Schönheit, Scham und Schrecken Als würde man erstmals modernes Ballett sehen: Nacho Duato setzt mit „Herrumbre“ beim Staatsballett Berlin neue Maßstäbe. Folter, Lager, Terror, Trauer werden ohne reißerische Plakativität thematisiert

"Herrumbre" ist ein Ballett über Folter, Guantanamo und Hoffnung.

Eine Frau, zwei Männer – und ein brisantes Thema. In Nacho Duatos Ballett „Herrumbre“ wird zwar nicht provoziert, aber es geht eindeutig um Folter. Das Staatsballett Berlin tanzt das intensive Stück nachdrücklich! Foto: Fernando Marcos

Es ist, als würde ich zum ersten Mal über ein Ballett schreiben. So etwas wie „Herrumbre“ habe ich nämlich noch nie vorher gesehen. Dinge, die man für unsagbar hielt, stehen einem da klar vor Augen. Emotionen, die als viel zu diffizil gelten, als dass man sie mit der Körperkunst Tanz allein zeigen könnte, haben sich übermittelt. Das hat mit dem Innersten zu tun, das ein Lebewesen hat. Albert Camus beschrieb eine ähnliche Erfahrung so: „Mitten im tiefsten Winter wurde mir endlich bewusst, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer wohnt.“ Mir geht es dabei aber auch um die Einfühlung in das Leben in Dunkelheit, in seine schlimmsten Schattenseiten. Da ist die Angst. Sie kriecht in einem hoch wie eine Ahnung, aber sie lässt sich nicht abschütteln. Scham. Sie ist oft fehl am Platz, vor allem, wenn man das Opfer ist. Seele. Sie wird in die Enge getrieben, wenn der Körper gemartert wird. Erleichterung. Der Moment, wenn der Schmerz nachlässt. Trauer. Sie ist das endlose dunkle Tuch, unter dem alles verschwindet. Hoffnung. Was bleibt. Es sind diese realistischen Facetten von Gefühlen, die Nacho Duato wie kein zweiter Choreograf in seiner sublimierenden Arbeit zu reflektieren weiß. „Herrumbre“ („Rost“) kreist um Themen, die von den meisten Tanzschöpfern eher weiträumig umfahren werden: Folter, Gefangenenlager, Terrorakte. Die Anschläge auf Züge in Madrid im März 2004, Guantanamo auf Kuba, weltweite Verletzungen der Menschenrechte. Das Staatsballett Berlin tanzt dieses intensive Stück wie einen längst fälligen Kommentar zur Menschheit.

Es ist erschütternd, aber nicht lähmend. Virtuos, aber kein Selbstzweck. Es ist keine Sekunde langweilig, aber auch keinen Atemzug überdreht. Die Szenen entwickeln sich, von scheinbarer Harmlosigkeit bis zu äußerster Gefahr, und lösen sich auf, ohne den Zuschauer zu vergewaltigen. Das Stück „Herrumbre“ kriecht unter die Haut – und erlaubt es einem, kathartisch zu empfinden. Das ist ein anderes Glück als mit „Dornröschen“ oder „Vielfältigkeit. Formen der Stille und Leere“. Es ist ein weniger lautes Glück, das hier entsteht, es ist zirpend, ja flüsternd, es gebrochen und doch stark. Es rüttelt aber auch so wach!

Es appelliert an das Gute. Und es macht Mut. Mit diesem Geschenk von Gefühlen ist es ein weiterer Beleg für das Genie von Nacho Duato, der es vermag, mit seinem ästhetischen Stil die Wahrheiten der Welt zu uns zu bringen. Danke.

"Herrumbre" ist ein Ballett über Folter, Guantanamo und Hoffnung.

Hier ist das Opfer männlich – und die Choreografie hat eine andere Dynamik, ist aber genauso unter die Haut gehend. „Herrumbre“ von Nacho Duato beim Staatsballett Berlin. Foto: Fernando Marcos

Am Anfang ist da ein Schlag, der aus dem Off kommt.

