All die ungestellten Fragen Lauren Cuthbertson und Vadim Muntagirov brillieren im "Größten Schwanensee der Welt" im Theater am Potsdamer Platz in Berlin

Der größte Schwanensee der Welt kommt nach Berlin

Diese vielen schönen Schwäne gibt es nur hier zu sehen: in „Der größte Schwanensee der Welt“, nur noch heute am Theater am Potsdamer Platz in Berlin. Foto: Stardust Theatre

Die Melodie von Peter I. Tschaikowskys Schwanenmotiv in h-Moll ist weltbekannt. Auch ihr Ursprung, nämlich die Arie „Nie sollst du mich befragen“ des Titelhelden der Oper „Lohengrin“ von Richard Wagner, ist so bekannt. Aber nur die wenigsten Zuschauer sind sich dessen bewusst, dass hier eine Verbindung besteht. Tschaikowsky kannte und verehrte Wagner, und seine Abwandlung einer berühmten Melodie seines Kollegen bedeutet hier nicht nur eine Hommage, sondern auch eine inhaltliche Brücke: sozusagen von der einen märchenhaften Schwanenwelt zur anderen mythischen Schwanenwelt. Denn Lohengrin ist ja der Ritter, der mit dem Schwan zu den Menschen kommt. Ebenfalls verbinden sich zwei traumhafte und schwanaffine Universen, wenn Lauren Cuthbertson und ihr Bühnenpartner Vadim Muntagirov vom Royal Ballet aus London zu Gast beim Shanghai Ballett sind, um gemeinsam den „Größten Schwanensee der Welt“ in der Choreografie von Derek Deane zu zelebrieren. In Berlin, im Theater am Potsdamer Platz, verströmte  das ein atemberaubendes Starlight. Das war ganz großes Weltballett: Cuthbertson und Muntagirov zählen nicht umsonst zu den umschwärmten Fixsternen des Balletts. Echte Weltklasse!

Fangen wir bei ihr an.

Der größte Schwanensee der Welt mit Londoner Stars

Elegant, hoch gewachsen, langbeinig, bildschön: Lauren Cuthbertson vom Royal Ballet, hier als „Sugar Plum Fairy“ in „The Sleeping Beauty“ („Dornröschen“) in London zu sehen, brilliert auch als weißer und schwarzer Schwan. Das war eine wunderbare Gelegenheit, diesen Fixstern des Balletts der Weltklasse in Berlin zu erleben! Foto: Royal Ballet

Lauren Cuthbertson ist fraglos eine der elegantesten Primaballerinen der Welt. Sie ist rank und schlank, wirkt mit ihren langen Beinen hoch gewachsen, und ihre Beweglichkeit scheint Teil ihrer starken, klaren Persönlichkeit.

Ihre Odette ist einmalig stolz und demütig zugleich, voller Neigung zum Guten und ohne Entgleisung ins allzu Kühle oder Entmenschlichte. Der weiße Schwan der Lauren Cuthbertson liebt von Grund auf und aus tiefster Seele: erst nur das Leben, die Liebe, schließlich den Mann, Prinz Siegfried, der zunächst als Jäger in ihrem Refugium erscheint und sich dann als edelmütig und emotional empfangsbereit herausstellt.

Vadim Muntagirov spielt und tanzt den Siegfried mit nobler, aber auch entschlossener Miene. Er ist kein vor Melancholie förmlich zerfließender, weichherziger Softie. Zielstrebig sucht er etwas, das seine Sehnsucht nach Veränderung nährt. Er findet seinen weißen Schwan – und ist so angetan, so verknallt, so voller Bewunderung sowohl für die äußere Erscheinung als auch für das schwere Schicksal seiner Angebeteten, dass er jedes Hemmnis in Kauf nimmt.

Der größte Schwanensee der Welt mit Londoner Stars

Vadim Muntagirov tanzt seit 2014 am Royal Ballet in London die großen männlichen Partien – wie hier auf dem Bild den Albrecht in Peter Wrights klassisch inszenierter „Giselle“. Ihn als Siegfried im „größten Schwanensee der Welt“ mit Lauren Cuthbertson zu sehen, gehört zu den Sternstunden des Balletts überhaupt! Foto: Royal Ballet

Wenn Lauren und Muntagirov hier erstmals aufeinander treffen, dann ist da eine Magie im Spiel, die einen spüren lässt, wie grundlegend Dinge wie Verliebtheit, Faszination, Passion im menschlichen Wesen angelegt sind, wie sehr sie uns prägen und unser Handeln steuern.

Die Gegensätze, die sich hier anziehen, benötigen einander. Mann und Frau in Vollendung!

Odette aber ist verzaubert, vom bösen Magier Rotbart, der den Schwanensee beherrscht und damit auch all die jungen Damen, die er zu Wasservögeln machte. Sie können nur erlöst werden, wenn ihre Anführerin, Odette, die Schwanenkönigin, von einem Mann geliebt und geehelicht wird, ohne dass er jemals eine andere Frau begehrt.

Siegfried nimmt den Kampf mit dem Bösen auf – und verliert, noch bevor er das überhaupt bemerkt.

