Leben im Urknall-Format John Neumeier erfand sich mal wieder selbst neu: Mit „Turangalîla“ verbindet der Chef vom Hamburg Ballett die modernsten Beziehungskünste mit dem Trend zur Nostalgie

Der Mensch an sich - in der Welt und in der Liebe.

Der Mensch an sich – in der Welt und in der Liebe. John Neumeiers neues Werk „Turangalila“ benennt die Themen Weltenbau und Weltenflucht, Liebesspiel und Einsamkeit. Oder gibt es in der Postmoderne diese Begriffe schon gar nicht mehr? Foto (Ausschnitt): Kiran West

Dieses Stück ist wie ein Gemälde in einer anderen Dimension. Mit „Turangalîla“ hat John Neumeier, Intendant und Chefchoreograf vom Hamburg Ballett, sich mal wieder selbst übertroffen: indem er etwas völlig Neues schuf, das stilistisch und inhaltlich seinesgleichen zwar suchen, aber niemals finden kann. „Turangalîla“ (frei übersetzt aus dem Sanskrit: „rhythmische Anmut des Lebens“) entstand nach der gleichnamigen zehnsätzigen Sinfonie von Olivier Messiaen. Das Stück ist elektrisierend, aufregend, spannend geraten – und zwar von der ersten Stille des Vorspiels an bis hin zum letzten, lang anhaltenden Tusch des Finales.

Hier vergisst man dann aber auch alles andere: Wenn das „Ballet Revolución“ sein Temperament in Tanz umwandelt, gibt es kein Halten mehr. Da sind Leidenschaft und Schönheit zu heißen Rhythmen vereint, und das neue Programm verspricht, noch fetziger zu sein als jedes andere zuvor. Unbedingt rechtzeitig hier hier Tickets sichern unter: www.bb-promotion.com – und richtig Spaß haben! (Das Foto stammt von BB Promotion / Anzeige)

Mit atemberaubender Grandezza gelingt Neumeier die Kennzeichnung von Charakteren und Figuren auf der Bühne, ohne diese konkret zu personalisieren. Und dabei sitzen, zeitweise von einem halbtransparenten Vorhang abgeteilt, über hundert Orchestermusiker im Bühnenhintergrund der Hamburgischen Staatsoper, sodass die eigentliche Tanzfläche, als Kreis bis zur Rampe ausgeleuchtet, in der Tiefe drastisch verkleinert wurde. Aber vermisst man da irgendwas?

Der Mensch an sich - in der Welt und in der Liebe.

Männer, die für ganze Völker stehen könnten: John Neumeiers utopisches Stück „Turangalila“ vereint Gegensätze, ohne sie auszusöhnen. Foto: Kiran West

Im Gegenteil: Die Intimität und die Nähe, wie sie die Tänzer zueinander und zum Publikum durch die Raumverhältnisse aufbauen, wirken wie ein engmaschiges Netz, von dem man sich als Zuschauer nur allzu gern einfangen lässt.

Im Zentrum des Interesses stehen die Verhältnisse der tanzenden Personen zueinander: Es ergibt sich eine Art Urgesellschaft, die allerdings zugleich hoch modern und zeitgenössisch ist. Und sogar das Gegenteil von „Beziehung“ wird ausgiebig tänzerisch gedeutet: Dann geht es um das Überleben jenseits der gesicherten Gruppengefühle.

Christopher Evans, der männlich-smarte Nachwuchsstar unter den Hamburger Solisten, erlebt als tragende Hauptfigur die Entwicklung einer Welt: vom Urknall in der Jugendzeit über das Ausprobieren aller möglicher Lebensformen bis zur Einsamkeit als Mensch an sich.

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Der faszinierende Christopher Evans reist in „Turangalila“ durch die Menschheitskurve, nimmt Teil, macht Erfahrungen – und ist am Ende wie am Anfang schon dennoch allein…. Foto: Kiran West

Dass die Musik von Messiaen hier reichlich Theatralik, aber auch Leichtigkeit mit sich bringt, verdankt sich indes nicht nur dem Komponisten Messiaen, der sie 1946 bis 1948 schuf, um sie 1949 in Boston uraufführen zu lassen.

Sondern auch der Hamburger Generalmusikdirektor Kent Nagano hat großen Anteil am Gelingen dieses Musikwerks heute in der Oper.