Die Musik von dem Duo Pedro Alcalde und Sergio Caballero sowie von David Darling bohrt sich ins Ohr. Sie ist nicht aufdringlich und nie zu laut (und ich habe empfindliche Ohren), aber es ist unmöglich, diese Soundtracks zu vergessen. Von Alcalde und Caballero wurde eine Art Collage für Nacho Duatos Stück angefertigt, mit Rhythmen, die direkt aus der Hölle zu kommen scheinen. Dabei ist auch viel Stille, viel Sanftheit darin. Aber es überwiegen rhythmische Geräusche, die klingen, als würden Metallplatten aufeinander schlagen. Dann wieder wechselt ein Gequietsche mit leisem Rauschen. Und ein Dröhnen ertönt, dazu noch ein Surren wie von Elektrizität. Mitten drin irritiert zudem im ersten Teil noch ein anschwellendes Schnarchen, es wirkt beängstigend harmlos, denn hier schläft offensichtlich das Grauen, das bald erwachen wird.

David Darling setzt dann poetisch-moderne Soli für das elektronische Cello dagegen. Ein Rest Menschlichkeit in den vom Menschen zerstörten Räumen der Liebe erhebt sich, wenn die Streichermelodien erklingen.

"Herrumbre" ist ein Ballett über Folter, Guantanamo und Hoffnung.

So sieht die seitliche Front vom Schiller Theater in Berlin von außen aus, mit dem Plakat von Fernando Marcos, wenn das Staatsballett Berlin dort „Herrumbre“ tanzt. Foto: Gisela Sonnenburg

Sieben Tänzerinnen und vierzehn Tänzer stehen, fallen, kriechen, wälzen sich am Boden. Es gibt immer zwei Seiten der Gewalt. Die Täter und die Opfer. Manchmal weiß man nicht, wen man gerade vor sich hat. Manchmal werden Opfer zu Tätern. Oder umgekehrt. Aber dann, in den Momenten, in denen die Täter sich an den Opfern zu schaffen machen, weiß man, wer wer ist. Gewalt macht nicht alle gleich. Gewalt zeigt die Schlechtigkeit im Menschen.

Aber auch das kleine Glück gibt es. Gleich zu Beginn etwa. Ein Paar läuft aufeinander zu, umarmt sich. In dieser Einfachheit liegt die Kraft, dem Bösen zu widerstehen. Und daraus wird mehr… Giuliana Bottino und Arshak Ghalumyan tanzen denn auch einen Pas de deux voll sanfter, schneller Hebungen. Sie trägt dabei ein violettes, knöchellanges Kleid, er ein Shirt und eine Trainingshose in Grautönen. Die geschmackvollen Kostüme stammen nicht von Ungefähr vom Choreografen Nacho Duato – sie unterstützen den Tanz, auch die Stimmung der jeweiligen Szenen.

Weitere Paare agieren, es ist alles „normal“, so scheint es, aber irgendetwas liegt in der Luft. Gefahr.

Dann kommen sie. Die harten Schläge. Metallische Klänge gewittern hernieder.

Die Stimmung kippt dramatisch, und das wird sie noch häufig tun an diesem Abend, der faktisch 75 Minuten lang ist und gefühlt eine ganze Batterie von Spielfilmen ersetzt.

"Herrumbre" ist ein Ballett über Folter, Guantanamo und Hoffnung.

Eine Frau fällt zwei Männern in die Hände – sie ist das Opfer, und es geht nicht um Liebe. „Herrumbre“ von Nacho Duato, zu sehen beim Staatsballett Berlin, vermengt keineswegs, was Freiwilligkeit und was Zwang ist. Es entstehen Bilder von großer Sogkraft. Foto: Fernando Marcos

Eine Frau fällt zwei Männern in die Hände. Sie wird benutzt, gebogen, verbogen, dann, am Boden liegend, weggeschleift.

Wie eine Erinnerung schimmert die Poesie des Lebens in einem Pas de deux auf. Es ist das Paar vom Anfang, Arshak Ghalumyan und Giuliana Bottino. Geschmeidig trösten sie einander, geben einander Halt.

Es gibt, und das ist Absicht, keinen unmittelbaren Zusammenhang zu der Folterung zuvor. Denn die Parallelwelten sind nur indirekt miteinander verbunden.

Hart kontrastierend, ergänzen sich diese Szenen.

Einige Blütenblätter fallen aus dem Schnürboden. Herbst kann es überall sein, wo es Jahreszeiten gibt. Die Vergänglichkeit ist Teil auch des großen Unsagbaren.

