Heimliche Entdeckerfreuden Die „Werkstatt der Kreativität VIII“ der Ballettschule vom Hamburg Ballett – John Neumeier macht im Ernst Deutsch Theater Mitteilungen von der Jugend

Die Werkstatt der Kreativität reüssiert.

Glückliche Menschen auf der Bühne des Ernst Deutsch Theaters in Hamburg nach der „Werkstatt der Kreativität VIII“. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Wenn Tanzstudenten ihre ersten eigenen Stücke öffentlich zeigen, so sagt das zwar nichts Endgültiges über ihre choreografischen Fähigkeiten aus. Aber man kann doch hier und da erkennen, inwieweit gelingt, was gelingen soll. Die Ballettschule vom Hamburg Ballett – John Neumeier ermöglicht es ihren Schützlingen, in den beiden Abschlussklassen – den Theaterklassen – unter professioneller pädagogischer Anleitung Kurzballette zu erstellen, die es in sich haben. Da ist, dank monatelanger Arbeit und sogar durchdachter Vorarbeit (siehe Interview: www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-werkstatt-der-kreativitaet-hyatt/) nichts banal, marktschreierisch oder oberflächlich. Insofern lohnt auch dieses Jahr der Besuch der „Werkstatt der Kreativität VIII“ im Ernst Deutsch Theater in Hamburg unbedingt. Und manches darin ist sogar so gut, dass man eine Gänsehaut und einen glasigen Blick vor Begeisterung bekommt. Ausführlich folgt nun die Besprechung des zweiten Programmes, das dieses Jahr zu sehen ist.

Vor Vorstellungsbeginn erfreut der Anblick der Jungkünstler beim vom Carolina Borrajo geleiteten Aufwärmtraining auf der Bühne. Borrajo, gebürtige Spanierin, absolvierte einst selbst die Schule vom Hamburg Ballett, war dann an verschiedenen Theatern Solistin, ließ sich zur Bühnentanzpädagogin ausbilden und sorgt seit 2008 für die schön schnittigen Linien und die aufrechte Haltung der Auszubildenden. In frohlockendem Singsang mit rhythmischer Pointierung gibt sie scheinbar leichthin die Anweisungen, welche Trainingseinheit wie zu tanzen sei. Und ihre Schülerinnern und Schüler verstehen sie gut!

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Carolina Borrajo, Ballettpädagogin in Hamburg, leitete das Training vor der Vorstellung. Foto: Kiran West

Es ist faszinierend zu sehen, wie unterschiedlich sie dennoch umgesetzt werden. Und zwar korrekterweise! Einfach aufgrund der Unterschiedlichkeit der Körper und Persönlichkeiten der jungen tanzenden Mädchen und Jungen.

Die meisten von ihnen sind 17 und 18 Jahre alt. Da ist ein Junge, so groß, dass er gefühlt fast als Basketball-Spieler durchgehen würde. Aber seine Ronds de jambe en l’air sind ein zweites Hingucken wert! Andere, Jungs wie Mädchen, sind hingegen zierlich und fast püppchenhaft in der Statur. Im Vergleich zu so einem „Riesen“ jedenfalls scheinen sie aus einer anderen Welt zu kommen.

Prinzipiell wird die Menschheit ja immer größer, immer länger, immer muskulöser – was an evolutionsbiologischen Faktoren, etwa dem Nahrungsangebot, liegt.

In der Ballettwelt werden die Körper zudem immer schlanker, ranker, schlaksiger – sie entsprechen oft einfach nur dem Ideal der Modewelt, das heutzutage bis in jedes Nomadenzelt am Rande der Wüste Gobi (gibt es dort Nomaden?) dringen dürfte.

In den Theaterklassen VII und VIII – den besagten Abschlussklassen der Ballett-Profiausbildung bei John Neumeier – kann man dennoch eine Vielfalt und einen Abwechslungsreichtum geschulter Jungtänzer sehen, der sonst selten ist.

Da gibt es hagere, muskulöse, zarte, kurvige, kantige Körper in künstlerischer Bewegung zu sehen, mit verschiedenen Proportionen und unterschiedlichen Schönheiten – und es tut gut, dass gerade nicht ein- und dasselbe Ideal immer und immer wieder auftaucht.

Die Werkstatt der Kreativität reüssiert.

