Vergeben und vergessen Melissa Hamilton kehrte zum Londoner Royal Ballet zurück – und das Semperoper Ballett bereitet ohne sie den neuen Dreiteiler „Vergessenes Land“ vor

Dresden tanzt ohne Melissa in Vergessenes Land

Sie bereitet sich für eine „Schwanensee“-Premiere in Polen vor: Weltstar Melissa Hamilton verließ Dresden und hat ihren Ruhepol wieder in London, ohne dort angefesselt zu sein. So zu sehen auf Facebook, wo sie glücklich von ihrer Gastarbeit in Polen berichtet. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Sie tanzte mit Roberto Bolle auf dessen Galas – und gab ein bejubeltes Gastspiel in ihrer alten künstlerischen Heimat London. Das weckte in ihr wohl das Heimweh – nach ausverkauftem Haus, großem Metropolenflair und glanzvollen Abenden im Covent Garden: Melissa Hamilton, die wahrscheinlich weltbeste Besetzung überhaupt für Kenneth MacMillans „Manon“, kehrt zurück zu ihrer langjährigen Londoner Heimstatt, dem Royal Ballet. Sie verließ somit Dresden und sein Semperoper Ballett mit fliegenden Fahnen. Etwas überstürzt wirkte diese Abreise, aber daran mögen auch vertragsrechtliche Folgen einer solchen unvorhergesehenen Trennung schuld sein. Demnächst tanzt Melissa sogar als Gast beim Polnischen Nationalballett in Warschau – in einem neuen „Schwanensee“, der am 20. Mai 2017 dort premiert. In Dresden bereitet man sich derweil ohne den Glanz der berühmten Primaballerina auf die Premiere einer Triple Bill vor, die ebenfalls am 20. Mai 2017 angesagt ist: „Vergessenes Land“ eint den (beim Bayerischen Staat in München soeben abgespielten) Neoklassiker „Symphony in C“ von George Balanchine mit dem Titelspender von Jiří Kylián und dem wehmütig-virtuosen „Quintett“ von William Forsythe.

Dass Melissa Hamilton eine so schnell nicht zu schließende Lücke in Dresden hinterlässt, ist sicher unbestritten. Dass sie beim Semperoper Ballett in den knapp zwei Jahren ihres Wirkens chronisch unterfordert war, deutet jedoch darauf hin, dass ihr Abgang nicht so einfach vom Himmel fiel, sondern sie lediglich längere Zeit nach einem Auslöser suchte. So hatte sie in London ja auch nie gekündigt, sondern ihren Vertrag nur ruhen lassen.

Dresden tanzt ohne Melissa in Vergessenes Land

Diese Zeiten sind vorbei: Melissa Hamilton mit Aaron S. Watkin in bestem Einvernehmen im November 2015 in der Semperoper. Foto: Gisela Sonnenburg

In Dresden strahlte Melissa Hamilton wie ein Komet. In London ist sie allerdings eine von mehreren weltbekannten Superballerinen.

Und wenn man dort eine Assoluta suchen wollte, würde man vielleicht eher auf Sarah Lamb oder Marianela Nunez tippen.

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Nichtsdestotrotz ist der Spielplan des Royal Ballet insgesamt nicht mit dem vom Semperoper Ballett zu vergleichen, Dresden ist dagegen selbstredend ballettöse Provinz.

Jiří Bubeníček hatte Melissa für seinen letzten Tanz als klassischer Ballerino im November 2015 nach Dresden geholt – sie hatten mit „Manon“ überbordenden Erfolg (www.ballett-journal.de/semperoper-ballett-manon-premiere/ ). Melissa hatte sich dann später für eine feste Anbindung an Dresden entschieden.

Seit dem Bühnenabschied von Bubeníček leidet das Semperoper Ballett allerdings an drastischem Qualitätsschwund.

Und auch, wenn es personelle Veränderungen immer mal wieder in Ballettcompagnien geben muss: So rasch, wie jetzt Melissas Abgang erfolgte, ein Vierteljahr vor Saisonende – das ist gerade für einen Star doch sehr unüblich.

Mit Dmitry Semionov und Sangeun Lee als Solopaar vorn erstrahlt die „Symphony in C“ beim Semperoper Ballett. Foto: Ian Whalen

Nun ist die Schöne mit den hochkarätigen Füßen und der unnachahmlich erotischen Zartheit im Bewegungsfluss weg – und Ballettdirektor Aaron S. Watkin muss zusehen, wie er seinem Publikum etwas nicht Alltägliches anbieten kann.