„Die Folter ist leichter zu lernen als die Beschreibung der Folter“, das kam dem Schriftsteller Heiner Müller in den Sinn, als er einen Krimi las. Für das Ballett „Herrumbre“ gilt das nicht. Nacho Duato arbeitet nicht mit den Mitteln der akribischen Nachzeichnung oder naturalistischen Abbildung. Er beschreibt mittels Stilisierung. Dass das geht, ist das Wunder – und diese Magie überträgt sich stärker als der Horror, der von einer Deskription ausgehen könnte.

Gewalt ist ein Exzess, sogar dann, wenn sie kalt und scheinbar kontrolliert ausgeübt wird.

Schönheit und Scham. Trotz der Zerstörungswut der einen wächst die Schönheit der anderen.

Schönheit und Schrecken. Trotz all der Panik: die innere Schönheit wird stärker.

Schönheit und Seele. Die Anima, das Sinnbild der Liebe findet sich selbst.

"Herrumbre" ist ein Ballett über Folter, Guantanamo und Hoffnung.

Das „Herrumbre“-Plakat mit dem Foto von Fernando Marcos passt vorzüglich in den öffentlichen Raum in Berlin, auch in die U-Bahn. So sieht gelungenes Marketing für Ballett aus, das auch gleich ins Thema des beworbenen Stücks einstimmt, ohne übersehen zu werden. Foto: Gisela Sonnenburg

Fünf Paare tanzen die Hoffnung, sie sind nicht allein, aber sie bilden auch keine Übermacht. Sie haben ihre eigene Hoffnung bitter nötig. Die Frauen strecken ihre rechten Arme elegant gen Himmel. Die Männer, die die Frauen bis dahin gehalten haben, holen den getanzten Freiheitsschrei, den Arm ihrer Partnerin, mit gediegenen Bewegungen ganz rasch ein wie eine Fahne, die zu früh gehisst wurde. Männer haben wahrscheinlich meistens noch mehr Angst als Frauen.

Männer sind auch diejenigen, die am ehesten aufeinander losgehen. So im Krieg. Duato braucht, um so etwas darzustellen, keine Holzschwerter oder Gewehrattrappen. Ihm genügen die Körper und die Kunstfertigkeit seiner Compagnie.

Und das Licht. Er braucht das Licht (von Brad Fields), denn ohne Licht gibt es keine Düsternis. Das Licht unterstützt zudem den Stimmungswechsel, der manchmal knallhart ist. Grell ist es dann, das Licht, das mal von oben, mal von unten, mal von der Seite kommt. Weichzeichnerisches Zwielicht und bedrückende Dunkelheitsszenarien werden von krass hellen Lichtstrahlen unterbrochen. Aber mitunter müssen ein, zwei Lichtkegel genügen, um dennoch das Gefühl zu wecken, dass hier eine ganze Gesellschaft auf wenigen Quadratmetern symbolisch dargestellt ist.

"Herrumbre" ist ein Ballett über Folter, Guantanamo und Hoffnung.

Die wandelbare Gitterwand von Jaffar Chalabi ist in Nacho Duatos Ballett „Herrumbre“ wesentlicher Teil des Stücks. Foto: Fernando Marcos

Auch das Bühnenbild hat daran seinen Anteil. Der Iraker Jaffar Chalabi, von Hause aus Architekt, schuf ein etwas sechs Tonnen schweres, riesiges metallenes Gattergebilde, das von den Zäunen von Guantanamo inspiriert ist. Es stellt aber nicht nur einen Lager- oder Gefängniszaun dar, sondern auch, wenn es gekippt oder quer gelegt wird, eine Art Schutz, manchmal auch eine Art Segel. Es ist ein bildhauerisches Werk mit eigenem Symbolwert, das in den Tanz integriert ist.

Einmal versammeln sich die Tänzer auf einer Seite an diesem Gestänge und bewegen es. Danach setzt eine Teilung der Tänzerschar in zwei Hälften ein. Links und rechts des Segels. Es ist wie bei Walter Benjamin, dem unwillkürlich in der Beschreibung einer Schar hungriger Möwen die Begriffe „links“ und „rechts“ politisch, also parlamentspolitisch, gerieten.

Es gibt immer zwei Gruppen, sagt man, die Täter und die Opfer, die Henker und die Gehenkten.