Gigi Hyatt, die Pädagogische Leiterin der Ballettschule vom Hamburg Ballett – John Neumeier moderiert den Abend im Ernst Deutsch Theater. Foto: Kiran West

Und dann werden auch die verschiedenen Stärken und Vorzüge sichtbar. Da hat die Eine die schönste Arabeske, die in so jungem Alter nur möglich ist, während der Andere so sicher und elegant pirouettiert wie ein Étoile der Pariser Oper. Manch ein Passé wirkt so geschult wie aus dem Musterbogen für Waganowa-Ansichten; manches Port de bras hat so viel Poesie, dass man es am liebsten wieder und wieder sehen würde.

Was den Charme dieser strebsamen Studenten außerdem ausmacht, ist ihre Unbefangenheit beim Tanzen. Keine(r) von ihnen ertrinkt sozusagen in vornehmer Eitelkeit oder übergroßer Ichbezogenheit. Man muss ja leider konstatieren, dass beide Eigenschaften von der bunten Werbewelt, die unsere Jugend beeinflusst, regelrecht gezüchtet werden ­– und auch vor Ballettschulen keinen Halt machen. Bei Neumeier-Studenten aber erlebe ich es immer wieder, dass mir eine erfrischende Unverdorbenheit und erfreuliche Authentizität entgegen schlägt – und gerade nicht das bornierte Elitebewusstsein, das einen bei vielen anderen Jungkünstlern (auch in anderen Bereichen als dem Tanz) in der Begeisterung ziemlich ausbremst.

Gigi Hyatt, die Pädagogische Leiterin der Neumeier’schen Schule, wird wissen , was ich meine. Sie und ihre Kollegen stehen ja immer wieder vor der Frage, welches junge Talent sie in ihre Ausbildung aufnehmen und welches nicht, beziehungsweise – und das ist ein sensibler Punkt – welches sie gehen lassen bzw. vom weiteren Unterricht ausschließen. Da regiert ein knallharter Wettbewerb, ähnlich wie beim Leistungssport. Aber gäbe es den nicht, gäbe es weniger tolle Tänzer. Und das wäre einem ja nun auch nicht Recht.

Wobei allen Beteiligten klar sein sollte, dass auch das Glück und nicht nur die objektive Leistung oder Fehlerhaftigkeit ein Wörtchen mitzureden hat. Es ist im Ballett nicht anders als sonst im Leben: Der Eine gewinnt mit einem Einsatz alles, jemand anderes verliert durch einen unglücklichen Zufall sehr viel. Meist kann man die Zusammenhänge aber erst im Rückblick erkennen. Und prinzipiell ist festzustellen, dass kein Tag, an dem ein Mensch getanzt hat, ein verlorener war. Auch wenn es für die große Karriere später nicht reicht. Das Glück. Oder das Talent. Oder das persönliche Entfalten.

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Applaus für die Lehrkräfte: Die StudentInnen bedanken sich nach der Vorstellung beim Schlussapplaus im Ernst Deutsch Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Jedenfalls kommt es nicht nur auf schöne Füße und bewegliche Gelenke an. Nicht nur auf Schnelligkeit, Geradlinigkeit, Sprungkraft. Nicht nur auf Grazie und Geschmeidigkeit. Nicht nur auf Belastbarkeit und Ausdauer. Nicht nur auf Musikalität und Koordination. Aber auf alles zusammen. Wie auch auf eine charakterliche Eignung, auf einen starken Willen, auf Selbstbeherrschung. Und, natürlich, auf Ausstrahlung und Ausdruckskraft. Auf die persönliche Note. Und: auf die Kreativität.

Dass im Profi-Ballett-Betrieb sowieso auch die Tänzer bei Neuschöpfungen in Maßen mitchoreografieren müssen, statt stocksteif dazustehen und auf Anweisungen zu warten, dürfte sich bereits herumgesprochen haben. Aber in kaum einer Ausbildung wird dieses Talent – eines von vielen, das im Tänzerberuf eine Rolle spielt – so gezielt gefördert wie in Hamburg.

Zwei der jungen Choreografen stellten sich dann mit Gigi Hyatt im Ernst Deutsch Theater vor: Frederike Midderhoff, 17, in der Theaterklasse VIII und im zehnten Jahr auf der Ballettschule vom Hamburg Ballett, und Jonathan Reimann aus der Theaterklasse VII, der in seinem ersten Jahr in Hamburg ist.

