Tanzt den Kaktus! „Nordic Lights“, floral und tierliebend, beim Internationalen Tanzfestival in der Semperoper in Dresden

Kakteen sind keine Menschen - nicht mal im Ballett.

„Cacti“ ist Satire und ernsthafte Abhandlung zugleich. Im Mittelpunkt des Balletts von Alexander Ekman, das das Semperoper Ballett zeigt, stehen aber nicht etwa Kakteen, sondern Menschen. Foto: Ian Whalen

Die Violine jault, das Cello wird gezupft – und irgendwie klingt es, als seien die Instrumente hungrig oder quengelig wie kleine Kinder, die sich gehen lassen. Im Ballett „Cacti“ im Abend „Nordic Lights“ („Nordlichter“) beim Semperoper Ballett befinden sich zudem die zwei Musikerinnen und zwei Musiker – vier Streicher also – nicht im Orchestergraben, sondern auf der Bühne. Sie sind Protagonisten im Frack, wandeln zwischen den Tanzenden – und spielen sich selbst, außerdem natürlich liebevoll auf ihren Instrumenten. Musik von Beethoven etwa, mit Einfühlungsvermögen in den Gesichtern. Und die Tänzer lassen den Musikern mitunter sogar den Vortritt, bis zur Rampe!

Der schwedische Choreograf Alexander Ekman hat sich hier aber nicht nur die Interaktion zwischen Tänzern und Musikern ausgedacht, sondern lässt auch immer wieder Textgeflüster aus dem Off einspielen: Eine Gesamtkunstwerkmischung von absurd-skurrilem Profil ist entstanden, die einem humoristisch so richtig einheizt.

Rechteckige Steinquader dienen als Bühnenbild, entworfen von Ekman in Kooperation mit Tom Visser, der auch das elegante, viele Lichtpunkte und lange Schatten bewirkende Lichtdesign besorgte. Apropos Licht: Einmal fahren die Zugstangen mit den Scheinwerfern zu donnernden Tuschklängen vom Tonband herab, die Tänzer zucken ängstlich unter ihnen, ach, da wünschen sie sich bestimmt die netten vier Streicher zurück auf die Bühne – und siehe da: In „Cacti“ wechselt eine düster-klamaukige Gruppenstimmung, die das Pathos von Stummfilmen verbreitet, mit fröhlich-kecken Slapstick-Szenen aus dem Liebesalltag.

Die Steinquader werden dabei als Verstecke und Plattformen benutzt, auf ihnen wird getanzt wie auf kleinen Bühnen, die auf der großen Bühne jeweils Mikrokosmen bilden. Und weil sie nicht wirklich aus Stein sind, sondern nur so aussehen, werden sie von den Tänzern auch einfach mal hochgehoben und als Schirmflächen verwendet.

Acht Tänzerinnen und acht Tänzer sind hier sozusagen volle Pulle im Einsatz, allen voran Sarah Hay und Johannes Schmidt. Mitunter schnaufen sie absichtlich laut im Chor, mitunter jauchzen sie: „Hey! Hey!“ Und manchmal gehorchen sie einem Kommando, das zugleich ein Ansporn ist: „Ja! Ja!“ Was sie aber keineswegs daran hindert, Plastikkakteen in Pseudoblumentöpfen wie sakrale Gaben hin- und herzutragen. Es ist zum Piepen komisch!

Kakteen sind keine Menschen - nicht mal im Ballett.

Applaus für die Tänzerschaft von „Cacti“ in „Nordic Lights“ beim Semperoper Ballett. Foto: Ian Whalen

Die nette Stimme aus dem Off verklärt die Kaktee zur optimalen Metapher für den stacheligen, Trockenheit liebenden Kunst- und Kulturbetrieb. Dazu zuckt und zappelt es von Tänzerseite auf der Bühne, man weiß nicht: Ist das Zustimmung oder Diskussion via Körperkunst? Die Stimme vom Band träumt jedenfalls weiter, erzählt von „freedom and holidays“, von Freiheit und Ferien, oh ja, allerdings weiß sie auch: „reality of earth is rough“, die Realität auf diesem Planeten ist hart. Ob wir Tom Sawyer schon mal begegnet sind, werden wir gefragt. Wer weiß…

