanchine (beziehungsweise bei Tänzern, die im Balanchine-Stil tanzen).

Und so befindet man sich immer tiefer in einer fiktiven Welt, in der das Glück regiert.

Die Musik von Fauré, von Robert Reimer am Dirigentenpult weich in die Ohrmuscheln gespült, tut dabei ihr übriges. Bald schwebt man mit dem Paar auf der Bühne gefühlt in Richtung Wolke Sieben, es ist, als sei das Leben ein einziges Lieben – und zwar mit jener Note von Festlichkeit, die man nicht umsonst „Romantik“ nennt.

Diese Magie versprühen auch Arshak Ghalumyan und Aurora Dickie. Ihr Paartanz ist ein sattes Adagio voll von ätherischen Anspielungen auf andere Ballette, etwa auf „La Sylphide“ oder „Giselle“. Arshak, der sich wie Aurora auch im Modernen längst bewiesen hat, nimmt sich hier allerdings stark zurück; er versucht, das Glück des Lebens in der freiwilligen Genügsamkeit zu zelebrieren.

Das gibt seiner Partnerin Aurora Dickie nochmals mehr Gelegenheit, als poetische Ballerina aufzudrehen! Etwas mehr Spiel von Seiten von Ghalumyan dürfte es dennoch sein, um so viel geballter Weiblichkeit etwas entgegen zu setzen.

Schließlich funkelt noch einmal das ganze „Smaragden-Arsenal“ an Tänzerinnen und Tänzern auf der Bühne, in einem harmonisch bewegten Tableau vor dunkelgrünem, leider nicht samtenen Vorhang.

Die Penchés der Damen sind dabei kalkuliert dreiviertelhoch, und zwischendurch knien die beiden Primaballerinen, von stehenden Kavalieren präsentiert, als sei es schon zu Ende mit der guten Zeit.

Aber weiter geht’s, beschwingt und lebenslustig, nur das Schlusswort hat hier die Männlichkeit, den Damen verliebt nachsinnierend.

Die drei Jungs, allein auf der Bühne, nachdem sich die Damen nach und nach in die Kulissen zurückzogen, gehen da nämlich stolz auf die Knie: mit weitem Ausfallschritt, den Damen nachblickend, mit einer Armgestik und einer Sehnsucht im Habitus, als würden sie Morgenluft wittern. Schön. Das duftet nach mehr!

"Jewels" ist ein Ballett nicht nur über Edelsteine.

Das Ensemble ist wichtig: Hier in „Emeralds“, den Smaragden, in „Jewels“ von George Balanchine. Foto vom Staatsballett Berlin: Carlos Quezada

Ganz anders dann der zweite Teil, die „Rubies“, die Rubine.

Hier ist die Energie dramatisch-modern: zackig-aufgedreht, jazzig-clownesk, sogar störrisch-widerborstig.

Es ist schon ein Bruch mit den sanftmütigen Smaragden, der sich hier anbahnt. Balanchine inszenierte somit seinen eigenen Werdegang: Er kam von der hegemonischen Klassik seiner Ausbildung in Sankt Petersburg als Emigrant ins hektisch brodelnde Paris, wo sich damals die Moderne und die Avantgarden ein Stelldichein gaben. Prompt landete Balanchine bei dem bedeutenden Impresario Serge Diaghilev, der mit seinen Ballets Russes von Paris aus Ballettgeschichte schrieb.

Bei Diaghilev, der kein Künstler, sondern Produzent und Macher war, mischten sich die Genres des Klassisch-Romantischen mit dem ganz Neuen, Modernen, Wilden. Die skandalumwitterte Uraufführung von Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“ 1913 durch die Ballets Russes markierte musikgeschichtlich wie tanzgeschichtlich einen großen Schritt vorwärts, eine Zäsur, die erst nach dem Ersten Weltkrieg in ihrer Bedeutung verstanden und gewürdigt wurde. Balanchine kam 1924, als er sich zusammen mit anderen russischen Talenten während einer Tournee absetzte, um im Westen zu bleiben, gerade zum richtigen Zeitpunkt zu Diaghilev. Der änderte zunächst den komplizierten russischen Namen Balantschiwadse“ in das französelnde „Balanchine“ (das noch heute mal französisch, mal amerikanisch ausgesprochen wird) – und ließ den jungen Stürmer und Dränger sich entfalten.

Die enge Bekanntschaft mit dem Komponisten Strawinsky geht auf diese Zeit zurück und wurde für Balanchine prägend: Etliche Ballette erarbeiteten sie gemeinsam. Für die „Rubies“ nutzt Balanchine denn auch eine autonome Musik von Strawinsky, und zwar dessen Capriccio für Klavier und Orchester, das 1929 entstand: zu einer Zeit, als die Ballets Russes ihre letzte Blüte erlebten, bevor sie sich auflösten, bedingt durch den Diabetestod von Serge Diaghilev – Diabetes war damals schwer behandelbar – im August 1929.

Insofern sind die rasant-fetzigen „Rubies“ auch eine Referenz an Strawinsky und Diaghilev, sie memorieren die Pariser Zeit der späten 20er Jahre aus der New Yorker Sicht der 60er Jahre.