Die Hoffnung, dass nun die frühere Dresdner Primaballerina Elena Vostrotina zumindest als regelmäßige Gasttänzerin wieder nach Dresden zurück kommt, lässt sich da längerfristig sicherlich beschwören. Gehört hat man aber noch nichts Konkretes.

Kurzfristig heißt es darum nun in Dresden: Auf in einen neuen Dreiteiler!

Vergessenes Land“ heißt er – und spannt den choreografischen Bogen von der Neoklassik Balanchines über die Kyliàn-Ästhetik bis zu einer ungewöhnlichen Arbeit von William Forsythe.

Mit der „Symphony in C“, der „Sinfonie in C“, von George Balanchine gibt Watkin nun immerhin mal wieder einem größeren Teil seiner Solisten und seines Ensembles Gelegenheit zum eindrucksvollen Auftritt. Watkin unterhält ja rund 80 sehr gut ausgebildete und auch gut trainierte Kräfte in seiner Company – nur haben diese allzu selten die Gelegenheit zu zeigen, was sie können.

Da sollten an diesem Abend endlich einmal alle Rohre aufgedreht werden!

„Symphony in C“ von George Balanchine beim Semperoper Ballett: Brillanz ist Trumpf. Foto: Ian Whalen

Präzision, Sprungkraft, Schnelligkeit – alles, was das Semperoper Ballett in Hülle und Fülle mit Tänzerinnen und Tänzern zu bieten hat, macht hier in knallweißen Tutus mit Diadem (bei den Damen) und glitzerndem Diamantschwarz (bei den Herren) viel her.

Wer diese sichere Sache, um das Ballettpublikum zu begeistern, in München verpasste oder wer einen Vergleich sehen möchte, kann hier wohl seine Lust finden.

Ich zitiere das Ballett-Journal, also mich selbst, vom 21.12.2015:

„ ‚Kristallpalast’ (‚Palais de Cristal’) – so nannte Meisterchoreograf George Balanchine ursprünglich sein 1947 in Paris entstandenes Ballett ‚Sinfonie in C’ (‚Symphony in C’).

Und oh ja, das weiße Glitzern ist hierin allgegenwärtig.

In klassischen weißen Tellertutus mit Strass tanzt darin symbolisch das ewig Reine, Schöne, Erhabene.

Dresden tanzt ohne Melissa in Vergessenes Land

Die „Symphony in C“ hieß zunächst „Krsitallpalast“ („Palais de Cristal'“) – und Facebook zeigt das Team der Uraufführung, das noch etwas verspieltere Kostüme trägt. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Das scheint aus Balanchines Sicht schon die Musik so zu verlangen: In vier Sätzen hatte 1855 der damals erst 17-jährige Komponist Georges Bizet seine erste und einzige Sinfonie geschaffen, in C-Dur – und sie strotzt nur so vor liebreizender Zuversicht und hoffnungsvollem Drängen, vor temperamentvollen Rückgriffen auf den Rokkoko und vor sehnsuchtsvollen Bezügen zu den zeitgenössischen Romantikern. Mondlicht auf schimmernder weißer weiter Flur…“

Näheres zum Stück von Balanchine findet sich hier: www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-balanchine-robbins-barton/.

Zudem zeigt Watkin somit in Dresden sozusagen die Grundlage der modernen Ballettkunst, denn Balanchine gilt als Vater der Neoklassik und hat vor allem durch sein stilistisches Wirken bis heute eine stetig einflussreiche Position in der Ballettgeschichte, auf die Lehre der Ballettpraxis vielleicht noch mehr als auf neue Choreografien.

Jedenfalls ist seine „Sympony in C“ eine nahezu sichere Sache, um zu begeistern, wenn sie akkurat und temperamentvoll getanzt wird.

Diesem feurigen Auftakt folgt beim Semperoper Ballett ein moderner Klassiker: „Forgotten Land“, hier, wie bei der Uraufführung in Stuttgart eingedeutscht und „Vergessenes Land“ genannt, ist eines jener Stücke, die den Meisterchoreografen Jiří Kylián (siehe auch hier: www.ballett-journal.de/koerperfetischismus-leicht-gemacht/) zu den Unvergessenen macht.