Frederike hat, als Bergedorferin, schon ein wenig Prominenz in Hamburg; Alina Cojocaru, die Starballerina aus London, die in den letzten Jahren häufig zu Gast beim Hamburg Ballett war, half ihr nämlich mal bei einer Kraftübung im Fitnessraum des Ballettzentrums – und mit dieser Anekdote ging Frederike dank eines Lokalblattes in die Medienannalen des Internets ein.

Da wird es vielleicht Zeit, dass mal was Ernsthafteres dazu kommt?

Interessant ist, dass sie ganz anders an ihr Werk heran ging als Jonathan Reimann. Letzterer suchte sich erst seine Musik und dann dazu ein Konzept. Das diente ihm dann als „kreativer Leitfaden“ während der Kreation, bei der immer noch mal neue Ideen dazu kamen.

Bei Frederike Midderhoff stand das Konzept im Vordergrund; die Musik und die Tänzerauswahl kamen danach und ordneten sich dem Konzeptgedanken unter. Leider ist ihre Arbeit nicht im Programm 1 zu sehen – man fragt sich darum, wieso sie hier vorab auftritt.

Die Werkstatt der Kreativität reüssiert.

Stacey Denham, gebürtige New Yorkerin, betreut die Kreationen der Studenten. Foto: Kiran West

Es gibt aber noch eine Person, die für die Entstehung der studentischen Werke wichtig ist: Stacey Denham. Die gebürtige New Yorkerin unterrichtet modernen Tanz nach der Horton-Technik und bereitet die jungen Leute auf die Abschlussarbeiten, also die eigenen Choreografien, vor. Unter anderem mit einer Gruppenchoreo! Sie hilft dann auch bei den einzelnen Arbeiten – was wirklich wichtig ist, denn wenn man Anfänger einfach nur machen lässt, haben diese kaum die Chance, dabei viel zu lernen.

Weiterhin zu danken ist Isabella Vértes-Schütter, der Intendantin vom Ernst Deutsch Theater. Sie stellt ihr hübsches Theater – das am U-Bahnhof Mundsburg im Hamburg liegt – alljährlich den Ballettleuten zur Verfügung, für sechs abendliche Vorführungen, Bühnenproben und aufwändige Lichtproben inklusive. Immerhin kommt so der eine oder andere Ballettfan auch mal mit einem Sprechtheater in einem fruchtbaren Sinn in Berührung – und ergänzt sein Spektrum um eine Location mehr.

Aber dann – es gibt kein Halten mehr! Es geht los!

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„Wave“ – dieses Stück lief im Programm 1 in der „Werkstatt der Kreativität VIII“. Foto: Marcus Renner

When you stop walking“ heißt das erste Stück, es stammt von Hideki Yasumura, der die Theaterklasse VII besucht. Er tanzt auch selbst die Hauptrolle, einen jungen Mann, der auf dem Platz geht, sich anstrengend, ohne voranzukommen – schließlich zückt er einen Stadtplan, kommt aber auch damit nicht zurecht, und die Interaktion mit seinen Mitmenschen ist auch nicht wirklich hilfreich. Komik prägt diese Szene allerdings nicht, eher ein hilfloses Pathos. Die Minimal Music von Steve Reich hat Yasumura vielleicht dazu verführt, sich zu sehr auf den Gegensatz von Handeln und Nicht-Handeln zu verlassen. Ein Pas de deux bleibt denn auch folgenlos, ein Pas de trois desgleichen, auch eine rote Frucht (oder ein rotes Bällchen) rettet nichts – das Nicht-vom-Fleck-Kommen allein ergibt halt noch keine Essenz eines Balletts. Auch dann nicht, wenn der Protagonist es schlussendlich allein von der Bühne schafft, den symbolisch roten Gegenstand in der Hand wie eine Alltagstrophäe.

In the Twilight Zone“ von Jonathan Reimann (von dem wir oben schon hörten) zeigt da deutlich gefühligere und auch stimmigere Ansätze. Eine männliche Stimme fragt auf Englisch aus dem Off, nach was der Tänzer, der sich allein auf der Bühne in modern zuckenden Bewegungen verrenkt, denn suche: „Is there a system? Is there chaos?“ Der junge Mann (sehr souverän: Floriman Poisson) trägt eine Augenbinde, dennoch sieht er damit überraschend gut, auch beim anschließenden, klassisch-modernen Pas de deux mit Léa Mercurol. Er ist also nicht blind im Wortsinn, sondern im übertragenden, er sieht also das Wesentliche nicht, ist geblendet oder verblendet, blind für die wahre Schönheit, die wahre Liebe, das wahre Selbst der Dinge. Seine Großmutter, erfahren wir weiter, sagte immer: „Wer nicht sucht, der findet.“ Aber soll man sich darauf verlassen? Die Szenerie hat pikanten Witz, geht es doch um den Grundsatz einer Identitätsstiftung.