Im sinfonischen Reigen der „Jewels“ bilden sie zudem nach dem Adagio der „Emeralds“ das Allegro.

Klar, dass da das Spritzige, Superschnelle, Sexyhafte reüssiert!

Dieser Part ist der personifizierte Sommer, ohne Gewitterschwüle allerdings, dafür mit all der Witzigkeit und Freude, die ein schöner Sommertag schenken kann.

Iana Salenko, der einzige echte Weltstar, den das Staatsballett Berlin an Tänzern noch zu bieten hat – sie ist eine Tänzerin, die jedem, auch den Nicht-Ballettkennern, ad hoc positiv ins Auge fällt – ist hier genau die Richtige, um der Avantgarde von damals mit neoklassischem Schmelz auf die Sprünge zu helfen.

Vielleicht erhält sie für diese Interpretation ja endlich den „Benois de la Danse“, der jährlich in Moskau verliehen wird und den sie in der Tat mehr als jede andere verdient hätte.

So springt und juxt und feixt und albert diese zierliche, höchst geschmeidige, absolut exakte Superballerina auf ihren bildschönen Ballettfüßen einher, dass es eine Augenweide ist!

"Jewels" ist ein Ballett nicht nur über Edelsteine.

Iana Salenko, Berlins Superstar, was Ballett angeht, tanzt in den „Rubies“ in „Jewels“ von George Balanchine so herzerfrischend, so sexy und so mustergültig die Balanchine-Schule, dass man schon wegen ihr in die Vorstellung kommen sollte. Foto: Carlos Quezada

Lebhaft und quirlig, scheinbar mühelos und dennoch absolut präzise absolviert Iana Salenko (wie viele megabegabte Tänzer in der heutigen Ukraine geboren) die choreografischen Fantasien des „Mister B.“ (wie Balanchine in New York genannte wurde): mit einer femininen Grandezza und einer frivolen Keckheit, die ihr zueigen ist – und die sie zu einer der größten Ballerinen unserer Zeit machen.

Es war aber auch toll zu sehen, wie sie sich seit 2005, seit sie beim Staatsballett Berlin tanzt, entwickelt hat. Wow! Sie war schon damals auffallend gut, immer etwas Besonderes, in der Technik wie im Ausdruck wandelbar und dennoch stets von hoher Perfektion.

Aber bis heute hat sie ihr tänzerisches Können nochmals vervielfacht, kein Zweifel: Svetlana Zakharova, Natalia Osipova, Lucia Lacarra, Polina Semionova und Diana Vishneva (die ohnehin ohne genügend Reifung gealtert ist), Evgenia Obraztsova und Sylvie Guillem (die gerade in den Ruhestand ging), Anna Osadcenko und auch Sarah Lamb (von der seit Jahren immer nur Ein- und Dasselbe kommt) haben in Iana Salenko die schärfste Konkurrenz, wenn es um einen fiktiven Titel gehen sollte, der die weltbeste Ballerina der Gegenwart auszeichnen sollte.

Es ist einfach hinreißend, was „unsere“ Iana abliefert, und da ist fast egal, in welcher Rolle, in welchem Stück! Ich habe sie noch nie zweifelhaft gesehen, und das bezieht sich auch auf ihre Tagesform. Definitiv bewunderungswürdig!

Da ist zugleich unglaublich, wenn man bedenkt, dass sie uns fast entgangen wäre, weil sie mit unter 1,60 Meter Körpergröße nicht dem Gardemaß entspricht, nach dem tatsächlich viele Ballettchefs – John Neumeier niemals! – ihre Compagnien und Solistentrupps zusammen stellen. Als solle man Künstler nur nach ihren körperlichen Gegebenheiten, und dann auch noch nach ihrer Größe beurteilen. Irgendwie erinnert das doch immer an die kleinen Jungs, die vergleichen, wer den Größeren hat.

Und dann noch diese Vorurteile großen Frauen gegenüber! Als müsse der Mann größer sein als die Frau… das ist so hinterwäldlerisch. Ich habe schon einige tolle kurzbeinige Ballerini erlebt, deren Partnerinnen, zumal auf Spitzen stehend, größer als sie waren. Und? Das kann wunderschön aussehen! Es geht den Konservativen im Ballett hier doch nur darum, dass der Mann nicht zur Frau aufsehen soll, nicht wahr? Kunst sollte solche Klischees endlich überholen. Aber für die ganz Kleinen gilt das natürlich auch: Es gibt sehr zierliche Tänzerinnen, die Maria Kotchetkeva, die hervorragend mit großen, starken Ballerini wirken. Das ist alles eine Frage des Könnens der Künstler!

Man muss also auch Ianas Ehemann Marian Walter danken, denn er verliebte sich in die damalige kleine Erste Solistin aus Kiew und stellte sie Vladimir Malakhov vor, dem damaligen Berliner Ballettintendanten, der sie zuerst nicht einmal angucken wollte, wegen der fehlenden Zentimeter.

Shame on you, Vladi, but also glory for you – denn letztlich ließ er sich von Walter überreden, das tolle Mädchen tanzenderweise zu sehen.