Elegisch und elegant: Svetlana Gileva und Gareth Haw in „Vergessenes Land“ beim Semperoper Ballett. Foto: Ian Whalen

1981 für das Stuttgarter Ballett choreografiert – und insofern ein Stück aus der dortigen Ära unter Marcia Haydée – strotzt „Vergessenes Land“ nur so vor rätselhafter Melancholie und einer durchgängigen Lebenslust trotz Sehnsucht nach Veränderung.

Farben stehen hier für Temperament und Stimmung einzelner Paartänze und Tänzerpaare – und sie spiegeln sich auch in den Kostümen:

Weiß für die unschuldige Zeit eines Liebesbeginns; Rot für die feurige Leidenschaft, wenn Liebe erblüht; Pink für die speziellen Abende mit vielen schnellen Flirtmomenten.

Schwarz steht schließlich für das Paar, das gemeinsam ein schweres Kreuz zu ertragen hat; Grau schließlich für die Bündelung all dessen zu einem Bogen der Erinnerung.

Ein Liebeszyklus, der die sexuelle Entwicklung von Erwachsenen in Paarbindungen spiegelt, ist entstanden.

Die Vergänglichkeit allen Vergnügens, allen Liebens, ist mit der Rückschau impliziert.

Sangeun Lee und Casey Ouzounis tanzen das Paar in Weiß in „Vergessenes Land“ von Jiri Kyliàn beim Semperoper Ballett. Foto: Ian Whalen

Die Musik dazu, Benjamin Brittens „Sinfonia da Requiem“, ist zwar mächtig und pompös, aber keineswegs dazu angetan, irrige Hoffnungen auf außereheliche Beziehungen oder sonst ein Entrinnen der Zweisamkeit zu schüren.

Musikalisch versinkt das Leben bei Britten sogar im modern trauernden Dauerpathos, mit Pauken und ohne Trompeten.

Der Titel des Balletts, „Vergessenes Land“ („Forgotten Land“), referiert derweil auf eine Metapher, die in vielen Sprachkreisen virulent ist.

Das vergessene Land ist meistens jenes, in dem die Zeit keine Rolle zu spielen scheint, ja an dem sie scheins spurlos vorbei ging. Dem vergessenen Land wird normalerweise keine Aufmerksamkeit geschenkt.

So sieht Kyliàn hier die Beziehungen der Menschen zu einander: Die Entdeckung des „vergessenen Landes“ bedeutet, Beziehungen, auf die sonst keiner achtet, weil ihr Programm quasi automatisch abgespult wird, unters Mikroskop zu nehmen und tänzerisch exakt auszuleuchten. Mit jeder Hebung entsteht so ein neues Splitterteil im Kaleidoskop des Liebens.

Ob aber die Titulierung des Gesamtabends mit diesem Stücktitel eine verbitterte Anspielung auf das von der Touristenindustrie – wegen der unappetitlichen Pegida-Bewegung – spürbar ins Abseits gestellte Dresden ist?

Die muntere, barocke sächsische Kulturstadt als vom Zeitgeist ganz „Vergessenes Land“, das es lohnen sollte, neu entdeckt zu werden?

Dieser Ballettabend wird das allein aber kaum schaffen.

Denn auch das dritte Stück schwebt zwar zwischen Melancholie und Erhabenheit, ist aber keineswegs geeignet, den Abend mit frischer Tatkraft oder großer Hoffnung zu beschließen.

Und: Nichts hier ist neu, weder Nummer eins noch Nummer zwei noch Nummer drei. Da hätte dann wenigstens die Zusammenstellung der drei Arbeiten eine Novität mit originellem Gehalt sein müssen. Aber auch das ist nicht der Fall…

Was indes nicht heißt, die Stücke als Stücke, also einzeln und für sich betrachtet, seien uninteressant.

Die Werkgeschichte des Abschlussstücks ist an sich schon berührend.

„Quintett“ ist ein ungewöhnliches Stück, um von seiner sterbenden Ehefrau Abschied zu nehmen. Courtney Richardson tanzt es hier mit Francesco Pio-Ricci beim Semperoper Ballett. Foto: Ian Whalen

Quintett“ von William Forsythe entstand, während die Ehefrau des Choreografen todkrank mit dem Leben rang und den Kampf schließlich verlor. Die Uraufführung 1993 erlebte sie nicht mehr.