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Hey! Gute Laune nach der Vorstellung – mit Stacey Denham in der Mitte auf der Bühne des Ernst Deutsch Theaters nach der „Werkstatt der Kreativität VIII“ am 3.3.2017. Foto: Gisela Sonnenburg

Natürlich hilft die Liebe. Das Mädchen im roten Abendkleid, eben Léa Mercurol (die ihre Partie sehr schön tanzt), illustriert mit harmonischen, auf- und abstrebenden Gesten die Schmonzette „Come wonder, Heart upon my Sleeve“. Ob am Boden oder im Sprung: Der Blinde scheint hier sehen zu lernen, indem das Zu-zweit-Sein ihn bereits erleuchtet. Aber kaum findet er zu sich, braucht er die Partnerin nicht mehr – und geht.

Dafür hat sie ihr Solo, wieder zu der Männerstimme aus dem Off, zu welchem sie sich wie selbstkritisch verbiegt. Dazu wieder die Fragen: Was suchst du? Gibt es da ein System? Oder Chaos? Und dann der gute Rat: Vielleicht suchst du in dir selbst. – Man fragt sich nur, wieso der Junge Hilfe von der schönen Mittänzerin bekam, das Mädchen nun aber allein aus sich selbst heraus schöpfen soll.

So ganz geht die Rechnung des Konzepts hier also nicht auf. Aber die Umsetzung ist durchaus spannend – und keine Sekunde langweilig.

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Und noch ein herzlicher Applaus für die jungen Künstlerinnen und Künstler von der „Werkstatt der Kreativität VIII“. Foto: Gisela Sonnenburg

Und dann. Wowowowowowow, und dann! Dann folgt „When she was away“ von Adriana Gaglio zu Musik von Max Richter. Ich müsste mich schon sehr täuschen, wenn diese zielbewusste junge Choreografin (aus der Theaterklasse VIII) nicht über ein herausragendes Talent verfügt! Sie weiß offenbar, was Placement im Raum ist, sie hat einen tollen Instinkt für Effekte, sie kann mit Tempi umgehen, und die Pas-de-deux-Variation, die ihr Stück darstellt, ist absolut originell und dennoch von großer erotischer Ästhetik. Und: Es gibt eine Vieldeutigkeit in den Gesten, die bezaubert. Davon könnte man nie genug bekommen, und man bedauert zutiefst, als das kurze, intensive Stück zuende ist, dass es vorbei ist.

Vor tiefblauem Hintergrund stehen zunächst Charlotte Kragh und Marco Accardi in einer Verbundenheit, die ungewöhnlich und kompliziert ist. Das ist aber nur der Anfang! Charlotte steht da Rücken an Rücken vor Marco, dessen hoch gereckte Arme eine männliche Silhouette vor dem Blau des Horizonts ergeben. Die Hände fangen an, sich zu bewegen – die Finger greifen in die Luft, mit Macht, mit Druck, mit Kraft. Die Minimal-Klänge von Max Richters „Departure“ in der Piano-Version erzeugen hier zusätzlich Spannung.

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Alle applaudieren – und Gigi Hyatt und Stacey Denham verbeugen sich auch! Foto aus dem Ernst Deutsch Theater in Hamburg: Gisela Sonnenburg

Man will sofort wissen: Wie geht es weiter mit diesem Paar? Finden Sie enger zusammen? Tatsächlich: Feine Synchrontänze, Hebungen, ein Penché – sie tanzen sich miteinander frei, diese beiden, bewältigen bald scheinbar spielerisch komplizierte Figuren. Die Verbindung zwischen den beiden Tänzern wird stärker, immer stärker… Immer klarer, immer deutlicher wird ihr Ausdruck. Und sie enden mit einem tipptopp synchron gesprungenen Grand jeté in die linke Kulisse – ach, und das Publikum hat sofort begriffen, dass es da eben etwas ganz Besonderes gesehen hat. Heftiger Jubel mit den meisten Bravos des Abends bricht aus! Ganz zurecht, meiner Ansicht nach.