Danach gab es überhaupt kein Nein mehr – auch wenn Iana in den ersten Berliner Jahren noch mächtig gegen das Klischeedenken in den Ballettchefköpfen anzutanzen hatte und sich etwa den „Schwanensee“, der heute zu ihren weltweit begehrten Gala-Nummern gehört, hart erarbeiten musste. Man dachte beim Staatsballett Berlin tatsächlich, sie sei, mit ihrer edellieben Art, nicht gut in den Rollen der distinguierten Schwanenprinzessin und der kühl kalkulierenden Pirouetten-Odile. Von wegen!

Wenn eine Frau Pirouetten tanzen kann, dann ist es Iana Salenko. Noch nie zuvor habe ich so etwas gesehen: blitzschnell, schnurgerade, dabei keineswegs steif, sondern zauberhaft und weich im Ausdruck kreiselt diese Übertänzerin durch die Bühnengefilde, als bewege sie sich auf Schienen oder irgendwie frei in der Luft. Es grenzt optisch an Zauberei, was Iana Salenko tänzerisch von sich gibt. Danke dafür, dass sie, die mittlerweile zugleich auch beim Royal Ballet in London Erste Solistin ist, weiterhin in Deutschland tanzt!

Dagegen haben es die anderen Damen in diesem Stück schwerer. Vor allem die zweite große Damenrolle in den „Emeralds“, getanzt von der etwas sperrigen Julia Golitsina, wirkt wie drei Preisklassen unter Salenko eingekauft.

Warum man hier nicht Sarah Mestrovic nahm, eine Ballerina mit großem Potenzial, die den ganzen Premierenabend lang nichts zu tun hatte, ist mir schleierhaft!

Angestrebt ist von der Besetzung her offenbar ein körperlicher Kontrast zur zierlich-kleinen Salenko. Die große, hoch gewachsene, langbeinige Mestrovic hätte hier durchaus alles erfüllen können, was ihr der avisierte Part auferlegt hätte.

Julia Golitsina hingegen tanzt, als handle es sich dabei um rhythmische Gymnastik. Sie ist dynamisch, aber von einer Schwere in den Bewegungen, die mit klassischem Ballett nicht mehr viel zu tun hat. Ihre Sportlichkeit erinnert vielmehr ans Damenwrestling. Und die Ausstrahlung eines Big Ego allein macht auch noch nicht mal eine Mephistophelia aus ihr, was an sich wohl angedacht war und als Gegensatz zur edellieben Salenko auch durchaus funktionieren würde.

Das solistische Bravourstück der Partie mit einem lang gehaltenen Penché (ohne Partnerbeistand!) am Ende wirkt bei Golitsina hingegen so effekthascherisch wie glanzlos – ganz so, als wäre sie auf einer Turnmatte zugange.

Ich möchte aber keinen Sport sehen, ich will Kunst sehen, wenn ich ins Ballett gehe!

Vermutlich ist diese Besetzung der klägliche Versuch, Berlin eine zweite Natalia Osipova zu schenken. Osipova ist eine der am meisten vermarktete Primaballerinen der Welt mit einem sehr speziellen, sportlichen Stil. Sie ertanzte sich zuerst in den Choreografien von Alexei Ratmansky vom Bolschoi aus ihren Weltruhm, um aktuell in London beim Royal Ballet und in New York beim American Ballet abzusahnen. Ihr Stil ist extrem dynamisch – aber zusätzlich hat sie eben auch jede Menge lyrische Poesie im Körper, besonders in den Beinen. Was man von Julia Golitsina leider nicht wirklich behaupten kann. Mit ihr bekommt „Jewels“ in Berlin einen ersten Touch von Provinz.

Hat das bei den Proben denn niemand bemerkt?

Ermuntert wurde Julia Golitsina noch von der überaus eifrigen, aber auch genauso eitlen Gastballettmeisterin Patricia Neary. Für sie ist George Balanchine schon deshalb „der wichtigste Choreograf des letzten Jahrhunderts“, weil sie noch mit dem 1983 Verstorbenen gearbeitet hat. Andere bedeutende Choreografen blieben ihr offenbar fern – und sie wurde solch ein Nerd, dass sie den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht.

Iana Salenko, Berlins Superstar, was Ballett angeht, tanzt in den "Rubies" in "Jewels" von George Balanchine so herzerfrischend, so sexy und so mustergültig die Balanchine-Schule, dass man schon wegen ihr in die Vorstellung kommen sollte. Foto: Carlos Quezada

Sonst stets ein Traumpaar, in Balanchines „Jewels“ allerdings brilliert Iana Salenko eher ohne ihn: Dinu Tamazlacaru und La Salenko im Mittelstück des Abends, den „Rubies“. Foto: Carlos Quezada

So enttäuscht denn auch der schöne Dinu Tamazlacaru als Partner von Iana Salenko in „Rubies“, obwohl er choreografisch hier mit einigen auch solistischen Sprungkombinationen bedacht ist: Dinu, der Star der hohen Sprünge und der sanften Melancholie, läuft hier unmotiviert hin und her und wirkt manches Mal wie bestellt und nicht abgeholt. Eindeutig ist auch das ein Verschulden von Neary: Offensichtlich war sie überfordert.