Er, als Dirigent der Aufführung, taktet die Tempi messerscharf; er spielt das Stück analytisch, aber niemals stakkatohaft zerzupft; Klarheit trotz romantisch anmutender Wogen flutet die Akustik; und niemals verschwimmt die Partitur zum verschwiemelten Einheitsrausch.

Das ist ganz große Kunst am Taktstock!

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Das ist „Turangalila“: Der Maestro Kent Nagano dirigiert auf der Bühne – das Orchester sitzt ebendort. Davor und auf einer Galerie darüber wird getanzt… Foto: Kiran West

Nagano wurde denn auch von Messiaen zu dessen Lebzeiten gefördert – und ohne Naganos Fürbitten bei den Erben der Aufführungsrechte hätte auch Neumeier jetzt nicht die rechtliche Möglichkeit erhalten, das Stück in ein Ballett zu verwandeln.

Von der Struktur her mag das subtile Drama an „Die vierte Sinfonie von Gustav Mahler“, die Neumeier 1977 in London choreografierte, erinnern.

Doch wie anders ist der jetzige Auftritt von „Mister Ballet“ John Neumeier mit dieser sinfonischen Arbeit!

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Der Tänzer und der Dirigent – selten kommen sie sich so nahe wie in „Turangalila“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Zeitweise kann man es fast nicht glauben, dass die Soli, Pas de deux und Gruppenszenen in „Turangalîla“ von ein und demselbem Mann stammen, der eben auch Stücke wie die „Vierte“ oder auch wie die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ gemacht hat. Und der insgesamt bereits über 150 großartige Werke schuf.

Und beginnen andere Künstler mit sperrigen oder expressiven Arbeiten, um dann langsam zum Mainstream zu finden und sich dem Zeitgeschmack anzupassen, kann man von Neumeier mit Fug und Recht behaupten, dass er stets den gehobenen Zeitgeschmack verkörperte.

Jetzt, nachdem er alle Erfolge, die nur möglich sind im Ballett, errungen hat (der letzte noch ausstehende, nämlich am Bolschoi Theater in Moskau eine große Uraufführung zu kreieren, erfolgt 2017), erlaubt er sich ein tiefgreifendes Bekenntnis zur Avantgarde.

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Die Sehnsuchtsgeste – hier wird sie lange von den Tänzern gehalten…. in „Turangalila“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Das ist einfach phänomenal und will ausgekostet sein. Mein Tipp: Sich gleich zwei Vorstellungen zu sichern, denn sonst bereut man es, sich um die zeitlich eng beieinander liegende Wiederholung gebracht zu sehen. Und gerade diese verstärkt Genuss und Verständnis gleichermaßen – und es wäre eine Lüge zu sagen, „Turangalîla“ wäre ganz einfach zu kapieren.

Viele Contemporary-Einflüsse und auch eine Menge neuartiger Schrittkombinationen, darunter exquisite Hebefiguren und originelle Drehungsmanöver, machen das nur rund eineinhalbstündige Stück zu einem so modernen wie rasanten Fest für die Sinne.

Neumeier ist hier Neumeier und doch nicht Neumeier – es ist eben ein ganz neues Schritt- und Gestenvokabular, das er hier entwickelt hat.

Zweifelsohne wäre es ohne seine Tänzer und deren in seinem Sinne weit entwickelte Befähigung, mit ihm zu kreieren, niemals dazu gekommen.

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Carsten Jung und Hélène Bouchet in „Turangalila“: ein tänzerisch perfektes Liebespaar der Jetztzeit, und die Partner wissen genau, was sie voneinander wollen. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Carsten Jung und Hélène Bouchet als (bewährt tolles) Hauptliebespaar, Alexandr Trusch und Mayo Arii (die für die verletzte Carolina Agüero einsprang) als ausgesprochen ergreifendes weiteres Paar, Edvin Revazov und Florencia Chinellato als mit sehr viel Charme brillierendes drittes Hauptpaar sowie Xue Lin als große Künstlerin des Abends bringen sich selbst in einer Weise ein, die wohl nur beim Hamburg Ballett so überhaupt möglich ist. Fantastisch.

Die männlichen Tänzer bezaubern ebenfalls, mit eigenem wie gruppenkompatiblem Flair: Mathias Oberlin mit geschmeidigen Gleitschritten, Aleix Martínez mit unerhört wundervollen, ganz präzisen hohen Sprüngen, Thomas Stuhrmann mit Geradlinigkeit, Marcelino Libao mit knackigem Tempo, Marc Jubete mit hoher Sensitivität.

