Auf dem falschen Dampfer Das Staatsballett Berlin bewirbt sich selbst auf einem Schiffsdeck: Ballett auf Kleinkind-Niveau ohne Corona-Schutzmaßnahmen

"From Berlin with Love II"

Auch der Berliner „Schwanensee“ ist wieder mit an Bord. Hier brilliert er mit vielen Tutu-Damen auf der Gala „From Berlin with Love II“ in der Staatsoper Unter den Linden. Foto: Yan Revazov

Es ist bunt, laut und bewegt sich. Ist das die neue Definition von Ballett in Berlin? Immerhin trifft die Beschreibung das neue Lieblingsprojekt der kommissarischen Intendanz vom Staatsballett Berlin (SBB), also von Christiane Theobald, die damit den gelegentlich von ihr beschrittenen Weg der sinnlosen Kommerzialisierung des SBB fortsetzt. Am Donnerstag, dem 10. Juni 21, tanzt das Staatsballett Berlin mitten im Fluss zwischen der Hansabrücke in Moabit und der Mühlendammschleuse in Berlin-Mitte auf einem fahrenden Vehikel. Zwischen 18 Uhr und 20.30 Uhr zeigt es solchermaßen unter dem deutsch verunstalteten Titel „From Berlin with Love auf der Spree“ Auszüge aus seinem Repertoire an Deck eines extra hierfür gemieteten Ausflugsdampfers. Das Publikum soll an den Ufern stehen – ohne besondere Corona-Schutzmaßnahmen. Was für eine Werbeaktion!

Unter lauter Beschallung unter anderem mit dem wummernden Synthi-Gedröhne des Techno-Balletts „Half Life“ werden die Berliner:innen an den Ufern solchermaßen mit Ballett belästigt. Hauptsache, man macht auf sich aufmerksam!

Kein Publikum ist mit an Bord, kein Livestream überträgt das Spektakel ins Internet.

Nur diejenigen, die sich dann zufällig oder gewollt gerade am Ufer befinden, können stehenbleiben, sich drängeln, ein paar Minuten gaffen. Oder auch weitergehen. Sie können sich den Hals ausrenken oder das Ganze ignorieren. Sie können weiter ihr Bier trinken oder sich Stöpsel in die Ohren stecken. Ohne Test und ohne Ticket.

Wäre es eine Veranstaltung im Park, müsste ab einer gewissen Menge Publikum eines der drei Gs (geimpft, getestet oder genesen) nachgewiesen werden. Beim pseudokulturellen Wildern im öffentlichen Raum gilt jedoch: Besondere Corona-Schutzmaßnahmen gibt es nicht.

Ist das schlau? Oder nicht eher gefährlich? Theoretisch wäre sogar mit einem Auflauf der Massen ohne Masken und Abstände zu rechnen, wäre Ballett denn für so viele Menschen spontan interessant. Ohne geordnete Plätze kann es aber auch mit wenig Zuschauenden schnell voll werden in der ersten Reihe am Ufer – und in der zweiten und dritten sieht man schon nichts mehr. Abstände kann man da nicht einhalten, wenn man nicht überfahren werden will.

Man muss darum wohl davon abraten, an dieser Veranstaltung teilzunehmen. Sie ist beim aktuellen Stand der Dinge nicht sicher im Sinne der Corona-Schutzmaßnahmen.

Darüberhinaus bietet sie kaum eine Möglichkeit, sich ernsthaft vom Tanz begeistern zu lassen. Denn das Schiff mit dem Ballett zieht zwar langsam, aber sicher vorbei.

Und ob man auch in der ersten Reihe überhaupt genügend sieht, um sich ein Bild zu machen, ist nicht gesagt. Ein Ausflugsdampfer ist schließlich keine Bühne. Wohl nur ein falscher Dampfer, in diesem Fall.