Und vielleicht ist diese stark geliftete alte Dame einfach nicht mehr in der Lage, nach allen Regeln der Kunst ein solches Stück ganz allein zu stemmen.

Es fehlt für Berliner Begriffe aber auch ein Tänzer, der heute als künstlerischer Balanchine-Spezialist beim Miami City Ballet Erfolge einheimst: Rainer Krenstetter. Der Österreicher wurde trotz einer sehr guten Entwicklung in Berlin zum Amtsantritt von Nacho Duato als Berliner Ballettchef entlassen – und fand in den USA flugs ein neues Glück. Als Principal tanzt er nun vor allem die Stücke von George Balanchine – und hat sich und seine Körperlinien immer weiter verfeinert und verbessert. Es ist einfach schade, dass er in Berlin nicht bei den „Jewels“ mit dabei ist. Es wäre eine schöne Geste gewesen, ihn als Gast zu holen! Möglicherweise wäre ihm auch nicht das Malheur passiert, das Dinu Tamazlacaru passierte: dass eine überalterte Gastballettmeisterin ihn nicht angemessen fördert.

Da können nur noch die jungen Femmes fatales aus dem Ensemble mit ihren männlichen Unterstützern so Einiges retten:

Lisa Breuker allen voran tanzt so wunderbar selbstverloren und dennoch haargenau, als sei die Choreografie für sie erfunden worden. Bravo! Bravissimo!

Aber auch Maria Boumpouli, Maria Giambona, Cécile Kaltenbach, Marina Kanno, Danielle Muir, Luciana Voltolini und Patricia Zhou bezaubern: Sie haben den Geist dieses Tanzes erfasst und sind in der Lage, ihn ohne Fehl und Tadel, dafür mit viel Spaß an seiner Spritzigkeit zu interpretieren. Darum auch hier: Bravo!

Die Jungmänner mit Alexander Shpak, Ulian Topor, Wei Wang und Dominic Whitbrook sind indes der spektakulären Damen- und Paarchoreografie so stark untergeordnet, dass man sie kaum als Einzelpersonen wahrnehmen kann, zumindest beim ersten Sehen nicht.

Schon deshalb dürfte sich ein zweiter Besuch von „Jewels“ in Berlin lohnen: Man sieht beim ersten Mal nicht alles.

Über Manches muss man dann allerdings auch wieder hinweg sehen: Die Ausstattung ist nämlich schlichtweg geschmacklos und peinlich geraten, zumal gemessen an dem Werbeaufwand, den man mit ihr betrieben hat.

Iana Salenko, Berlins Superstar, was Ballett angeht, tanzt in den "Rubies" in "Jewels" von George Balanchine so herzerfrischend, so sexy und so mustergültig die Balanchine-Schule, dass man schon wegen ihr in die Vorstellung kommen sollte. Foto: Carlos Quezada

Und noch einmal die superfantastische Iana Salenko, in „Rubies“ in „Jewels“ von George Balanchine: Sie ist wahrlich ein Hochkarat unter den Ballerinen dieser Welt. Foto: Carlos Quezada

Nun haben Bühnen- und Kostümbildner bei abstrakten Themenballetten wie „Jewels“ nicht allzu viel Spielraum. Zumal die Farben – Grün, Rot, Weiß – und die Rocklängen der Damen vorgegeben sind und es einem Tabubruch gleichkäme, dieses von Balanchine eindeutig gewünschte Raster aufzubrechen.

Man ist im Ballett noch nicht so mutig wie im Sprechtheater oder in der Oper: Dort ist Vieles möglich, inhaltlich wie formal, was man im Ballett als unsinnig empfinden würde.

Dennoch haben es immer wieder Ausstatter auf der ganzen Welt verstanden, bei „Jewels“ die engen Grenzen als Herausforderung an ihre Fantasie zu sehen.

Nicht so in Berlin. Hier obsiegte wohl die starke Neigung zur Kumpanei des aktuellen spanischen Ballettintendanten Nacho Duato: Es wurden zwei Landsmänner von ihm angeheuert, die mit Ballett und Theater eher wenig am Hut haben und die der großen Bühne der Deutschen Oper Berlin denn auch überhaupt nicht gewachsen waren.

Da sind zuerst die Bühnenbilder von Pepe Leal. Leal wurde mit der Ausstattung einer TV-Serie in Spanien bekannt. Auch als Dekorateur von Ausstellungen bedient er einen populistischen Geschmack, der genau jenen Massen gefällt, die ohnehin so gut wie nie – zumal in Deutschland nicht – den Weg ins klassische Ballett finden. Sein großes Plus scheint seine lobbyistische Verbandelung mit der Industrie zu sein: Er verbaut besonders gern den jeweiligen topaktuellen technischen Designstandard. Das hilft der Industrie, die sich sonst nicht selten vorwerfen lassen muss, Dinge zu erfinden, die niemand braucht. Leal hat auch einen dieser Professorenstühle in Madrid inne, die der Uni vermutlich vor allem Fördermittel, aber keine inhaltliche Relevanz zu bringen scheinen.

Davon hat das Ballettpublikum nun rein gar nichts.