Aber auch David Rodriguez (der Kolumbianer kommt von der Miami City Ballet School neu ins Hamburg Ballett) und Leeroy Boone (der derzeit als Aspirant, demnächst dann als Gruppentänzer in der Compagnie tanzt) fallen positiv auf: der erste mit schönen Linien, der zweite mit mitreißender Frische.

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Junge Männer bauen Türme – mit ihren Körpern, die für sie die Welt sind. So zu sehen in „Turangalila“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Und Konstantin Tselikov, Nicolas Gläsmann, Lizhong Wang, Florian Pohl, Lennart Radtke, Luca Andrea Tessarini, Eliot Worrell und Graeme Fuhrman vervollständigen das vielseitige Bild von Männlichkeit, das Neumeier hier entworfen und zusammen gefügt hat, wie Puzzleteile einer großen Weltgesellschaft zeigen sie, wozu die männliche Kraft und ihr beherrschter Einsatz im Sinn der Schönheit und Erhabenheit fähig sind.

Es ist allerdings kein Zufall, dass bis auf Carsten Jung vor allem ganz junge männliche Tänzer hier brillieren können. Denn wenn „Turangalîla“ schnell ist, dann ist es blitzschnell, sagenhaft blitzschnell sogar – und diese atemlose Rasanz führt selbst leistungsstark trainierte Jungmänner an ihre Grenzen, so darf man vermuten (auch wenn man es faktisch nicht bemerkt).

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Zeigt ein großartiges Talent für die tänzerische Moderne: Xue Lin, die in „Turangalila“ in vielen Soli, aber auch in herzergreifenden Pas de deux mit Christopher Evans reüssiert. Foto: Kiran West

Bei den Damen mischen sich die Tänzergenerationen stärker, aber auch hier sind mit der hinreißend sich entwickelnden Mayo Arii und der besonders ausdrucksstarken Yaiza Coll, mit der schon oft gerühmten guten Springerin Lucia Ríos und der nimmermüden tollen Madoka Sugai, mit der hier ganz großartigen Xue Lin und der liebevoll-sanftmütigen Hayley Page viele ganz junge Damen an die exponierten Stellen gerückt.

Winnie Dias mit ihrer Eleganz, Nako Hiraki mit ihrer Sportlichkeit, Kristina Bobélyová mit ihrer Mädchenhaftigkeit, Sara Coffield mit ihrer frühen Reife, Emilie Mazon mit ihrer Grazie, Maria Tolstunova mit ihrer Erotik und Georgina Hills mit ihrer Spritzigkeit komplettieren das Weltbild „Frau“ hier, unterstützt von der mit Florian Pohl überraschend gut zusammen passenden Patricia Friza, der mit Marc Jubete reüssierenden Priscilla Tselikova, der mit Lizhong Wang akrobatisch meisterhaften Yun-Su Park und der mit Eliot Worrell fast schwebenden Miljana Vracaric. Nicht zu vergessen: das expressive Nachwuchstalent Greta Jörgens aus Bonn – das Mädchen ist aktuell eine von drei Aspirantinnen und wird sicher noch viel auf sich aufmerksam machen.

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Hand an Hand, so lieben Mann und Frau bei John Neumeier, in „Turangalila“, und ihre ausgestreckten Hände sind ein Symbol für die Zukunftsträume. Foto: Kiran West

In immer streng geschnittenen grauen, weißen, schwarzen, hellroten, weinroten, orangenen und buntroten Kostümen, mal gewickelt, mal gestretched, mal orientalisch, mal asiatisch, mal westlich anmutend symbolisieren die Paare – und immer wieder werden die Tänzer Paare – die verschiedenen Lebensstile, für die auf diesem Planeten Raum ist.

Dabei geht es nicht um Vollständigkeit, sondern um utopisches Potenzial. Die Ästhetik des Schweizer Modeschöpfers Albert Kriemler, der für seine Firma Akris hier tätig wurde, ist nah an Neumeiers eigene Entwürfe für moderne Kostüme angesiedelt (etwa vom „Weihnachtsoratorium“) – und sie trägt die Tänzer wie wolkige Stimmungen durch die Tanzstücke.

Da wird zunächst gezappelt und gezuckt, eine Jungmanntruppe scheint die Welt sozusagen aus dem Boden zu stampfen. Christopher Evans, der ganz zu Anfang im stillen Vorspiel mit Mut in den Lichtkreis trat, trägt weiße Jeans und ein T-Shirt und schaut zu, nimmt teil, schaut zu, nimmt teil…

Die Spannung hier entlädt sich immer mal wieder fast unerwartet, baut sich aber auch rasend schnell wieder auf.