Er ist zu leicht verführbar, zu naiv, um nicht auf die Tricks von Rotbart hereinzufallen. Dieser erschafft mit dem schwarzen Schwan Odile ein Abbild der weißen Schwanenkönigin – und Odile, hinter deren Fassade sich die Tochter Rotbarts verbirgt, vermag es mit virtuoser Koketterie, Siegfried vorzugaukeln, sie sei Odette.

Siegfried verlobt sich mit ihr – und er erkennt erst an der hämischen Schadenfreude Rotbarts, der ihm zudem noch die leidende Odette als telepathische Vision zeigt, dass er auf einen Betrug hereinfiel.

Die Höhepunkte dieser tragischen Liebesgeschichte sind zwei Pas de deux von Siegfried: mit Odette am See und mit Odile am Königshof.

Ersterer ist ein Adagio, lyrisch und erhaben, poetisch und zart, letzterer ein Allegro vivace: spritzig, festlich, auftrumpfend und dynamisch.

Beide Seiten kennt die Liebe, aber nur eine Seite dieser Medaille ist hier echt.

Am Ende sind die wahrhaft Liebenden dennoch vereint, um den Preis des irdischen Lebens allerdings.

Kann ein Märchen deutlicher spirituell und doch erotisch sein?

Lauren Cuthbertson, die seit 2006 Erste Solistin und seit 2008 Principal beim Royal Ballet in London ist, die als gebürtige Engländerin die Royal Ballet School besuchte, eine Silbermedaille in Varna holte und seit 2002 in jener Company tanzt, die ihr von jeher eine künstlerische Heimstatt bot, lässt keinen Zweifel daran, dass gerade die Verbindung verschiedener Welten sozusagen das Kerngeschäft des klassischen Balletts ist.

Vadim Muntagirov wiederum, der im russischen Perm und in London in der Royal Ballet School ausgebildet wurde – dank seines beim Prix de Lausanne errungenen Stipendiums – tanzte zunächst unter dem ihn besonders fördernden Derek Deane beim English National Ballet, bevor er zur direkten Konkurrenz, dem Royal Ballet, wechselte. Dort sorgt er seit 2014 als Principal für Jubelstürme.

Sie haben schon oft gemeinsam getanzt, diese beiden Stars, und als eingespieltes Team gelang ihnen auch die Kooperation mit den 48 Schwänen sowie den weiteren Kolleginnen und Kollegen vom Shanghai Ballett vorzüglich.

Choreograf Deane konnte stolz beobachten, wie die beiden Koryphäen aus London mit dem chinesischen Ensemble harmonieren.

Die gänsehauttreibenden Momente – vor allem die beiden großen Pas de deux – aber gehörten den beiden Superstars.

Nach der Vorstellung gaben Lauren und Vadim am Bühnenausgang übrigens freundlich Autogramme. Ballettfans aus Berlin und Brandenburg, die diese Gelegenheit verpassten, sind nicht zu beneiden.

Und während Lohengrin seiner Geliebten Elsa nur abverlangt, sie solle ihn niemals nach seiner Herkunft befragen, verschweigt der „Schwanensee“ – auch der größte der Welt – eine ganze Vielzahl von doch wichtigen und offenkundig drängenden Fragen. Jede Aufführung, erst recht der „größte Schwanensee der Welt“ macht Lust darauf, sie zu stellen, zu formulieren und zu diskutieren.

Warum bringt Rotbart junge Frauen in seine Gewal, um sie in Schwäne zu verzaubern? Welche Art von Sklaverei betreibt er denn eigentlich? Auf welche Art von Macht ist er aus?

Und warum ist Siegfried so naiv, auf Odile ohne viel Federlesens hereinzufallen? Schließlich ist schon allein ihr Auftauchen in Begleitung von Rotbart auf dem Ball suspekt. Glaubt Siegfried, er hat durch sein liebendes Gefühl sozusagen im Schlaf gegen das Böse gewonnen und Odette befreit? Hält er es tatsächlich für möglich, dass der fiese Peiniger seiner Geliebten mal eben ihr freundlicher Beschützer wird? Macht ihn die Liebe blind – und anfällig für solche Intrigen? Oder ist er so weltfremd, so unerfahren, so sehr vertrauensselig in Odette, dass er ihr den Frieden mit Rotbart zutraut?

Der größte Schwanensee der Welt kommt nach Berlin

Die 48 schönen Schwäne von Derek Deane tanzen Herzen zur Musik von Peter I. Tschaikowsky – einmalig in der Geschichte des „Schwanensee“. Foto: Stardust Theatre

Aber warum gibt es in der Welt des Zaubers hier nur die schwarze Magie in Person – und keine gute Fee oder dergleichen, die sich mit dem teuflischen Rotbart um die Vorherrschaft streitet?

Weil es die Liebe als in letzter Instanz alles besiegende Kraft gibt.

Allein die Liebe braucht keine weitere Erklärung. Sie lebt und stirbt und lebt und stirbt und lebt sozusagen von Natur aus immer weiter… Trotz aller Stürme und Katastrophen, solange es Lebewesen gibt.
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg

„Der größe Schwanensee der Welt“ ist nur noch heute im Theater am Potsdamer Platz zu sehen! Es gibt noch Tickets in allen Preisklassen! Auch der Ritt zur Abendkasse lohnt sich!

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