So sieht Leals grüner Vorhang für die Hinterwand in „Emeralds“ schlicht nach gar nichts aus, außer nach Plastik. Für „Rubies“ schuf er eine Reihe von spitz zulaufenden, rot auf schwarz leuchtenden Lichtlinien für den Hintergrund – das ist langweilig und nicht mal karfunkelsteinmäßig assoziativ zu gebrauchen. Für „Diamonds“ ersann er gar plumpe, metallfarbene Pyramidenbrocken, die von der Decke hängen und sich wie ein Strom nach hinten ziehen, immer kleiner werdend. Solche technologisch aufgemotzten Pappkonstrukte haben mit dem Flair von Diamanten überhaupt nichts gemeinsam und geben auch sonst nichts in die Aufführung, was ihr gut tun könnte. Im Gegenteil: Eine interessante Energie würde sich anders formulieren.

Noch mehr erschreckt sich das geschulte Auge aber vor den kitschig-geschmacklosen Flitterkostümen in „Jewels“.

Lorenzo Caprile gilt als wichtiger spanischer Modemacher, er und Nacho Duato kennen sich seit langem. Aber reicht das, um ein Ballett von Balanchine auszustatten?

Vom eleganten, aufs Wesentliche konzentrierten Esprit eines George Balanchine hat Caprile offensichtlich noch nie was gehört, nicht für eine Nähfadenstichelei lang nicht. So wird das schöne Smaragdgrün in „Emeralds“ von mächtig viel Geglitzer konterkariert, und die langen Tutus der Damen, die klassischerweise hellgrün sind – brasilianische Smaragde zeigen oft auch so ein helles Grün. Hier aber sind die Tutus entfärbt und cremehell, die Mieder und die Dekolletés der Damen dafür mächtig aufgebrezelt, mit Gold und Glitter und Glitter und Gold ohne Ende. Es ist keine Freude, und beim Genuss des Tanzes muss man ständig über diese Kostümierung hinweg sehen.

Noch schlimmer sind die Kostüme für „Rubies“: Die Jungs sehen im dunkelroten Plastiksamt aus wie wandelnde Kitschfiguren aus dem Touristenshop. Die militärischen Trassen daran, so krass wie Falschgold glänzend, machen’s auch nicht gerade besser. Die Girls in „Rubies“ tragen kurze Faltenröcke und dazu rote Deko-Dödel auf dem Oberkopf – was so richtig schlimm nach Funkenmariechen und Billigkarneval aussieht.

Vielleicht soll das eine Referenz der Spanier an die deutsche Bundesregierung sein, die zum Teil noch aus dem Rheinland kommt und von daher schwer karnevalbegeistert ist. Mit George Balanchine hat so ein Gebuckel vor den Geldgebern (die Stiftung Oper in Berlin bezieht Geld aus dem Bundessäckel) aber nichts zu tun. Und der Steuerzahler hätte es vielleicht auch lieber stimmig und historisch passend!

"Jewels" ist ein Ballett nicht nur über Edelsteine.

Shoko Nakamura in den „Diamonds“ in „Jewels“ von George Balanchine: Die Gastballerina, früher ständig in Berlin tanzend, erfüllte bei der Premiere nicht ganz das, was man sich von ihr versprach. Aber schöne Linien hat sie selbstredend! Foto: Carlos Quezada

In „Diamonds“, dem diamantenen Endstück von „Jewels“, kulminiert denn auch die Freude des Modeschöpfers an Flitter und Tand zu einem Feuerwerk des Industriegeschmacks. Gold und Silber wurden haufenweise auf die weißen, knielangen, traurig herabhängenden Tutus der Damen gekippt – für Laien mag das festlich und irgendwie so richtig nach klassischem Ballett aussehen. Für Connaisseure wirkt es einfach billig und tricky; dabei gibt es so viele Möglichkeiten, für Ballettdamen weiße Kostüme zu kreieren.

Da sind all die Hochzeitsangelegenheiten, die in den bekannten großen Balletten eine Rolle spielen. Da sind zudem die „Schwanensee“-Tutus! Und die tanzenden Schneeflocken aus dem „Nussknacker“! Auch mit dem Glanz des Brillanten bei Nacht wird oft und schön bei der Ausstattung von „Diamonds“ gespielt. Vollmond ist als sehr bühnenwirksam angesagt!

Und weil die kühle Kühnheit der Choreografie auch etwas Winterliches hat, kann man mit Schnee als weißem Kristallgebilde an sich sehr gut arbeiten, als Ausstatter.

Aber beim Staatsballett Berlin triumphiert das blecherne Gerümpel im Bühnenhimmel, wozu die Fülle an Glitterkram auf den Kostümen allerdings bestenfalls zu passen vermag. Wobei ich betonen muss: Diese mattgrauen Pyramiden von Pepe Loal über den Tänzern sind wirklich eine Beleidigung des gehobenen Geschmacks. Man sollte sie abmontieren und der nächstbesten Werbeagentur schenken. Vielleicht lässt sich noch irgendein minderwertiges Industrieprodukt damit profitabel in Szene setzen.