Albert Camus träumte 1946 von einer Gesellschaft ohne Gewalt. „Weder Opfer noch Henker“ heißt der entsprechende Essay von ihm, im französischen Original: „Ni Victimes, ni borreaux“. Er erschien erst 1984 auf deutsch. Zwanzig Jahre später, 2004, schuf Nacho Duato „Herrumbre“, und auch Duato träumt von einer Gesellschaft ohne Gewalt. Der Boden des Moralischen, er ist so wichtig. Gerade in einer Gesellschaft, die sich der Coolness und dem Geld verschrieben hat.

Da ist dieses Mädchen in hautfarbenem Trikot, das zwei Männern in schwarzen Hosen begegnet ist. Ihren Schergen. Sie geht einem nicht aus dem Kopf. Hat sie die Folter überlebt?

"Herrumbre" ist ein Ballett über Folter, Guantanamo und Hoffnung.

Diese eine Szene ist eindeutig von Guantanamo inspiriert – viele andere sind offenkundig vieldeutiger. So zu sehen in „Herrumbre“ von Nacho Duato beim Staatsballett Berlin. Es ist unmöglich, dass einen das kalt lässt. Foto: Fernando Marcos

Und da sind auch die Männer, die auf dem Boden hocken, die Arme auf dem Rücken gefesselt. Ihre Köpfe, ihre Augen, sind in Kapuzen verborgen. Guantanamo, Kuba. So ein Foto von Gefangenen, die wie Tiere im Käfig angekettet waren, löste, zusammen mit der Erfahrung der Anschläge auf die Züge im März 2004 in Madrid das Ballett „Herrumbre“ aus. Nacho Duato lebte damals in der spanischen Hauptstadt, nur wenige Straßen von einem der Explosionsorte entfernt. Er weiß, worum es geht, wenn man von Terrorangst spricht. Da muss er heute keine Anleihen bei den Parisern machen.

Natürlich wirkt das Stück dennoch wegen Paris einerseits brandaktuell, andererseits aber auch antizipierend. Der Künstler sieht so viel mehr als die Nachrichtenkamera.

Das gilt auch für das Foltern. Es geht hier nicht um Auflistung all der vielen schrecklichen Praktiken. Man hat sie als Zeitgenosse heute im Kopf. Das Programmheft zu „Herrumbre“ hilft hier nach, mit einem Text von amnesty international.

Schlafentzug, Kältekammern, Waterboarding, Demütigungen jedweder Art. Die Menschheit ist sehr einfallsreich, wenn es um Folter geht. Nacho Duato aber sucht in der Kunst die Würde des Opfers, die unzerstörbar ist. Selbst wenn ein Mensch skrupellos massakriert wird – etwas bleibt von ihm, etwas ist für die Folterknechte unerreichbar.

Im Programmheft erklärt Duato seine Suche und seinen Antrieb, es geht ihm um eine fast schamanische Sensibilität beim Thema: „Es ist mir zuwider zu sehen, wie wir uns daran gewöhnt haben, mit diesen gewaltreichen Bildern zu leben, die von unseren Kommunikationsmedien verbreitet werden, und wie wir regelrecht abstumpfen und gleichgültig geworden sind.“ Der Tanz dagegen öffnet die Poren, macht sensibel: „Die gesamte Choreografie ist wie ein Schrei gedacht.“

Aber draußen, in der Welt – da herrscht Verrohung allerorten. Und über die ganz normale Werbepsychologie kriecht sie auch noch in die Hirne der scheinbar Unbeteiligten, die eigentlich noch nicht mal Zuschauer sein wollten.

Ballett geht dagegen an, wenn es eine so hohe Kunst ist wie hier (und nicht wie in jener aktuellen Käse-Werbung im Fernsehen, in der ein ballettöses Tanzpaar zwei Scheiben Edamer verkörpert, was irgendwie auch ein Angriff auf die Menschenwürde ist).

