Wenn alles in der Schwebe ist „Arcangelo“, „Herman Schmerman“, „And The Sky On That Cloudy Old Day“ – das Staatsballett Berlin tanzt die hohe Moderne

Schweben ist ein Glücksgefühl.

Ein erstrebenswerter emotionaler Schwebezustand, der sich auf das Publikum übertragen kann: Das Staatsballett Berlin beim Applaus für „Arcangelo“ von Nacho Duato, in der Vorstellung vom 23.4.15 im Schiller Theater in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Das Staatsballett Berlin befindet sich in einem Schwebezustand. Sein Publikum auch. Wann wird getanzt, wann gestreikt? Wann werden endlich die wichtigen Verhandlungen aufgenommen? Gestern fand eine Vorstellung von „Duato / Forsythe / Goecke“ statt, nachdem die erste dieses Aufführungsblocks wegen des Streiks ausgefallen war. Es war eine wundervolle Vorführung, und sie versetzte sowohl das Staatsballett als auch das Publikum aus anderen Gründen als aus Unsicherheit in einen Schwebezustand.

„Arcangelo“ von Nacho Duato ist ein Stück für vier Paare, die hungrig auf ein Leben in Harmonie sind. Wie diese zu zweit, zeitweise auch zu dritt oder zu viert, über das gewöhnliche Maß an Synchronizität hinaus erreicht werden kann, zelebrieren die Tänzerinnen und Tänzer in elastisch-eleganten, anmutigen, dennoch kraftvollen bewegten Posen.

„Ruhe in Bewegung ist Leben, Ruhe in Ruhe der Tod“, das ist als buddhistische Weisheit überliefert. Anastasia Kurkova und Dominic Hodal verkörpern genau diese Gratwanderung an Souveränität und Suche nach neuen Wegen. Ein faszinierendes Paar, das von der hehren Standfestigkeit und muskulösen Beweglichkeit des Amerikaners Hodal lebt.

Aber auch die anderen drei Paare berücken mit diesem Flair der Choreografie, das sie verinnerlicht haben wie eine Lebensart: Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin leben vom großen Gegensatz des weiblichen und männlichen Elements – sie ist besonders geschmeidig, weich und anmutig, er besonders zuverlässig, stark und klar.

Beatrice Knop und Michael Banzhaf haben miteinander eine Zartheit entwickelt, die selten ist: Sogar, wenn er sie über den Boden schleift, scheint es ein Akt der Freundlichkeit zu sein. An der Ernsthaftigkeit des Bühnengeschehens lässt das Tanzpaar jedoch keine Zweifel aufkommen; hier ist nichts lächerlich oder zu belächeln, und auch Hektik oder Unruhe sind den beiden fern. Das muss auch so sein – die Choreografien von Nacho Duato leben von einem steten Energiestrom, den sie wiederspiegeln, und für unentschiedenes Gezappel wäre hier überhaupt kein Platz.

WIE IN PLATONS „SYMPOSION“

Krasina Pavlova und Arshak Ghalumyan bilden zudem eine Symbiose, eine Einheit, fast könnte man meinen, sie wären einst dieses Wunderwesen aus Platons „Symposion“ gewesen. Der Legende aus der Antike nach verhält es sich ja so: Bevor Zeus die Menschen aus Wut und Neid in Männlein und Weiblein teilte – die fortan ihr passendes Gegenstück suchen müssen – waren sie perfekte zweigeschlechtliche Wesen, also ein Körper mit zwei Seelen.

So innig und doch eigenständig tanzen Pavlova und Ghalumyan miteinander. Mit pointierten, voll ausgeformten Linien. Am Ende schweben die beiden an einer aus dem Schnürboden herab gelassenen Stoffbahn, eingewickelt und verwoben in dieses Schicksalstuch, reglos – mit dem Nimbus von Ewigkeit.

In einen Schwebezustand der Verzückung und Entrückung versetzt das auch die Zuschauer: Irgendwie erzeugt „Arcangelo“, nach den barock-ebenmäßigen Klängen von Arcangelo Corelli und Alessandro Scarlatti, das endzeitliche Gefühl von Glück ohne Erwartung. Ein sehr erstrebenswerter Zustand!

Schweben ist ein Glücksgefühl.

Dinu Tamazlacaru im komplementären Schwarzgelb-Ambiente von „Bill“ Forsythes „Herman Schmerman“: ein moderner Klassiker ist dieses zweiteilige Stück von 1992, und Tamazlacaru passt hier seine klassisch-virtuose Technik eines Primoballerinos perfekt dem Spirit der modernen Teamfähigkeit an. Foto: Gisela Sonnenburg

Stimmungswechsel. Es ist fast ein harter Bruch: „Herman Scherman“ von William Forsythe mit einem blitzschnellen, erfrischend verwirrenden, fünfköpfigen, aber solistisch agierenden Corps, setzt ganz auf das Furiose, Virtuose, Brillante. Zack, zack, zack, das ist moderne Gruppendynamik: Weronika Frodyma (elegant), Mari Kawanishi (sinnlich), Sarah Mestrovic (lasziv), Alexander Shpak (neuerdings zielbewusst) und Dinu Tamazlacaru (spritzig) verleihen ihren Figuren jeweils etwas faszinierend Persönliches.