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Tanz zu dritt: „Turangalila“ von John Neumeier lässt sich Beziehungen bewähren, aber auch zerbrechen… Foto: Kiran West

Das Bühnenbild des Hamburger Architekten Heinrich Tröger hat derweil zwei Aspekte: den eines Innenraums mit heller Decke voller Spotlights, ähnlich einer Konzerthalle, und den eines Außengebäudes, mit leichter Ähnlichkeit zur „Waschmaschine“ des Berliner Kanzleramts.

Die Modernität ist damit auch räumlich fasslich geworden, der Zeitenbezug nicht mehr wegzuschminken.

Das Licht, das wie die Choreografie von John Neumeier stammt, taucht die Bühne zudem mal in hippie-likes Knallorange ein, mal in ein kaltes, grelles Sci-Fi-Grau, das so außerhalb von Geisterszenen wohl noch nie im Ballett (zumal im modernen) zu sehen war. Wenn dann ein purpurlila Lichtkreis dagegen gesetzt wird, ahnt man, was für Höllen und was für Paradiese heutzutage zu imaginieren möglich sind.

„Turangalîla“ – das ist das Wort von der Liebe als Weltenkraft, und zwar in einem durchaus tänzerischen Sinn. Denn „Lîla“ bedeutet auf Sanskrit in etwa soviel wie „Liebe“ oder „Spiel“, auch „Bewegung“ im Sinne von Schönheit, und „Turanga“ soviel wie „Zeit“ oder „Rhythmus“ oder auch „Geschwindigkeit“. Musikalisch wird das von Messiaen, der zwei Jahre am Stück komponierte, voll eingelöst.

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Das Interieur ist zugleich eine Gebäudefassade: Das Bühnenbild von Heinrich Tröger ist ein Kunstwerk für sich in „Turangalila“. Foto: Kiran West

Zwei Themen – nämlich Weltenaufbau und Liebesglück – beherrschen aber auch das geordnete Gewusel und Gewimmel auf der Tanzbühne, von John Neumeier mit starker Logik und exzessivem Gefühl kreiert. So sind die Tänzer stets so genial im Tanzraum verteilt, dass man gar nicht merkt, dass die Bühne vom darauf sitzenden Orchester verkleinert wurde. Da stimmen die Proportionen, die Raumeinheiten und auch die Spannungsverhältnisse der bewegten Körper zueinander. Es ist ein solcher Augenschmaus!

Dem also nur scheinbar chaotischen Dasein wird so stets eine markante Kontur verliehen.

Wie sich hier schauspielerische Nuancen entfalten, ohne aufgesetzt zu wirken, und wie hier auch der Tanz pur (als l’art pour l’art) seine Urständ hat, ist unglaublich toll zu sehen.

Bezüge zur Naturhaftigkeit bietet die Choreo mit animalischen Einsprengseln. Die Vogelsprünge, die an Neumeiers „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ erinnern, die Vogelschwingen-artige Armarbeit, die fetzig-schnellen Sprünge auf dem Platz mit einwärts gedrehten Füßen – all das gemahnt daran, dass auch der Mensch ein Tier ist, der Naturwelt zugehörig, was einen Großteil seiner Grundausstattung angeht.

Neumeier arbeitet zudem stärker denn je mit Kontrasten: Entweder die Tänzer dehnen sich langsam von Pose zu Pose oder sie rasen furios über das ohnehin meist schnelle Tempo der Musik hinweg. Entweder sie üben das hitzige Leben im Urknall-Format oder sie schenken einander Ruhe und sanfte Harmonie.

Und dennoch wird hier nicht das Paradies auf Erden versprochen: Wo die Höllenritte ausbleiben, ist auch das positive Gefühl weniger euphorisch, weniger dramatisch ausgelegt.

Doch alle suchen – nach ihrer zweiten Hälfte, ganz im Sinne des Platon’schen Symposiums.

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Sie sind das Musterpaar der funktionierenden Liebe in „Turangalila“ – und dennoch sind auch sie zeitweise wieder allein. Carsten Jung und Hélène Bouchet. Foto: Kiran West

Mit ausgestreckten Armen laufen Alexandr Trusch (zwischen furiosen Sprüngen und Pirouetten) und Mayo Arii aufeinander zu – und später auch wieder aneinander vorbei. Man findet sich und trennt sich, ganz einfach, weil man einander verliert, ohne erkennbaren Grund, ohne Streit, ohne Zoff, ohne Tragik. Ist das womöglich die eigentliche Tragik? Dass man in der Moderne, bindungslos und glückselig nur mit sich allein, nichts und niemanden wirklich festhalten kann?