Das Paar – Sarah und Johannes – lässt trotzdem mal frivol die Hüften kreisen. Sie stehen mit dem Rücken zu uns und scheinen heftig zu flirten. Wir stören sie aber nicht, denn es macht ihnen Spaß zu zeigen, wie es gehen kann. Dazu kommen zwei Stimmen vom Band, ein Mann und ein Mädchen im Dialog. Sie kichern, sie bereden Belangloses, sie bilden eine soziale Einheit, bis er fragt: „What about the cat?“ Ja, was ist eigentlich mit der Katze? Pladautz, da kreischt das arme Vieh schon zum Erbarmen vom Tonband – und fällt faktisch mausetot und ausgestopft aus dem Schnürboden auf den harten Bühnenboden der Tatsachen. Man kann nicht anders, man muss grinsen und an alle sonstigen komischen Katzen in der Weltliteratur denken.

Vielleicht überlebt ja mal ein Lächeln eine Kreatur? So wie das Grinsen der Katze in „Alice in Wonderland“ einfach so in der Luft steht, ganz ohne Katzenvieh dabei.

Zeit für die zweite Runde mit den Kakteen. Also, bitte, tanzt den Kaktus, und tanzt ihn wild, wenn ihr Menschen seid! Menschen heißt: nicht Kritiker…

Denn über das Unwesen zynischer und unmenschlicher und natürlich höchst grausamer Kunstkritiker hat sich Choreograf Alexander Ekman ja einst so dermaßen aufgeregt, dass er wegen ihnen dieses munter-putzige Ballettchen schuf, das einen immer wieder zu überraschen weiß und bis zum rätselhaften Schlussbild – einer groß angelegten Tableaupose, auf der Tänzer und Kakteen wie für ein Gemälde komponiert sind – in Atem hält. Bravo!

Kakteen sind keine Menschen - nicht mal im Ballett.

Sie sind lustig und auf der Suche nach einem Partner wie nach sich selbst: Die Tänzer in „Walking Mad“ von Johan Inger beim Semperoper Ballett. Foto: Ian Whalen

Furios getanzt werden aber auch die beiden vorangehenden Stücke im insgesamt dreiteiligen Abend „Nordic Lights“. Da ist das Mittelstück „Walking Mad“ von Johan Inger, das zu den „Boléro“-Klängen von Maurice Ravel zeigt, wie wahnwitzig es ist, sich nach vielen Querelen endlich als Liebespaar zu kriegen, wenn man dann doch nicht beieinander bleibt.

Da steht am Ende ein Mädchen mit der Jacke ihres Jungen in der Hand – aber er zieht sich einfach was anderes über und macht sich von dannen. Tja. So sind sie, die wilden schönen Kerle. Und dass die Holzwand, über die er verschwindet, an diesem Abend schon ganz schön was durchgemacht hat, sieht man der rührenden Szene vom Verlassenwerden gar nicht an.

Einstudiert vom Allround-Ballett-Talent Yvan Dubreuil – der Tänzer, Co-Choreograf, Dramaturg, Bühnenbildner und Ballettmeister ist – bietet die Choreografie szenisch die Abwechslung von drei Frauenschicksalen und einer männlich dominierten Gruppe. Die Holzwand (vom Choreografen Inger entworfen) mutet dabei an wie ein Symbol für die nur schwer überwindbaren Probleme zwischen Menschen.

Vogelgezwitscher und Hundegebell, Silvesterhütchen und Klamottenausziehen – „Walking Mad“ (vulgo: „Durchdrehen“) bietet eine komisch-traurige Auflistung von Lebensmetaphern an, die mit akrobatisch-rasanten Slalomtänzen gespickt sind.

Denis Veginy und Raphael Coumes-Marquet, Svetlana Gileva und Duosi Zhu machen vor, wie es laufen kann. Da sind geschmeidige Soli und flippige Gruppenspäße vorhanden, in einer Ich-liebe-heute-nur-dich-und-morgen-die-ganze-Welt-Stimmung.

Besonders Raphael Coumes-Marquet, der gerade von der Bühne in den Ballettsaal – als Ballettmeister – wechselt, genießt sichtlich die Power, die die Choreografie den Tänzern abverlangt. Und Denis Veginy wirft sich in die elegant-kurvigen Verbiegungen, als seien sie keine Anstrengung, sondern halt eine Lebensweise.