Die Ballerinen und Ballerini vom Staatsballett Berlin tun einem jedenfalls Leid, in so provinzieller Aufmachung einher zu kommen. Schließlich sind sie hier die eigentliche Attraktion und auch diejenigen, die am meisten Mühe und Arbeit in die Sache stecken.

A propos Arbeit: Der Coach heißt hier Sandra Jennings, und tatsächlich hat sie sauber alles durchgearbeitet. Um es vorweg zu sagen: Das Festlich-Feierliche dieser Choreografie hat sie vollständig umgesetzt – nur die Abwechslung davon und die Nuancen möglicher Festlichkeit geraten ins Hapern. Die Stimmung zur Sinfonie Nr. 3 in D-Dur von Peter I. Tschaikowsky, unter Weglassung ihres ersten Satzes, ist von daher festlich, festlich, festlich – und nichts weiter.

Das amüsiert für bestenfalls eine knappe Viertelstunde, dann aber bricht der Kanon der Schönheit unter der aufoktoyierten Fröhlichkeit (Fröhlichkeit! Fröhlichkeit!) zusammen. Mühsam wird irgendwie ein Durchhaltetheater daraus, die Luft ist raus, die Musik paustert noch laut und wichtigmacherisch, also wird der gedrillte Körper vornehm weiter hin- und hermanövriert. Aber es ist letztendlich wie mit einer schönen Verpackung ohne Inhalt: Ein Geschenk, das nur aus Karton besteht, ist frustrierend.

Und dabei haben Brillanten doch so viele Facetten! Auch diese hier. Ich habe mal Ulyana Lopatkina, die große, langbeinige, heute 42-jährige Russin, als Primaballerina in „Diamonds“ gesehen – und sie legte tatsächlich alle Liebessehnsucht und allen Schmerz der Liebe, alle Wonnen der Liebe und all ihren Kummer in die Choreografie. Bei Lopatkina wurde der Diamant ein Sinnbild für die Seele der liebenden Frau – und man wollte weinen und lachen zur selben Zeit, so sehr konnte sie einen faszinieren und mitreißen. Obwohl dieser Part selbstredend auch eine gewisse Kühle und Souveränität mit sich bringt, denn diese ist hier für die Stilistik nötig; es ist beileibe keine Jammerrolle, dieser Balanchine’sche Brillant (der mit Blutdiamanten und den Kinderschicksalen, die daran hängen, nun auch wiederum gar nichts zu tun hat).

Shoko Nakamura, die früher Erste Solistin in Berlin war und gelegentlich noch als Stargast engagiert wird, kommt an die edle Interpretation etwa einer Lopatkina nicht heran. Es ist nicht schlecht, was die Japanerin, die einst in „La Bayadère“ begeisterte, so macht. Sie tanzt absolut akkurat, hat zumeist eine wunderschöne Balance, und ihr Partner Mikhail Kaniskin ist erfahren genug, um für sie den großen Gentleman zu mimen und ihr jedweden Aplomb zu geben, nach dem sie verlangt.

Aber mehr als einen insgesamt eher brav-langweiligen Paartanz kriegen die beiden nicht hin. Vielleicht wird hier eine andere Berliner Besetzung tatsächlich noch Einiges besser machen.

Unter der kühlen Oberfläche muss es hier so richtig funkeln!

Auch Kaniskins Spagatsprungrotunde ist im Rahmen des routinierten Abtanzens nicht viel mehr als ein Zeugnis seines guten Trainings – solche Effekte wirken nun mal nicht, wenn da nicht eine emotionale Tiefe dahinter steht.

Es ist die Schwierigkeit des Balletts „Jewels“, es eben nicht wie Zirkus aussehen zu lassen. Da keine Handlung eine Gefühlsentwicklung vorgibt, müssen die Tänzer sie aus sich heraus schöpfen.

"Jewels" ist ein Ballett nicht nur über Edelsteine.

Mikhail Kaniskin im akkuraten Sprungformat in „Diamonds“ in „Jewels“ von George Balanchine. Schön und festlich, sauber und stolz. Aber genügt das?  Foto vom Staatsballett Berlin: Carlos Quezada

Das ist Shoko Nakamura und Mikhail Kaniskin bei der Premiere meiner Ansicht nach nicht genug gelungen. Man sah weder, ob sie mit dem Tanz ihre Verliebung, Verlobung oder Verheiratung feiern wollten noch warum dieses Paar überhaupt miteinander tanzt. Kaniskin versuchte an einer Stelle zaghaft eine Art Schauspiel, indem er die Partnerin traurig mit gesenktem Kopf von unten im Stehen anschmachtete, um dann zielstrebig auf sie zuzugehen. Aber im Kontext passt das hier gar nicht, zumal Nakamura auch gar nicht darauf einging.

Vielleicht verbessern sich die beiden im Laufe der folgenden Vorstellungen. So jedenfalls war es wieder eher Sport als Kunst, was man zu sehen bekam – unerreicht blieb indes der Schmelz der beiden „Emeralds“-Paare und die Grandezza von Iana Salenko aus dem „Rubies“-Part. Diese Momente schieben sich an diesem Abend immer wieder vor die innere Linse – naja, da hat es Shoko Nakamura halt sehr schwer.