Adriana Gaglio – ich werde mir diesen Namen merken, und ich rate jedem, der sich für choreografische Talente interessiert, das auch zu tun.

Dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass es in der schöpferischen Kunst Eintagsfliegen gibt oder junge Menschen, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht weiter entwickeln. Es gibt also keine Garantie für choreografische Genialität, zumal nicht bei Anfängern. Auch dann nicht, wenn etwas so inspiriert gearbeitet wirkt wie „When she was away“ (bei dem allein der Titel „Als sie weg war“ stutzig macht und eigentlich nicht passt, es sei denn, es ist eine Nebenbuhlerin der Heldin gemeint). Aber: Adrianas Erstling war umwerfend, prickelnd und voll sprühender Theaterfunken – und sogar für eine alte Häsin wie mich eine absolute Erbauung. Danke!

Ihr tiefsinniges Motto für ihre Kreation lautete übrigens: „Wir müssen vernünftig und stark wie ein Fels sein, denn meistens sind unsere Grenzen nicht real, sie sind im Auge des Betrachters.“ Na, wenn das nicht Mut macht!

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Ein Einblick in das Programm 1 der „Werkstatt der Kreativität VIII“: „Ad Astra per Aspera“ heißt das Stück auf latein, zu deutsch: „Zu den Sternen durch Schwierigkeiten“. Ein hübsch selbstironischer Titel vielleicht? Foto: Marcus Renner

Das vierte Stück des Abends, „Purple“ von Floriman Poisson (Theaterklasse VIII), umfasst verschiedene Musiken, von Folk bis hin zu Maria Callas’ berühmter Interpretation der „Tosca“. Ein Mann ohrfeigt darin zunächst eine Frau – und sie findet Trost bei einem anderen. Aber es ist bezeichnend, wie sie mit ihm in Bodennähe verharrt. Bis es einen Pas de Cinq gibt – und die beiden Mädchen aus diesem kleinen Ensemble sich später in fleischfarbenen Leotards, also sozusagen in pseudonacktem Zustand, allerbest verstehen. Fetzig schlackern da die Gliedmaßen der beiden jungen Damen. Die rechte Hand der Einen wackelt neben ihrem Ohr hin und her, die Andere hört ihr daraufhin prompt zu – sehr gelungene Passagen enthält dieses Stück Tanzkunst!

Insgesamt zerfasert es allerdings, und der Bezug der beiden Mädchen zur Jungsgruppe wird nicht ganz klar. Dennoch macht es Spaß zuzusehen – bis zum Ende.

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Aber hallo – und noch ein Applaus für die jungen KünstlerInnen von der Ballettschule vom Hamburg Ballett – John Neumeier! Foto: Gisela Sonnenburg

Lost“ von Marie-Lys Boulay (Theaterklasse VIII) ist da fast eine Art Fortsetzung. Wird in Poissons Stück überwiegend in Straßenkleidung, etwa in Jeans, getanzt, gibt es bei Boulay eine sechsköpfige Gruppe in sportlichem Schwarz. Das Motto der Choreografin meint, manchmal gehe nichts („geht alles nicht“), und dann sei es besser, den eigenen Weg zu gehen. – Nun, das ist es sowieso!

Aber flott wie in einem Aerobic-Trailer hüpfen die TänzerInnen hier umher, zumeist synchron und hübsch gruppiert – und der Sportsgeist der jungen Leute wirkt nachgerade ansteckend. Ein großes blondes Mädchen fühlt sich indes als Außenseiterin und steigt immer mal wieder aus, um dann von schräg vorn auf die Gruppe zu schauen – so auch am Ende.

Differenzen, so will uns die Choreografie wohl sagen, müssen aufgearbeitet werden, sonst bleiben sie.

Die Musik von Emilie Simon („The Egg“) unterstreicht den Contemporary-Charakter dieser Arbeit: It’s Post-Techno, so to speak!

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Nach der Pause wird es dann wieder aufregend. „Resiliencia“ von Marcelo Ferreira (Theaterklasse VIII) nach Musik von Philip Glass (Minimal Music erlebt ihre vielfache Auferstehung an diesem Abend) erinnert stark an so manches Stück von William Forsythe. Technische Schwierigkeiten werden ganz verspielt serviert, wirken aber sportiv, der Spitzenschuh gehört unbedingt dazu – und dass am Anfang zwei „Elfen“ oder „Wilis“ in moderner Ausführung über die Bühne laufen und ein junger Mann mit verwirrtem Gesichtsausdruck diagonal vor ihnen zu flüchten scheint, greift ein altes Ballett-Tableau, nämlich das von „Giselle“ im zweiten Akt, auf, um fortan damit zu spielen.