"From Berlin with Love IV"

Iana Balova surrt durch die Luft, schnell wie ein Pfeil, aber viel hübscher. So zu sehen in „Mare Crisium“ von Arshak Ghalumyan in der Gala „From Berlin with Love IV“ beim Staatsballett Berlin. Ob so ein  Sprung auf einem Schiffsdeck zur kunstsinnigen Wirkung kommt? Foto: Yan Revazov

Aber das arme Berlin, das nicht mal mehr sexy ist, ist so etwas ja gewohnt. Berliner:innen, lasst euch für solchen Unfug auch weiterhin das Steuergeld aus der Tasche ziehen! Lasst euch für ein paar Minuten mit staatlichem Ballett berieseln, dann habt ihr was von eurem Geld, das diese Truppe finanziert. So oder so ähnlich ist es wohl gedacht.

Oder ist der lustige Event mal wieder vor allem für die Tourist:innen als Zielgruppe gemacht? Damit die Geld- und Heilsbringer was zu gucken haben?

Kalle aus Klein-Kleckersdorf und Klein-Erna aus Pumpernickelstadt sollen dann daheim erzählen, was sie alles in Berlin gesehen haben: Tanz auf einem Schiff! Ist ja ein Ding. Ob das mit Kylie Minogue mithalten kann? Oder mit der Fußballtabelle der Aufsteiger? Ins Ballett werden diese Leute danach auch nicht wollen, denn da, wo ernsthaft Tanz präsentiert wird, geht es doch ganz anders ab. Nämlich viel zu anstrengend für die Masse der Touris, die sich lieber „vergnügen“ will statt stundenlang still zu sitzen und sich zu konzentrieren.

Ballett ist eine Utopie, und zwar eine gesellschaftskritische Utopie. Für dekorative Spaßmacherei ist es nicht wirklich geeignet. Das hat es bisher gerettet. Und heute? Muss man künftig auch im Ballett den Verstand an der Garderobe mit abgeben?

Nur für Kinder unter drei Jahren ist der Nicht-Vergnügungsdampfer vom Staatsballett Berlin vielleicht empfehlenswert. Denn, siehe oben: Es ist bunt, laut und bewegt sich. Ballett auf Kleinkind-Niveau, das dürfte auch Kultur- und Europasenator Klaus Lederer bewegen. Ist doch genau seine Kragenweite, oder?

Die Premiere "Celis / Eyal" war nicht auverkauft

Eine der wenigen individuellen Bewegungen im Stück: Das Staatsballett Berlin in „Half Life“ von Sharon Eyal und Gai Behar. Foto: Jubal Battisti

Ballett an ungewöhnlichen Orten soll eigentlich Menschen, die sonst vielleicht nicht ins Ballett gehen, mit der aufwändigsten aller Bühnenkünste auf angenehme und realistische Weise vertraut machen.

Da in diesem Fall das Tanzgeschehen vorbeizuckelt und man nur einen Teil des angebotenen Tanzes überhaupt erhaschen kann – wo ist da noch Kunstrezeption möglich?

Ballett als Zufallsbekanntschaft – das wäre eine Option. George Balanchine hat darauf gesetzt, als er in New York City Auszüge aus seinem „Schwanensee“ auf offener Straße zeigen ließ. Aber nicht als Kunstaktion. Sondern eiskalt als Werbung. Damals gab es noch kein Internet, und Fernsehen hatten auch noch nicht alle.

Heute sind die Ansprüche etwas gestiegen. Man müsste als Zuschauer:in im öffentlichen Raum den Tanz einigermaßen gut sehen können. Man müsste zudem möglichst gut vor einer Corona-Infektion geschützt sein.

Und man müsste vielleicht auch eine Chance haben, etwas über die gezeigten Stücke zu erfahren. Kunst hat, auch wenn das manchen ihrer Vermarkter:innen nicht passt, auch mit Wissen zu tun.

Auf dem Schiff vom Staatsballett Berlin zählt allein das Spektakel. Bitte alle mal mitsingen: Es ist bunt, laut und es bewegt sich. Also ist es Tanz.

So ist man auf dem falschen Dampfer.