Kraftfordernd und –fördernd ist aber auch das Einstiegsstück in „Nordic Lights“: „Im anderen Raum“ von Pontus Lidberg, der wie die beiden anderen Tanzschöpfer des Abends ein echter Schwede ist.

Kakteen sind keine Menschen - nicht mal im Ballett.

Kein Raum wie jeder andere: „In einem anderen Raum“ von Pontus Lidberg, furios getanzt vom Semperoper Ballett. Foto: Ian Whalen

Es beginnt mit einer locker-zerzausten Gruppenszene, hello and goodbye auf „ballettisch“, sozusagen. Und bald findet sich auch schon ein Paar. Sie ist dominant hier, legt sich ihren Mann flach über die Knie – und er hat die Traute, sich einfach mal hinzugeben. Köstlich, dieser „Ball paradox“.

Im Hintergrund wechselt derweil der leuchtende Schriftzug von „Raum“ zu „Träumer“ – und ein gar kurioses Trio entert die Bühne.

Einer trägt einen aus Draht geflochtenen Pferdekopf, der zweite das dazugehörige Pferdehinterteil an den Hüften – und der Dritte ist der Reiter, der von Kreatur zu Kreatur mit dem zweigeteilten Pferd korrespondiert. Eine muntere kleine Truppe, diese drei Tänzer, die in locker-flockigen Hebungen und Umarmungen einen Traum von Versöhnung ausleben.

Schließlich sind Pferde nicht nur irgendwelche Nutztiere. Vor Erfindung der Eisenbahn wurden sie nicht selten zu Tode gequält, indem sie viel zu schwere Lastkarren ziehen und auf unwegsamen Wegen voran kommen mussten. Bertolt Brecht schrieb die Ballade „Ein Pferd klagt an“, Hanns Eisler vertonte sie – und sogar Friedrich Nietzsche, sonst nicht eben des Sentiments verdächtig, umarmte mal spontan einen alten Gaul auf der Straße, weil ihm das missbrauchte Tier so leid tat.

Pontus Lidberg und sein choreografischer Assistent Gamal Gouda – der Erste Ballettmeister vom Semperoper Ballett – versuchen hier, Einiges wieder gut zu machen, das Menschen an Pferden verbrochen haben. Bei ihnen ist das Tier gleichberechtigt, es wird geheilt, aus zwei Stücken wird wieder eins – das Leben darf lebenswert sein, auch wenn das betreffende Lebewesen kein Zweibeiner ist. Toll und unbedingt notwendig im 21. Jahrhundert!

Kakteen sind keine Menschen - nicht mal im Ballett.

Da kann einem aber auch ein Licht aufgehen: Nach den „Nordic Lights“, den „Nordlichtern“, auf dem Theaterplatz vor der Semperoper in Dresden. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Beziehung von Tier und Mensch, von Boden und Luft ist denn auch insgesamt ein choreografisches Thema hier. Lidberg lässt seine zehn Tänzerinnen und Tänzer sich animalisch hoch recken und gleich wieder gen Boden fallen; auf allen vieren oder auch auf einem Bein frönen sie der Lust, Natur und Kunst zu vereinen.

Vor allem die beiden Paare Elena Vostrotina mit Jón Vallejo und Svetlana Gileva mit Fabien Voranger zeigen, wie ausdrucksstark eine solche moderne Ballettsprache sein kann, die eher ein Thema als eine Handlung bebildert.

Der „andere Raum“ aus dem Titel meint die Gedankenwelten, die uns helfen, uns an uns selbst zu erinnern: als das, was wir im Innersten wirklich sein wollen.

Dass der persische Mystiker Rumi diesen Tanz anregte, passt zur poetischen Grundhaltung Lidbergs. Eine Liebe zu allem predigte Rumi – und genau dieses Gefühl nimmt man auch aus diesem Ballettabend mit nach Haus.
Gisela Sonnenburg

Am und in der Dresdner Semperoper

Mehr zu diesen drei Choreografien hier:

www.ballett-journal.de/semperoper-ballett-nordic-lights/

www.semperoper.de

 

 

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