Fünf Mädchen und drei Jungs bilden diesen wilden Reigen mit diversen Pas de deux, der sich zwar nicht auflösen lässt, der aber in seiner Raffinesse zum Motto des Choreografen Ferreira passt: Darin geht es um die Fähigkeit, „sich an unangenehme Situationen in der bestmöglichen Weise anzupassen“. Da gilt kein Kneifen – Tapferkeit ist Trumpf!

February 1998“ – wieder nach Musik von Max Richter – von Gabriel Brito (Theaterklasse VIII) ist ein Beitrag zur hohen Kunstform des modernen Paartanzes.

Ein exzellentes Frauensolo von Francesca Zavalloni illustriert die selbstbewusste Ausdrucksform einer weiblichen Selbstfindung. Die weiche Orchestermusik lässt dazu schwelgen! Dann tritt ein Mann auf den Plan, von hinten rechts nach vorn auf das Mädchen zukommend. Er wirkt bedrohlich. Er hat eine andere Energie als sie. Sie weicht zurück – ist aber auch neugierig. Und sie zieht sich zurück, um ihn zu beobachten.

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„Complex Desire“ – der „komplexe Wunsch“ war im Programm 1 bei der „Werkstatt der Kreativität VIII“ zu sehen. Foto: Marcus Renner

Und er? Er tanzt. Für sie? Nein, für sich! Er ist ebenso wie sie noch auf der Suche nach sich selbst, nach einem Weg, sich auszudrücken und sich als Ego in dieser großen weiten Welt zu manifestieren.

Er hat aber auch Sehnsucht nach Liebe…

Langsam erwächst den beiden ein Pas de deux, Choreograf Brito hat es hier angenehmerweise gar nicht eilig. Faszinierende Details finden sich: Da streckt die junge Dame ihr Bein in eine Penché-Arabeske, lässt aber schlangenmenschgleich den Oberkörper oben. Und: Ihr Bein hebt sich dabei direkt vor der Brust des Jungen, der sie hält. (Nicht etwa von ihm weg.) So etwas ist im Ballett bislang nie zu sehen gewesen, meines Wissens nach, fast könnte man von der Einbringung eines neuen artistischen Elements sprechen.

Und Francesca Zavalloni, diese außergewöhnliche Tänzerin, begegnet uns am Ende des Abends als Choreografin wieder – und zwar eines reinen Männertanzes. Ah, klingt interessant, oder?

Zunächst nochmal zurück in den „Februar 1998“. Darin sind schließlich auch Synchron-Schritte voller Harmonie möglich – und das Paar endet in einer A-tergo-Stellung, vieldeutig, aber nicht anzüglich.

Eine hübsche Liebesgeschichte also, nicht so brandgefährlich-explosiv wie „When she was away“ von Adriana Gaglio, aber durchaus auch von großer Besonderheit.

Ten Days in another Place“ (Zehn Tage an einem anderen Ort) von Francesc Nello Deakin (Theaterklasse VIII) hat dann ein ganz anderes Sujet als die Liebe. Auf dem Programmzettel heißt es dazu: „Acht Frauen in der Psychiatrie, aber eine von ihnen gehört nicht hierher.“

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Noch einmal die freundliche Bitte, daran zu denken, dass im 21. Jahrhundert die Bedingungen für freie Journalisten andere sind als früher – zumal, wenn sie sich im Internet präsentieren. Von irgendwas muss man auch als Ballettkritikerin leben. Dafür stehen derzeit – im März 2017 – schon knapp 350 hochwertige exklusive Beiträge im Ballett-Journal, die Sie lesen können.

Nun hat der junge Choreograf eine sehr romantische Vorstellung von modernen psychiatrischen Kliniken; die kranken Frauen hier tragen hübsch einheitlich Jeans und weite Blusen, eine Art Patientinnenuniform – und sie üben sich in harmonischen Bewegungen, als wollten sie zusammen auftreten. Sie erinnern eher an eine Frauengymnastikgruppe denn an mental Gestörte.