„Rost“, wie der spanische Titel „Herrumbre“ übersetzt heißt, ist bei Duato eine Metapher für die Beschädigung, die eine Seele nimmt, wenn ihr Gewalt angetan wird. Nacho Duato erklärt, in einem Werbetrailer des Staatsballetts Berlin, dass er dabei an ein Stück Eisen gedacht habe, das man der Feuchte und Kälte aussetzt, und das dann oxidiert. Es verändert sich, irreversibel. Auch ein Mensch, der gefoltert oder ein Terroropfer wurde, kann das nicht mehr ungeschehen machen. Seine Gewalterfahrung wird ihn für den Rest seines Lebens prägen.

„Herrumbre“ ist ein in sich geschlossenes Werk, das sich ohne Pause und ohne Unterbrechung entwickelt. Manchmal erinnert es an eine Sci-Fi-Sphäre, manchmal an unseren Alltag. Es ist zeitlos und dennoch gegenwärtig, wenn die Paare ihren Trost und ihre Hoffnung zelebrieren und dann, im Kontrast dazu, eine Horde Menschen den Terrorwahn der Folter üben.

"Herrumbre" ist ein Ballett über Folter, Guantanamo und Hoffnung.

Im Programmheft zu „Herrumbre“ erläutert der Choreograf Nacho Duato mit hervorragender Wortwahl seine Intentionen. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Und auch die Nuancen der Bedrückung, die Angst in einer Gruppe, werden dabei sichtbar.

All dies wird mit komplizierten, wie verknotet wirkenden Bewegungen gezeigt, im Wechsel mit scheinbar einfachem Laufen und Springen. Es ist wirklich berückend, wie zart – trotz der Härte der Thematik – hier agiert wird.

Die dialektisch-poetisch vorgehende Aufarbeitung, das lehrt dieser Abend, geht sehr viel tiefer als die nur plakativ anprangernde Aufklärung.

Einmal bleibt eine Tänzerin auf allen Vieren zurück, auf den spitz gemachten Knien bei angewinkelten Unterschenkeln wie auf Stelzen posierend, und auch die Hände sind nicht etwa starke Stützen am Boden, sondern hochgestellt. Ein Menetekel, Mitleid erregend und dennoch von brisanter Schönheit.

Mit einer sadomasochistischen Verherrlichung von Gewalt hat das Ganze jedoch nichts zu tun. Das ist wichtig, denn hier lauert eine große Gefahr – und wenn die Grenzen verschwimmen würden und Zwang und Brutalität mit freiwillig ausgelebten Bedürfnisse nach Qual verwechselt würden, so wäre das Unterfangen, ein Ballett zum Thema Folter zu machen, bereits gescheitert. Nacho Duatos Choreografie besteht diese schwierige Gratwanderung mit Bravour und steht nicht einen Bruchteil einer Sekunde unter dem Verdacht, hier irgend etwas zu vermischen, das sich widersprechen und seiner Thesis von der Würde schaden könnte.

"Herrumbre" ist ein Ballett über Folter, Guantanamo und Hoffnung.

Ein Blick ins hilfreiche Programmheft zu „Herrumbre“ beim Staatsballett Berlin: Auch die Vita von Nacho Duato ist nachzulesen. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Darum seien andere Choreografen doch auch gewarnt, sich nun einfach auch mal auf solche Hardcore-Themen zu stürzen. Nacho Duato ist ein großer Meister, und er hatte das ehrliche Bedürfnis, so ein Kunstwerk zu schaffen. Zudem ist er auch 2004, bei der Kreation, schon nicht unerfahren darin gewesen, existenzielle Probleme der Menschheit auf die Ballettbühne zu stellen.

Die Szenen, die in „Herrumbre“ aufeinander folgen, sind denn auch wohl durchdacht. Sie bilden einerseits stets Gegensätze, andererseis ergänzen sie einander wie Fragen und Antworten. Diese Vielschichtigkeit, dieser ballettimmanente Dialog, er wirkt erhebend: er stiftet Sinnflächen, statt einfach nur Ausrufezeichen zu setzen.

Das zeigt sich im Formalen wie im Inhaltlichen. Ein Beispiel: Es folgt auf eine Szene nur mit Männern eine nur mit Frauen.

Die Männer, hinterm Zaun gefangen, warten, hoffen, warten, haben Angst, empfinden Scham, warten, hoffen, warten – und vier hängen sich kopfüber artistisch-verrenkt in das Gittergerüst, sodass man an die Suizide von Gefangenen etwa in Guantanamo denken muss.

