Sexineß im Sci-Fi-Tempel In der Dresdner Semperoper zeigt „Bella Figura“ alle Vorzüge von untypischem Ballett: Ein dreiteiliger Abend voll von Abwechslung, Tiefsinn und Charme.

Nacktheit ist ein fein gewobener Traum aus Sensibilität und Sexineß. Aber es gibt kaum etwas so Diffiziles für Frauen wie würdevoll oben ohne zu tanzen. Das Ballett „Bella Figura“ verlangt eben dies – und in flammend roten Flatterröcken zu nacktem Oberkörper wirken die Tänzerinnen des Balletts der Dresdner Semperoper so erotisch und erhaben, als seien sie Priesterinnen in einem Sci-Fi-Tempel.

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Konfusion und Konzentration, sanfte Geschmeidigkeit und akrobatische Verrenkungen: „Bella Figura“, das Stück, das der gebürtige Prager Jiří Kylián unter dem Eindruck von australischen Aborigines choreographierte und das seit der Uraufführung 1995 als internationales Topstück in jeder Hinsicht gilt, funktioniert dialektisch. Einerseits geht es zurück zur Natur – mit der Nackigkeit – und andererseits einen großen Schritt in die Zukunft der Dramatik. Denn hier wird zwar meditativ-langsam getanzt, aber ein Stillstand der inneren Handlung ist nicht zu verzeichnen. Im Gegenteil: Der Wandel von zwischenmenschlichen Beziehungen ist das Thema. Der Schatz aus kollektiven Erfahrungen wird allein, zu zweit, auch zu dritt oder in der Gruppe aufgearbeitet. Kommunikationen werden vorgeführt, die sozialen Kontakte zugleich reflektiert: Kylián schuf ein unumstrittenes Meisterstück.

Das Semperoper Ballett ist dem nicht nur gewachsen, sondern liefert eine aufregende und tiefgehende neue Interpretation, sodaß jeder Gedanke an bloße Provokation durch die schönen Tänzerinnenbrüste verblaßt. Eine beruhigende Note hat zudem die Musik: Sie stammt mit Pergolesi und Vivaldi zumeist aus dem Barock und verleiht der zeitgenössischen Anmut des Tanzes zusätzlich etwas Schwebendes. Der Erste Ballettmeister Gamal Gouda legt allerdings vor allem auf eines Wert: „Das Stück lebt von den Persönlichkeiten der Tänzer.“

Allen voran zeigt die gebürtige Potsdamerin Jenni Schäferhoff, wie berührend so untypisches Ballett sein kann. Seit 2008 tanzt die in Berlin Ausgebildete in Dresden: mal in traditionell-klassischen Abenden wie „Schwanensee“, mal in neuen Stücken wie „Bella Figura“. Dabei lerne sie vom einen fürs andere, sagt die Ballerina: „Im klassischen Tanz gibt es eine vorgegebene Struktur, Linien und Normen, die man erfüllen muß. Die Interpretationsfreiheit ist eingeschränkter als im modernen Tanz, dort ist die Bewegungsqualität eine andere.“ Finessen mit Spitzenschuhen fehlen zwar in „Bella Figura“. Aber das halbnackte Kostüm kostete Schäferhoff kaum Überwindung: „Weil es zum Stück paßt“, sagt sie. Und: „Die Atmosphäre, die ich hierin immer spüre, ist vor allem Ruhe“. Diese spannungsgeladene Souveränität überträgt sich. Jenni Schäferhoff, die hoch gewachsene Naturblondine mit starker femininer Aura, ist eine Entdeckung!

Emotionaler Höhepunkt ist Schäferhoffs Solo mit dem Theatervorhang. Da ist sie zunächst so in den Vorhang eingewickelt, daß es aussieht, als ob sie darin wohne. Dann sieht sie etwas, vielleicht in ihrer Erinnerung, läuft vor zur Rampe, erkennt mit Blick in die Ferne offenbar Zusammenhänge – und huscht wieder in ihre Vorhangkoje, wo sie sich rasch die Hand auf den Mund legt. Sinnlich, hellsichtig, aufrüttelnd wirkt diese Szene, zumal sie – wie im minimalism – einige Male wiederholt wird. Um faßlich zu sein, dachte sich Schäferhoff eine konkrete Geschichte aus, erzählt von ihrer eigenen verlorenen Liebe: „Ich habe eine große Liebe dadurch verloren, daß ich zuviel gesagt habe. Hier versuche ich, meine Worte zurückzunehmen.“ Als bekenne sich die Göttin der Liebe zu einer Schwäche: Aphrodite auf australisch.

„Bella Figura“ ist das erste von drei Stücken an diesem Abend, zugleich titelspendend. Kontraste stehen auf dem Programm: „The Grey Area“ („Die graue Zone“, 2002) des Briten David Dawson zeigt betont zarte Pas de deux in aschfarbenen Kostümen von Yumiko Takeshima. Rätselhaft-zeitlos wirken sie, wieder kann man an eine Sci-Fi-Gesellschaft denken, die ihre innere Verzweiflung mit Liebe und klugen Gedanken über die Liebe zu kurieren sucht.

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Das dritte Stück ist dagegen ein brachialer Knaller, entfaltet seinen Reiz mit Karacho: „Minus 16“ stammt von dem in New York ausgebildeten Ohad Naharin, der es 1999 für die Juniorcompany des Nederlands Dans Theater in Den Haag entwickelte. Dort war einst Jiří Kylián stilprägend, dennoch sollte man ihn und Naharin nicht vergleichen. Zu verschieden sind sie – und zeigen, wie vielfältig unkonventionelles Ballett ist.

Das Ensemble sitzt auf Stühlen im Halbkreis. Es trägt Herrenanzüge und Schnürstiefel. In zackigen, militärisch anmutenden Gymnastiken trainiert sich ein Corpsgeist, der bedrohlich und aggressiv wird. Gruppenzwang herrscht vor. Doch ein Tänzer schert aus, leistet Widerstand. Zu Latin-Folk-Rhythmen versuchen Einzelne, Individualität zu kreieren. Bis Marushas fröhliche Techno-Instrumental-Version von „Somewhere over the Rainbow“ ein Happening einläutet: Die Tänzer strömen ins Publikum, holen sich Laien als Partner. Deren Einwanderung ins Bühnengeschehen beglückt. Das wirkt auch noch, als die Tänzer wieder unter sich sind. Ein Spiel mit dem Theatervorhang steigert die Stimmung in Groteske. Und erinnert an Jenni Schäferhoff, die mit so sinnlicher Wehmut tanzt, daß man „Bella Figura“ mehrfach sehen sollte.

Gisela Sonnenburg

Termine und Infos: www.semperoper.de

 

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