Das Mädchen, das nicht dorthin gehört, trägt einen wippenden blonden Pferdeschwanz und ein Business-Jackett. Die Ritualübungen kann oder will die junge Frau nicht mit vollziehen – aber als die anderen der Reihe nach austicken und die simpelsten Klischees von Wahnsinn servieren, versucht sie, ihnen zu helfen.

„It’s teatime!“, ruft da ein Mädchen immer wieder ohne Anlass, mit irrer Stimme und wirrem Blick: „It’s teatime!“ Nun ja, solche peinlichen Abziehbilder von Wahnsinn findet man in schlechten Comics.

Eine andere brüllt wiederholt den Namen von „David!“ Das ist nicht besser inszeniert als die Teesüchtige – aber bei allen „Patientinnen“ hier hilft eine schlichte freundliche Beruhigung durch die Pferdeschwanz-Trägerin: „Don’t worry!“ Mach dir keine Sorgen, alles ist gut. Ach ja?

Und schon geht es den Mädels besser. Seltsam. Das müsste man mal auf einem Ärztekongress vortragen, oder? Da kann man sich ja künftig die teuren Therapien sparen, wenn Heilung so einfach ist. Allerdings: Wo der Choreograf keine Schritte finden konnte, setzt er normale Dialogworte ein, bar aller Poesie. Das ist nicht so toll und wirkt plump, wie ein Ringelpiez mit Ansprache.

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Ein letzter Applaus für die Studentinnen und Studenten der Ballettschule vom Hamburg Ballett – John Neumeier im Ernst Deutsch Theater am 3.3.2017. Foto: Gisela Sonnenburg

Überhaupt sollte man, bevor man sich ein so schweres Thema vornimmt, doch mal gründlich recherchieren. Was heißt denn hier, eine der Frauen würde nicht in die Psychiatrie gehören? Geht es um eine unrechtmäßige Zwangseinweisung? Es gibt immer wieder Menschen, die nur mit großer Mühe einen solchen, stets auf ärztlichen Falschgutachten basierenden Psychiatrieaufenthalt überhaupt überleben. Gustl Mollath ist da nur das prominenteste Beispiel. Der Grad der Traumatisierung ist bei diesen Psychiatrie-Opfern ähnlich wie nach erlittener Folter oder Geiselnahme. Sie leiden für den Rest ihres Lebens darunter. Oft erfordert es eine immense seelische Stärke, überhaupt weiter leben zu wollen. Dabei kommt die Tabuisierung des Opferstatus erschwerend hinzu.

Insofern ist es eine Novität und ein Verdienst, wenn Ballett auf solch ein Thema aufmerksam machen will. Nur sollte da die Umsetzung auch stimmig und durchdacht sein. Einfach nur ein Ausflug an einen anderen Ort ist ein Aufenthalt in der Psychiatrie für niemanden, der dort nicht nach ein paar Stunden wieder gehen kann. Man spricht nicht von ungefähr in der Szene der Psychiatriekritiker von Menschenschlächtern – und da können lauwarme Heilsangebotler gar nichts dran ändern. Die britische Dramatikerin Sarah Kane schrieb ein international viel beachtetes Theaterstück dazu („Gesäubert“).

Die Täter gehören jedenfalls angeprangert, das wäre auch für Ballett mal eine wirkliche Aufgabe. Johan Kresnik hat das übrigens mal versucht und 2005 mit einer eindringlichen Arbeit über die ärztliche NS-Folterkammer namens „Spiegelgrund“ in Wien ein Stück gemacht.

Aber über die heutigen Tabus von medizinischer Missachtung der Menschenrechte gibt es in den Künsten außerhalb von Kane allgemein wenig – für Ballett wäre es revolutionär, hierüber auf angemessenem Niveau zu kreieren.

Andererseits sind auch wirklich psychisch Schwerstkranke auf ein Verständnis angewiesen, das sich nicht darin erschöpfen kann, dass man sie belächelt. Einfache Beruhigungen in der dargestellten Weise können da nicht ausreichen. Auch nicht, um sich als Künstler hinzustellen und zu sagen, man habe zu dem Thema eine Arbeit vorgelegt.

John Neumeier hat in „Nijinsky“ (www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-nijinsky-alexandr-trusch/) gezeigt, wie man schizophrene Zustände glaubhaft tänzerisch illustriert. Er zeigt auch, wie stark das Leiden der Mitwelt im Umkreis solcher Erkrankung sein kann.