Andere Paare finden sich, verlieren sich. Und dann finden sie sich wieder – aber das Mädchen wird geraubt. Zwei andere Männer drängen sich ihm auf, es kann nicht gehen, die Männer wirbeln es durch die Luft. Die wahre Liebe aber, sie hielt hier nicht viel aus.

Und man kann es auch so sehen: Alles hat seine Zeit, nichts ist von ewiger Dauer. Schon gar nicht eine menschliche Partnerschaft. Liebe als Liebe ist ein Wert – nicht nur, wenn sie lebenslang halten soll.

Carsten Jung und Hélène Bouchet hingegen zeigen, wie ein Paar bereits mit tiefer innerer Verbindung starten kann, um erst später das Zueinanderfinden und Sichverlieben in den anderen zu demonstrieren.

Ihre Lovestory hier ist womöglich angeregt von der realen Tatsache, dass die zwei ein Pärchen sind.

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Florencia Chinellato und Edvin Revazov – ein Paar voll Charme, postmodern, aber sich gegenseitig haltend… in „Turangalila“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Edvin Revazov und Florencia Chinellato hingegen agieren bewusst nicht nur harmonisch, sondern diffiziler, „kantiger“, wenn man so will, um dann die Momente der Nähe ganz besonders zu feiern. Etwa mit bildschönen Hebungen!

Und auch die schwarz gekleideten Paare, die vor allem ein lang anhaltendes Kopfüber von den Damen verlangen, machen glücklich, entsprechen sie doch so sehr den heutigen jungen Paarbeziehungen.

Ja, man hält schon zueinander. Aber es muss nicht für die Ewigkeit sein, scheinen sich alle zu denken – und kommen dann doch wie automatisch immer wieder in derselben Paarkonstellation zusammen.

Trusch und Arii sind da mustergültig für Zeitgenössisches. Wenn er zwei Mal aus dem Liegen in den Handstand kommt (Wow! Immer wieder!) und sie mit formvollendeten, bildschönen abgerundeten Armbögen lockt – dann meint man schon, dass diese zwei wie geschaffen füreinander sind.

Aber die Missstimmungen, die scheinbar grundlos auftauchen – von der mitunter erotisch unzufriedenen, mitunter aber auch vor Lust nur so berstenden Musik gespeist – führen die Menschen auseinander. Als seien sie manipuliert, und das Neue an ihnen: Sie wollen noch nicht einmal wissen, was mit ihnen geschah.

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Die Frauen agieren sehr dominant in John Neumeiers „Turangalila“ – und dennoch hat niemand ein Problem mit ihrer Weiblichkeit. Foto: Kiran West

Die Reize sind zu stark, um sich zu widersetzen: Und genau so agieren Menschen heute, in einer globalisierten Konsumwirtschaft, in der sogar in der Wüste noch ein Werbeplakat für Coca Cola herumstehen mag.

Der Mensch produziert derweil Wüste und Wüsten, immer mehr – Millionenweise gehen Tonnen von Erdgut jährlich dadurch verloren, dass Monokulturen und zu intensiver Anbau die Erde mit ihren notwendigen Mikroorganismen darin töten. Unsere Welt wird dadurch faktisch kleiner, jedenfalls die Fläche, die wir für uns nutzen können. Während die Menschheit weiterhin wächst und wächst und wächst – bis zum Overkill.

Auch daran muss man denken, zumal die fruchtig-frischen Farben der orangenen Flatterstoffe hier nicht nur an Maurice Béjart erinnern.

Das allerdings auch: Béjart hätte an diesem Werk seines Freundes Neumeier seine Freude gehabt, ganz klar. John Neumeier kommt ohne die lasziv-plakativen, Bauchtanz-ähnlichen Erotizismen Béjarts aus.

Aber andeutungsweise steckt Béjart hier drin, kein Wunder beim indisch-asiatischen Flair dieses Balletts, das schon der 2007 verstorbene französische Altmeister des modernen Balletts so sehr schätzte.