Dann werden fünf junge Frauen gezeigt, die zur synthetisch mit Echo unterlegten Cello-Melodik von David Darling ihre Hände überm Kopf verschränken und sich fast akrobatisch verhaken – und sie tanzen miteinander den Trost der Überlebenden. Einzeln erzählen sie sich danach in Soli ihre Schicksale, vom Verlust der Familie, von der Sehnsucht nach dem geliebten Mann, der etwa verschleppt wurde.

"Herrumbre" ist ein Ballett über Folter, Guantanamo und Hoffnung.

Manchmal ist das Beziehungsleben umso komplizierter, wenn die Beteiligten Oper waren… so zu sehen in „Herrumbre“ von Nacho Duato beim Staatsballett Berlin. Foto: Fernando Marcos

Ein untergründiger seelischer Schmerz prägt auch solche Tänze, die anfangs unverfänglich-charmant anmuten. Aber es gibt nun mal keine von Trauer ungetrübte Erinnerung, wenn das Leid ein gewisses Maß überschritt. Dass Nacho Duato solche Feinheiten nicht pathetisch-tragisch, sondern mit elegischer Melancholie zeigen kann, ist sein Platzvorteil als Choreograf im Reigen der ganz Großen.

Für die Tänzerinnen und Tänzer ist der Abend natürlich eine Herausforderung. Die einstudierenden Ballettmeister Gentian Doda und Thomas Klein sowie natürlich auch der Choreograf selbst haben viele intensive Proben darauf verwendet, die selbst für die Duato-Compagnie schwierigen, oft neuartig-verknoteten, mal inwärts, mal auswärts gerichteten, mal blitzschnellen, mal sehr langsam auszuführenden Bewegungen erst einzuschleifen und dann sozusagen zu polieren.

Krasina Pavlova, Ballerina, bestätigte mir im Gespräch, dass es auch aus Sicht der Tänzer tatsächlich besonders anspruchsvolle Körpersprachen sind, die hier so lange eintrainiert wurden, bis sie geradewegs natürlich wirken.

Die Tänzerinnen und Tänzer sind denn auch besonders zu bedanken, denn sie haben sich mit Leib und Seele ihrer Arbeit gewidmet und dafür sicher nicht wenig Pein und Mühsal in Kauf genommen. Danke zum Einen deshalb – und zum Anderen für das großartige Gelingen dieser Bemühungen, damit eine so ungewöhnliche, so unerhört wichtige Inszenierung auch so stark wirkt.

Das Premierenpublikum war denn auch keineswegs unter- oder überfordert, sondern ließ sich mitnehmen auf diese Reise der Menschlichkeit – und spendete begeistert den Schlussapplaus, mit sehr vielen Bravos und Gejohle und keinem einzigen Buh.

"Herrumbre" ist ein Ballett über Folter, Guantanamo und Hoffnung.

Sie tanzen, als wären sie aus einem Guss gemachte, lebende Skulpturen: Aurora Dickie und Lucio Vidal.in „Herrumbre“ von Nacho Duato beim Staatsballett Berlin. Foto: Fernando Marcos

Ich möchte die Tänzerinnen und Tänzer nennen: Aurora Dickie und Lucio Vidal bilden ein Paar wie aus einem Guss, wobei die große Geschmeidigkeit und auch Taktsicherheit des gesamten Ensembles ausdrücklich zu loben ist. So auch bei (in der Premierenbesetzung): Giuliana Bottino, Julia Golitsina, Cécile Kaltenbach, Aeri Kim, Krasina Pavlova und Patricia Zhou. Die Herren, die hier eine womöglich noch größere Bandbreite zu zeigen haben, sind: Elvis Abazi (der diese Spielzeit von der Nachwuchstruppe des Bayerischen Staatsballetts kam), Alexander Abdukarimov, Alexander Akulov (der zuvor in Toulouse tanzte), Arshak Ghalumyan, Arman Grigoryan, Ty Gurfein, Dominic Hodal (der soeben Vater wurde, herzlichen Glückwunsch!), Olaf Kollmannsperger, Nikolay Korypaev, Seung Hyon Lee (aus Korea), Sacha Males, Kévin Pouzou und Wei Wang.

Gruppen-, Paar- und Soloszenen sind derart stimmig im Vortrag, dass man versucht ist, einzelnen Figuren im Stück Namen zu geben.