Allenfalls das Ensemble begeisterte mich in der Berliner „Diamonds“-Premiere so richtig und vollauf. Aurora Dickie, Weronika Frodyma, Stephanie Greenwald und Luciana Voltolini sowie Taras Bilenko, Nikolay Korypaev, Konstantin Lorenz und Kévin Pouzou (er ganz besonders!) sind eine fantastische Besetzung für die vornehmen, höfisch anmutenden, dennoch auch modern-geschmeidigen Bewegungsabläufe.

Aurora und Weronika haben dabei das Zeug, all das an Charme und Sinnlichkeit zu zeigen, was Shoko Nakamura der kalten Technik opferte. Hätte man hier nicht auch eine Ballerina aus dem Berliner Bestand betrauen können? Oder, ganz toll wäre das gewesen, Polina Semionova einfliegen lassen?

Effekthascherei – erneut muss das Staatsballett Berlin mit diesem Vorwurf leben, weil es sich eine Ballerina als Gaststar nahm, die die Demut und die Grazie in Balanchines Choreografie als Aufforderung zu glänzen und nochmals zu glänzen, missverstand.

Dagegen tröstet das Ensemble wirklich mit seinen vornehmen, sinnfällig schönen Posen, die auch entsprechend ausgeübt werden.

Lisa Breuker (die ohnehin längst überfällig ist für große Solopartien), Elinor Jagodnik, Mari Kawanishi (die auch schon in „Emeralds“ für fantastische Ports de bras und Haltungen sorgte), Aeri Kim, Danielle Muir, Jordan Mullin, Christiane Pegado, Alicia Ruben, Aoi Suyama, Pauline Voisard, Xenia Wiest und erneut die tolle Patricia Zhou zeigen die Tugenden der Balanchine-Schule, als hätten sie nie anderes getanzt.

Vermutlich lässt sich der gute alte Balanchine aber auch gut mit der modernen Bewegungsästhetik des in Berlin dominierenden Choreografen Nacho Duato kombinieren – Balanchine bedeutet ja soviel wie schnörkellose Neoklassik, und diese trifft im Kern natürlich jede auf der Klassik aufbauende Moderne.

Das gilt auch für die Herren, die wichtig sind, auch wenn sie hier nicht im Vordergrund stehen:

Elvis Abazi, Alexander Abdukarimov, Alexander Akulov, Giacomo Bevilacqua, Paul Busch, Ty Gurfein, Christian Krehl, Seung Hyon Lee, Aymeric Mosselmans, Dominic Whitbrook, Mehmet Yümak und Rishat Yulbarisov tragen zum Flair auf der Bühne bei, sie feiern mit ihren Dame die Liebe und das Leben, als gebe es kein Morgen.

Der Abend ist also ein Triumph für das Ensemble, das nach wie vor hervorragend aufgestellt und trainiert ist – von hier aus ein großes Dankeschön dafür auch an das Berliner Ballettmeisterteam, an Gentian Doda, Christine Camillo, Tomas Karlborg, Thomas Klein und Barbara Schroeder.

"Jewels" ist ein Ballett nicht nur über Edelsteine.

Festlich, feierlich, aber auch unergründlich mystisch ist hier die Atmosphäre: „Diamonds“ in „Jewels“ mit einem toll aufgestellten Ensemble vom Staatsballett Berlin. Foto: Carlos Quezada

Dass in „Diamonds“ einige Schritte der russischen Folklore entlehnt sind, betont übrigens ihren hohen Wert aus Balanchines Ballettmeisteraugen:

Wenn man die drei Stücke „Emeralds“, „Rubies“ und „Diamonds“ als Sinnbilder für die verschiedenen Schulen des klassischen Tanzes sehen will, so steht „Emeralds“ für das elegante London mit seiner traditionell lieblichen Ballettausrichtung. Die „Rubies“ stehen für das virtuos-hektische Paris mit seiner frivolen Ausrichtung – und die „Diamonds“ stehen selbstredend für das russische klassische Ballett, dem George Balanchine ja auch selbst entstammt.

Er hat seine Wurzeln nie verleugnet; dass er sein geniales Talent zu entfalten wusste, ist dennoch auch einigen Zufällen zu verdanken. So vermochte er es tatsächlich immer wieder, die Ansprüche der reichen Amerikaner mit den eigenen künstlerischen Absichten zu verbinden.

Seine Bedeutung als Erfinder des Neoklassizismus im Ballett ist allerdings nicht nur für seine Choreografien und die Arbeiten jener Choreografen, die von ihm beeinflusst wurden, von Belang. Vielmehr hat George Balanchine auch als Begründer seiner eigenen Schule, also einer Ausbildungsrichtung, großen Erfolg für die Ballettwelt gebracht.

Die „Entrümpelung“ des klassischen Tanzes von Schlenkern und Schnörkeln, die Reduktion aufs Wesentliche – das war Balanchines Credo, und mit diesem essenziellen Verständnis von Ballett kommt man tatsächlich auch heute noch sehr weit.

Als Basis, um Ballett überhaupt zu verstehen, ist uns Balanchine daher so nahe wie die beginnende musikalische Moderne.