Dennoch ist das Stück kein vordergründiges Abschiednehmen oder gar eine Art getanzter Witwergesang.

Vielmehr fasst Forsythe das zusammen, was ihn mit seiner geliebten Gattin verbunden hat. Da ist viel Raum für positive Gefühle, für ein erquickendes Miteinander, auch für ein lebhaftes Kommen und Gehen von Emotionen.

Typisch für Forsythe sind skurrile, technisch virtuose Posen und Kombinationen wie auch das autistisch aneinander vorbei laufende Gefüge der tanzenden Personen, dann aber auch wieder ihre innig miteinander verbundene gesellschaftliche Organisation auf der Bühne.

Vor dem Hintergrund des Todes einer geliebten Person hat all dies dennoch einen beklemmenden Beigeschmack – und die Musik von Gavin Bryars ist, wie schon Brittens Klangwerk, alles andere als leicht und bekömmlich, sondern eher schwermütig und fast zynisch.

Jesus’ Blood never failed me yet“ („Jesu Blut hat mich noch nie enttäuscht“) wird da von einer zittrig-fisteligen, resignierend-fügsamen Altmännerstimme gesungen. Eine nostalgische Anmutung ist neben der religiösen Konnotation durchaus auch erwünscht. Es ist nämlich ein anonymer Obdachloser, der da singenderweise von sich erzählt. Bryars hat seine Streicher auf diesen todtraurigen Singsang gelegt.

Das ist sicher eine sehr ungewöhnliche Ode an eine gehende große Liebe!

Man kann choreografisch denn auch vieles darin nachvollziehen.

Die Einsamkeit, die eintritt, wenn der Andere sich in das Reich der Krankheit verabschieden muss. Die Isolation und Leere, die man fühlt, gerade weil der Andere noch da ist, aber nicht mehr er selbst zu sein scheint. Schließlich die Angst vor dem völligen Verlassensein durch den Tod.

Und immer wieder auch der Kampf gegen all diese Entmutigungen…

Heiße Gefühle… von Verlust und Traurigkeit, aber auch Zärtlichkeit und Liebe: „Quintett“ von William Forsythe mit Michael Tucker beim Semperoper Ballett. Foto: Ian Whalen

Aber ist das Leid eines Obdachlosen wirklich zu benutzen, um das Leid eines baldigen Witwers auszudrücken?

Dass Forsythe sich emotional obdachlos fühlte und das zum Ausdruck bringen wollte, als er kreierte, ist schon klar. Dennoch hat die solchermaßen ziemlich schräge musikalische Bebilderung etwas von Ausnutzung. Da benutzt der sozial Stärkere den sozial Schwächeren, um dessen Leid gewissermaßen zu beleihen.

Hier nagt nun zudem der Zahn der Zeit an der Moderne: 1993, bei der Uraufführung, waren die sozialen Sicherheiten in Westeuropa einfach noch ganz andere als heute. Die Obdachlosenzahlen waren damals noch nicht so exorbitant wie heute, der soziale Abstieg keineswegs für so viele Menschen eine tägliche Gefahr oder sogar schon Realität. Die Zahlen von Menschen, die sich ganz handfest ihres normalen Lebens nicht mehr sicher sein können, explodieren seither. Ebenso jene von jungen wie von alten Leuten, die schlichtweg gar keine Chancen mehr auf eine Verbesserung haben.

Und ich glaube nicht, dass man es bei einer Uraufführung heute geschmackvoll finden würde, wenn das Leid der sozialen Verelendung als Metapher für den Hinterbliebenenschmerz eines von Steuergeldern bezahlten, durchaus begüterten Künstlers benutzt würde. Zumal nicht nur die Verarmung zunimmt, sondern auch der immense Reichtum, der am anderen, oberen Ende der Gesellschaft angehäuft wird. Nie gab es so viele Menschen, die so rasch so reich wurden wir heute. Sie bilden das scheinbar glückliche Ende der Parabel, die Pendants zu den Abgestürzten.

Das normale, durchschnittliche Hab und Gut schwindet hingegen, die Mittelschicht teilt sich immer mehr in Reiche und Arme.

Heute sollte eben das Thema von Balletten sein.