Der an die Corps-Szene anschließende, ironisch-witzige Pas-de-deux, grazil von Elena Pris und fast beiläufig, dennoch mit viel Power von Federico Spallitta dargeboten, steht für eine weniger zeitlose, dafür vielmehr gegenwärtige Art des Beziehungsknüpfens. In der Interpretation von Pris und Spalitta erhält er sogar einen Unterton von Seriosität!

Nur die bananengelben Röckchen der beiden flattern verwegen, aber die virtuos-zackigen Beinspreizungen berücken. Der Mann ist hier mal Macker, mal aber auch Mädchen, während seine Dame all seine chamäleonsähnlichen Wechsel geduldig und fast genießerisch erträgt, wie man eben die Launen einer männlichen Diva erduldet. Dafür sprühen ganz unvorbereitet und unmittelbar immer mal wieder die Funken zwischen ihnen!

Schweben ist ein Glücksgefühl.

Ein Paar von heute: bananengelbe Röckchen verbinden… Elena Pris und Federico Spallitta vom Staatsballett Berlin beim Applaus nach „Herman Scherman“ von „Bill“ Forsythe im Schiller Theater in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Am Ende nimmt er sie in Besitz, lässt sie zwischen seinen Händen schier endlos pirouettieren – aber vorerst bleibt, so scheint es, was die Mann-Frau-Rollen angeht, noch alles beim alten. Einen Schwebezustand beschwört Forsythes Werk erst herauf, wenn man darüber nachdenkt: Wie modern oder auch wie wenig modern sind wir eigentlich wirklich?

Entschieden futuristisch hingegen wirkt Marco Goeckes „And The Sky On That Cloudy Old Day“. Der Himmel mit den alten Wolken aus dem Titel entpuppt sich als Metapher für eine cineastische Vorstellung, die an „1984“ angelehnt sein könnte. Arbeit, Arbeit, Arbeit ist alles, was der Mensch hier zu leisten hat – der Terror der Produktivität drückt sich in fortlaufenden, minimalistisch komponierten, zackig-eckigen Fließband-Handbewegungen aus. Eingeflochten sind nervöse Zappeleien – vom Handgebibber bis zum Schulterzucken, vom Fingerwedeln bis zum Rumpfbeugen.

In dieser apokalyptischen Vision einer Arbeitswelt ohne Freiheit ist nahezu alles zum Fließband geworden: auch private Gesten werden mechanisiert, der Automatismus triumphiert über die Menschlichkeit, es herrscht Entseelung vor – zu pompös donnernden Synthi-Klängen von John Adams wirken die bescheiden-versachlichenden Bewegungen ohne Sprünge, dafür in vielen Steh-Positionen, mitunter nachgerade puristisch.

Schweben ist ein Glücksgefühl.

Futuristische Entseelung liegt hinter ihnen: Die Tänzerinnen und Tänzer vom Staatsballett Berlin nach Marco Goeckes „And The Sky On That Cloudy Old Day“ am 23.4.2015 im Schiller Theater Berlin. Foro: Gisela Sonnenburg

Aber dann! Am Ende, als man es fast nicht mehr glauben will, durchbricht die Sympathie das Band der Einzwängung in Arbeitsabläufe – und es findet eine eigenständige Bewegung statt, eine Geste der Zuneigung und Besänftigung, ein Abbrechen der ratternden Roboterhaftigkeit. Und zwei Jungs umarmen sich. Mensch sein heißt hier: Sich aufeinander einlassen statt sich immerzu weiter anzutreiben.

Besonders Marian Walter besticht hier mit ausgefeilter Präzision – wie aus einer Werkstatt für neuartige Bewegungen. Aber auch Soraya Bruno, Elisa Carrillo Cabrera, Sebnem Gülseker, Mikhail Kaniskin, Alexander Shpak, Dinu Tamazlacaru, Xenia Wiest und Mehmet Yümek schildern anschaulich den Kampf des Menschen gegen seine Aufgaben, die ihm mitunter abgetrotzt werden, wiewohl sie ihm so wesensfremd sind.

Es ist ja richtig: Wenn die Industrialisierung alle Lebensbereiche erfasst, geht das Menschliche zu Grunde – hier ist das einmal an beredten Körpern abzulesen statt an Studien über die Umweltzerstörung. Insofern umfasst ein gewisser Schwebezustand nicht nur das Staatsballett im zeitweisen Streik, sondern auch den ganzen Planeten.
Gisela Sonnenburg

Und bitte lesen Sie auch: www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-dreiteiler/

Nachtrag: Wegen des Streiks der Tänzerschaft fällt die Vorstellung am 25.4.15 aus – die oben beschriebene war leider vorerst die letzte dieses Programms… 

www.staatsballett-berlin.de

ballett journal