Und wenn dann eine Lichtrampe am Bühnengrund aufleuchtet, mit warmem Gelborange, und alle stehen davor, erwartungsvoll, dann ist das, als würden Furcht und Hoffnung sich so stark vermischen, dass sie fast unzertrennlich werden. Für traumatisierte Menschen ist das kein unbekannter Zustand.

"Herrumbre" ist ein Ballett über Folter, Guantanamo und Hoffnung.

Die Gruppe in „Herrumbre“ vor der gelborangenen Lichtrampe: Warten und Kraft sammeln? Hoffnung nur noch mit Furcht vermischt empfinden? Foto beim Staatsballett Berlin: Fernando Marcos

Am Ende ist aus der Gatterwand eine liegende Grabplatte geworden. So groß, wie sie ist, gilt sie hier soviel wie ein Mahnmal.

Ein Tänzer kommt herein, trägt eine rot leuchtende Kerze in den Händen, ähnlich einem „ewigen Licht“, und er stellt das Licht sachte auf der Grabplatte ab. Immer mehr Kerzen werden von den Tänzern langsam herein gebracht, bis sich zwei rot flammende Linien aus Kerzen an den Außenkanten der Grabplatte bilden.

So entsteht eine Rampe der Traurigkeit und der Wut, aber auch eine Chance, es besser zu machen.

Eine solche Performance wie dieses eindrückliche Schlussbild habe ich seit den 80ern nicht mehr gesehen – damals hatten Avantgardegruppen im Berliner Westen mitunter den Mut, sich mit scheinbar einfacher Symbolik über Konventionen hinweg zu setzen, ohne satirisch zu agieren. Da Symbole auf traditionellem Verständnis beruhen, ist das übrigens sehr schwer. Und in der mit Symbolik oft überfrachteten Hochkultur zudem ein großes Wagnis, das sich wirklich nur Könner wie Nacho Duato vornehmen sollten. Dann entstehen so anrührende Bilder wie dieses.

Ein letztes Mal übernimmt die Akustik: ein Sirren wie von Schüssen aus der Ferne ertönt, ein Dröhnen hebt an, wird lauter – und ganz langsam senkt sich der Vorhang.

Wer dieses Stück nicht sieht, verpasst eine der wesentlichsten Möglichkeiten, zeitgenössisches Ballett jenseits von Kitsch und Selbstreferenz zu erleben.

Gerade die Klassikfans sollten sich überwinden und ihren eigenen Sehgewohnheiten dieses Neuland anbieten. Denn es fügt sich vorzüglich in den Planeten „Ballett“, wenn man hochkarätige Moderne nicht erst fünfzig Jahre später kennen lernen will.

"Herrumbre" ist ein Ballett über Folter, Guantanamo und Hoffnung.

Der Berliner Ballettintendant Nacho Duato auf der Premierenfeier nach „Herrumbre“ am 14.2.2016 im Schiller Theater Berlin: Er denkt auch an die Zukunft! Foto: Gisela Sonnenburg

Auf der Premierenfeier wünschte Nacho Duato denn auch Kindern wie dem neugeborenen Tänzerkind von Dominic Hodal, dass sie eine weniger schreckliche Welt als die heutige erleben dürfen. Dafür, so der Berliner Ballettintendant, sollten alle ihr Teil tun.

Es ist typisch für Duato, nicht immer nur an sich zu denken. Endlich mal ein Mann und Künstler, der an die Zukunft denkt – und das eben auch in seinen Kunstwerken mit höchster Bedeutung zu formulieren vermag!
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

Und wie aus heiterem Himmel kam am 19. Februar 2016 die Nachricht, dass sich das Staatsballett Berlin mit der Stiftung Oper in Berlin geeinigt hat – und mit der von den TänzerInnen gewünschten Gewerkschaft ver.di ein Tarifvertrag für die BallettkünstlerInnen ausgehandelt wurde. Herzlichen Glückwunsch, liebes Staatsballett Berlin! Das Publikum freut sich denn auch gleich doppelt: einmal für die KünstlerInnen – und einmal für sich selbst, da nun wohl erstmal keine Vorstellungen mehr wegen Streik ausfallen werden. Hoch die Tassen! 

www.staatsballett-berlin.de

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