Die Stücke, die da so verbraten werden, können einem schon jetzt Leid tun. Über den Status marktschreierischer Werbung werden sie, isoliert vom Kunstkontext auf dem stinkenden Kanal schippernd, wohl nicht hinauskommen.

Auch dann nicht, wenn Frau Dr. Theobald danach verkünden wird, dass sooooooo viele Menschen ihren supergroßen Superspaß mit dem Schiff hatten. Die möglicherweise dabei mit Corona Infizierten wird niemand zählen.

Die bedauernswerten Stücke und Choreografen sind zudem überwiegend identisch mit denen des aktuellen Gala-Programms vom SBB mit dem Titel „From Berlin with Love IV“, und die übrigen gab es auch schon besser zu sehen:

„Parliament“ von Johnny MacMillan, „Mare Crisium“ von Arshak Ghalumyan, „Duetto inoffensivo“ von Mauro Bigonzetti, Auszüge aus dem klassischen „Schwanensee“ von Patrice Bart, ferner eine Improvisation, die auf einer anderen Improvisation von Ksenia Ovsyanick beruht (sie hilft, selbst hochschwanger, beim Timing des neuen Stücks) sowie das in Christiane Theobalds Politik offenbar unvermeidliche, für echte Ballettfans schlicht grauenvoll einfallslose „Half Life“ von Sharon Eyal und Gai Behar.

Mit „Half Life“ triumphiert die Musikindustrie, die zunehmend die künstliche Intelligenz anstelle eines Orchesters propagiert.

Monotonie als Tanzprinzip, eine kleine Idee für ein ganzes Stück, Sport statt Kunst, Arbeit statt Leben: So kann man „Half Life“ zusammenfassen.

"Van Dijk/Eyal" muss man nicht sehen

Menschen, die vor lauter Arbeit untergehen oder auch im monotonen Zeitlupentanz vor sich hin dämmern: in „Half Life“ von Sharon Eyal mit dem Staatsballett Berlin. Wie das bei Tageslicht mitten im Wasser wirken wird? Neugierige sollten freiwillig und ohne Anordnung des Veranstalters vom Staatsballett Berlin eine Maske oder ein Visier tragen. Foto: Jubal Battisti

Im Grunde passt das aber ganz vorzüglich zu dieser zynischen Darbietungsweise von Ballett als kostenlosem Outdoor-Zirkus mit möglichst wenig Möglichkeiten zur Bildung.

Glotz-Theater. Voyeurismus pur. Oder sogar schon Verblödung?

Und sollte man den Ausflugsdampfer versehentlich für eine fahrende Kulturmüllhalde halten, liegt man womöglich gar nicht mal daneben. Das Staatsballett Berlin verkommt zur selbstdarstellerischen Spaßtruppe, der Sinn zunehmend zuwider wird.

Ich würde als Tänzer:in bei so etwas streiken. Aber das SBB macht für Geld so ziemlich alles.

Ein Konzept des Programms ist denn auch mitnichten erkennbar. Höchstens dieses: Eine Tüte Buntes bitte, aber schön laut!

Die Anwohner:innen können einem Leid tun, wie das Staatsballett Berlin (SBB) im übrigen auch. Das Ganze ist so ziemlich das Gegenteil von den Hofkonzerten, die die Staatskapelle Berlin letztes Jahr im Sommer so liebevoll wie erfolgreich absolvierten.

Für solch eine Aktion hat es beim SBB mal wieder nicht gereicht.

Aber vielleicht regnet es ja auch und die Chose mit dem Schiff fällt ins Wasser. Eigentlich wäre das für alle das Beste.
Gisela Sonnenburg

Rezensionen dazu:

Hofkonzerte der Staatskapelle Berlin: http://ballett-journal.de/staatskapelle-berlin-hofkonzerte-corona-2020/

„Half Life“: http://ballett-journal.de/staatsballett-berlin-van-dijk-eyal/

„From Berlin with Love IV”: http://ballett-journal.de/staatsballett-berlin-from-berlin-with-love-iv/

www.staatsballett-berlin.de

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