Und für Balletteinsteiger ist Balanchine sicherlich insofern auch geeignet; allerdings sollte man nicht zu sehr auf dem Aspekt der Virtuosität herumreiten. Die langweilt im Theater, wenn sie nicht emotional unterfüttert wird.

Oft liegt auch bei Balanchine das eigentlich Großartige im Kleinen. So in den schnellen Zwischenschritten der Ballerina, wenn sie zwischen zwei Pirouettenserien kurzzeitig mit beiden Füßen Bodenkontakt hat. Man denkt da nur zu gern an Iana Salenkos „Rubies“-Auftritt, als sei dieser mustergültig dafür, wie man George Balanchine heutzutage zu tanzen hat. Dass Salenko dabei auch den schauspielerischen Ausdruck wechselt und eben nicht die ganze Zeit lang ein- und dasselbe Grinsen zeigt, ergänzt ihren Tanz und macht sie als hochkarätige Bühnenkünstlerin kenntlich.

Ein weiterer Grund, sich die „Jewels“ nochmal anzusehen, ist aber auch die Tiefe, die Vielschichtigkeit der Choreografie.

Denn natürlich kann man die Metapher von den Schmuckstücken auch in sexueller Hinsicht deuten. Demnach stehen die drei Edelsteine für die drei großen Schätze einer Frau, mit denen sie – da war Balanchine ganz Macho – einen Mann zu beglücken und zu befriedigen zu vermag.

Dem Adagio des Vorspiels folgt darin das Allegro oder sogar Allegretto des Mittelstücks, hin zur Festlichkeit im Allegro moderator, im Andante, im Scherzo und im Finale des Abschluss- und Höhepunktstücks.

Allerdings zeigt dieses abendfüllende Ballett auch die Schwächen des Choreografen George Balanchine. Die liegen eindeutig darin, dass er nicht dramaturgisch denken konnte und auch keine Dramaturgen beschäftigte. Er entwickelte seine Tänze immer nur aus der Musik heraus. So etwas kann funktionieren, aber man vermisst halt doch den Intellekt, der mit Handlungen äußerer oder auch innerer Art, mit Themen und auch mit Konzepten aus Ballett eine Crossover-Kunst zu machen vermag.

Literarische Tiefe sucht man bei Balanchine entsprechend vergebens, auch epische Vorgänge liegen ihm mitnichten. Lyrik, Poesie, Dramatik – diese Trinität kann er, aber immer ist alles nur auf die Situation bezogen, immer entspring alles nur der absoluten Gegenwart. Sonst hätten die „Jewels“ vielleicht noch einen vierten Teil, etwa „Saphires“. Die Saphire fehlen hier nach der Logik der vier bekanntesten Edelsteine sowieso… und sie könnten der Jahrezeitenlogik nach schön die ersten langen dunklen Nächte des Jahres illustrieren, also den Herbst.

Aber auch ein vierter Baustein würde wohl nichts daran ändern: Ohne Dramaturgie gibt es ballettöse Feuerwerke wie von Marius Petipa, John Cranko, John Neumeier oder Yuri Grigorovich nun mal beim besten Willen nicht.

Gerade der moderne Zuschauer hat gern mehr kulturellen Hintergrund und inhaltliche Unterfütterung, als die abstrakten Ballette von George Balanchine sie anbieten.

"Jewels" ist ein Ballett nicht nur über Edelsteine.

„Diamonds“: Diamanten glitzern verheißungsvoll, sind aber auch die härtesten Edelsteine, die man kennt (nicht die ältesten, wie viele denken – das sind die Zirkone, die wiederum nicht mit dem Glasstein Zirkonia zu verwechseln sind.) Hier Mikhail Kaniskin und Shoko Nakamura als Glanzpaar in „Jewels“. Foto: Carlos Quezada

Übrigens hat Balanchine selbst um seine Schwäche im Umgang mit literarischen oder theatralen Themen wohl gewusst. Er hat zwar auch Handlungsballette choreografiert, so den „Nussknacker“, den „Schwanensee“ und auch „Ein Sommernachtstraum“, nach der Musik von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Aber die choreografische Dichte, die Intensität, die er in seinen abstrakten Balletten erreicht und die bei Tänzern wie bei Zuschauern zu einem richtigen Rausch führen können, blieb ihm darin versagt. Was möglicherweise ebenfalls daran lag, dass er keine Dramaturgen hatte, die ihm zur Hand hätten gehen können.

So hielt Balanchine sich weiterhin nur an die Musik als Ausgangspunkt für seine Inszenierungen. Die Fantasie des Zuschauers muss in „Jewels“ mitunter ersetzen, was das fehlende Libretto nicht hergeben kann: Beim Staatsballett Berlin fällt das dank der Könnerschaft des Ensembles insgesamt nicht schwer.
Gisela Sonnenburg

P.S. Weil’s doch wichtig ist: Mehrere Feuilletons berichten anlässlich dieser Premiere, Jewels“ sei das erste abstrakte Ballett von George Balanchine. Falsch! Es ist das erste abendfüllende abstrakte Ballett von Balanchine. Mit abstrakten  Balletten – aber eben zeitlich kürzeren – hatte er da schon viel Erfahrung.

Termine: siehe „Spielplan“

www.staatsballett-berlin.de

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