Natürlich hängt da die Messlatte hoch – aber ein solches gewichtiges Thema so naiv-dümmlich wie Francesc Nello Deakin anzugehen, verdient schon fast eine richtige Strafe. Wenn man dann auch noch eine internierte Gesunde in der Hölle der Psychiatrie zeigt, ohne auch nur einen Hauch von deren Leid durch ihre Gefangenschaft als vermeintlich Irre darzustellen, ist man vielleicht gar nicht in der Lage, sich in so eine Situation einzufühlen.

Es ist schon erschreckend, wie abgestumpft man als angehender Künstler wirken kann! Sorry, aber ich habe den Verdacht, Francesc Nello Deakin wollte sich mit dem spektakulären Thema nur profilieren, sich sozusagen mit der Sensation schmücken. Was gründlich daneben ging.

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Aller guten Dinge sind drei: Noch einmal darum meine Bitte um Ihre freundliche Unterstützung. Sie wird diskret und dankend entgegen genommen.

Sollte die Themenwahl hingegen im humanistischen Sinne gut gemeint sein, so ist zu lernen: gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht. So, wie das Stück hier gezeigt wurde, kam es im Grunde einer unfreiwilligen Verhöhnung von Psychiatrieopfern gleich. Das ist die Gefahr, wenn man thematisch zu hoch oder künstlerisch zu niedrig greift.

Viel sensibler kommt dagegen „Restlessness“ („Ruhelosigkeit“) von Francesca Zavalloni (Theaterklasse VIII) einher. Schon das Motto der Choreografin ist philosophisch-psychologisch und logisch-schlüssig: „Oft passiert es, dass viele Emotionen zur gleichen Zeit kommen… Die Lösung ist: zu teilen.“ Das funktioniert in chronologischer Hinsicht, aber auch in gesellschaftlicher. Und so stellt Francesca ein weiteres Motto dazu, von dem brasilianischen Literaten Paul Coelho: „Das Universum macht nur Sinn, wenn wir jemanden haben, mit dem wir unsere Gefühle teilen können.“ Nun ja, das weiß jeder politische Volksverführer… in gewisser Hinsicht hat die Erkenntnis von Francesca da vielleicht mehr Tiefe.

Die Musik zu „Restlessness“ kommt von Samuel Barber – es ist fette Orchestermusik mit Klavier, pompös-impressionistisch.

Die Choreografie aber erinnert an eine vielen Neumeier-Fans geläufige Arbeit: an die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, und zwar an deren ersten Satz, der hier minimalisiert und in eine Contemporary-Sprache übersetzt scheint.

Sechs junge Männer in dunklen Schlabberhosen zu nacktem Oberkörper bilden eine Gruppe, in der jeder auf die anderen angewiesen scheint. Sie helfen einander, aber sie äußern auch Aggressionen. Sprünge und Bodenkontakte, Nähe und Distanzen – die gruppendynamischen Prozesse hier haben hohes Potenzial.

Allerdings tanzen die Jungs zu häufig synchron, um von kriegerischer Interaktion oder anders ausgefeilter, individueller Aktion zu sprechen. Das ist ein großer Unterschied zum ersten Satz der Neumeier-„Dritten“. Die freundlichen Klavierläufe in Barbers sinfonischem Werk legen dann immer wieder zwar rasche Versöhnungen nahe. Die Konflikte, die zuvor da sein müssten, fehlen aber.

Vielleicht ist diese Arbeit noch nicht ganz ausgereift. Aber sie hat etwas stark Einprägsames, etwas, das haften bleibt und einen höchst angenehmen Nachgeschmack erzeugt. Die bedeutende Position als Schlussstück dieses kurzweiligen Abends hat „Restlessness“ allemal verdient. Nur Mut, Francesca Zavalloni, in diese Richtung geht noch mehr!

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Und ein allerletzter Blick auf den Applaus nach der „Werkstatt der Kreativität VIII“. Foto: Gisela Sonnenburg

Was an einem solchen Abend soviel Spaß macht, ist eben das Herausfinden, welcher Stilart oder Herangehensweise man mehr traut als einer anderen, welche choreografische Frühhandschrift einem mehr oder weniger zusagt. Man kommt, um Ballett zu sehen – und man bleibt, um heimlichen Entdeckerfreuden zu frönen.

Da freut man sich schon aufs nächste Jahr!
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

www.ernst-deutsch-theater.de

 

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