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Aber außer John Neumeier und seinem „Liliom“, den er 2011 in Erinnerung an die ähnlich hartkapitalistischen 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in den USA kreierte, ist mir kein Ballettstück bekannt, das sich thematisch intensiv und künstlerisch gelingend mit der gesellschaftlichen Verelendung auseinander setzt.

In den 90iger Jahren hätte man allerdings, wenn man den praktischen und wirtschaftlichen Anschluss Ostdeutschlands an Westdeutschland aufmerksam beobachtete, auf drastische Verschiebungen des Gefüges kommen können. Auch als Sinngeber für Ballettlibretti.

Damals aber fand man es interessant und originell, sogar tiefsinnig, dass Forsythe sich diesen Kunstkniff erlaubte und die faktische Armut der Unterschicht als Allegorie für die eigene emotionale Verarmung durch den Partnertod nahm.

Sinnfällig ist dieser Narzissmus allemal!

Dresden tanzt ohne Melissa in Vergessenes Land

Ein Blick in den Werbetrailer vom Semperoper Ballett für „Vergessenes Land“: Fleißig wird der komplizierte Paartanz geübt. Videostill: Gisela Sonnenburg

Und so ging auch dieses Stück, wie die beiden anderen in diesem Dreiteiler namens „Vergessenes Land“, schon um die Welt, es wurde auf mehreren Kontinenten von angesehenen Compagnien getanzt und landet nun als Paradebeispiel für hochmoderne oder auch zeitgenössisch zu nennende Tanzkunst in der ehrwürdigen Semperoper.

Es steht allerdings faktisch mitnichten für ein Heute oder für einen heutigen Stil. Vielmehr steht das „Quintett“ unübersehbar für den Zeitgeist der 90iger Jahre, wie er sich in ganz bestimmten Künstlerkreisen, die im Elfenbeinturm – also der gesellschaftlichen Realität weit enthoben – residierten, formulierte.

Oder will Forsythe mit der Verquickung des Obdachlosentextes und seiner Tanzsprache darauf anspielen, dass auch er nur ein Mann sei und viele soziale Abstiege von Männern mit dem Verlust des Jobs und dem Verlust der Ehefrau beginnen?

Das wäre allerdings reichlich zynisch, denn das Problem der Arbeitslosigkeit, das dann ausschlaggebend ist (wie übrigens auch in Neumeiers „Liliom“), spielt in „Quintett“ nicht die entsprechende Rolle.

Dafür wird getanzt, wie es in den 90iger Jahren für die damalige Avantgarde des William Forsythe typisch und zu erwarten war.

Dresden tanzt ohne Melissa in Vergessenes Land

Im Werbetrailer für „Vergessenes Land“ beim Semperoper Ballett wird das Titelstück von Jiri Kyliàn unter Anleitung seiner hierzu autorisierten Ballettmeisterin Cora Bos-Kroese einstudiert. Videostill: Gisela Sonnenburg

Wie immer bei Forsythe gibt es da unerwartete brillante Hebungen, blitzschnelle Wendungen und ein häufiges zuckendes Aufbegehren gegen den Klassikkanon, der doch unübersehbar die Grundlage dieser auf Hochglanz polierten tänzerischen Schräglage bildet.

Die Klassik ist bei Balanchine noch in blendend destillierter Form, eben als Neoklassik, zu genießen – insofern beweist der Abend tadellos, inwiefern Nachkriegschoreografen wie Forsythe das Harmonische der Ballettkunst attackieren oder, anders herum betrachtet, aus ihr geboren wurden.

Allerdings ließe sich das durch Zehntausende anderer Triple-Bill-Abende ebenso anschaulich darstellen.

Warum nun ausgerechnet diese drei Stücke zusammen finden mussten, bleibt von daher im Unklaren – es wirkt ein wenig zufällig, auch willkürlich, diese drei unterschiedlichen Stücke aus unterschiedlichen Zeiten des letzten Jahrhunderts zusammenzubinden.

Aber die Tänzerinnen und Tänzer werden den Abend sicher retten: mit ihrem hinreißend geschmeidigen und doch akkuraten Tanz, den das Semperoper Ballett gerade in Choreografien von William Forsythe in jüngerer Zeit schon oft genug bewiesen hat. Auch ohne Melissa Hamilton. Auf eine Innovation hofft man derweil in Dresden vergebens.
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

www.semperoper.de

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