Und während die Jungmänner immer weiter Welten aufbauen und sie dann abstürzen lassen – symbolisch erklettert oft ein Junge einen Turm aus Menschenkörpern, um dann gezielt wie ein Lemming zu Boden zu gehen – bringen die Damen das aufbauende, neugierig zustrebende Element in die Choreografie.

Es ist vor allem bei den Pas de deux auffallend, wie viel Dominanz Neumeier den jungen Damen zuspricht.

Da scheinen sie ihre Männer mit der flachen Hand auf einem Bein zu drehen.

Da heben sie ihre Oberkörper an und senken sich selbst mit ihnen ab.

Da lassen sie sich minutenlang in einer Position (zum Beispiel der vierten) auf den Zehenspitzen halten – und preisen mit ihren Körpern dennoch die weibliche Macht, mit furchtlos gehaltenen Armen und aufrecht gestelltem Kopf.

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Christopher Evans noch einmal in diesem Paradepart in „Turangalila“: Am Anfang wie am Ende ist der Mensch in der Moderne nur er selbst. Foto: Kiran West

Der fünfte Satz ist hier vielleicht der schönste, der munterste, fröhlichste auf jeden Fall. Schon bei der „Ballett-Werkstatt“ zu „Turangalîla“ berückte er mit seinen freudig hüpfenden und drehenden Frauen. Im Kontext der ganzen Aufführung ist dieser Aspekt noch um die Nuance der Ausnahme bereichert. Himmlisch.

Denn natürlich ist hier viel Nachdenkliches eingeflochten. Handbewegungen, schlängelnd oder kantig, zeigen das Bemühen der Menschheit um Verständigung. Auch um Selbstausdruck. Um Leben und Überleben trotz oder wegen der ständig drohenden Katastrophen.

Denn darum stehen sie hier alle so unter Strom: Unter der Oberfläche der seichten Winde brauen sich die Stürme zusammen.

Immer wieder muss man befürchten, eines von diesen Klanggewittern sei tödlich für den Tanz, für die tanzende Menschheit hier.

Aber irgendwie sind sie rechtzeitig auf und davon gelaufen – und hier wird viel gelaufen, im typischen Neumeier-Impetus, mit nach oben geöffneten Handflächen, Rettung erwartend, Freude erhoffend.

Und auch das Schlussbild beeindruckt, ein phänomenales Finalebild ist es, das endlich einmal alle Tänzer vereint. Allerdings ist es gar nicht starr und steif wie noch stets bei George Balanchine, sondern es wirkt hingerotzt und hingezutzelt, ganz so, als liefen sich die Menschen hier zufällig übern Weg. Jackson Pollock fällt einem ein, die Kleckse als kongenialer Ausdruck spontaner Befindlichkeit, sie sind hier vom Corps personifiziert.

Und trotz einiger glücklich-melancholischer, durchaus inniger Momente mit Xue Lin bleibt Christopher Evans am Ende allein – der Mensch der Moderne an sich hat kein Gegenüber mehr. Nur noch sich. Er breitet seine Arme langsam aus, die Handflächen nach oben gekehrt…

Der Applaus tobte bei der Uraufführung – fast war man überrascht, wie gut die heutigen Ballettbesucher auch so hammerhart atonale Werke – auch tänzerisch kann man von Atonalität sprechen – goutieren.

Der Mensch an sich - in der Welt und in der Liebe.

John Neumeier ist ein sensibler Mann, der seine Träume vom Tanz mit genialer Allgemeingültigkeit umsetzt. Hier schließt er für einen Moment der Besinnung bei seiner Rede auf der Premierenfeier von „Turangalila“ die Augen, ein passionierter Augenblick. Foto: Gisela Sonnenburg

John Neumeier ist und bleibt und ist es immer wieder: der absolute Meister der künstlerischen Innovation, zudem unerreicht in ästhetischer wie inhaltlicher Hinsicht.

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Natürlich war er hellwach – und dankte bei der Premierenfeier seinen Tänzern: John Neumeier nach der Uraufführung von „Turangalila“ in der Hamburgischen Staatsoper. Foto: Gisela Sonnenburg

Bei der Premierenfeier dankte er indes auch seinen Tänzern, denen für „Turangalîla“ laut Neumeier „ein Höchstmaß an Technik, ein Höchstmaß an Musikalität und ein Höchstmaß an emotionaler Hingabe“ abverlangt wird.

Dankeschön für diesen Meilenstein der Ballettgeschichte.

P.S. Ein kleiner Nachtrag: Diese Rezension habe ich mit frisch angebrochener Zehe geschrieben, indianerhaft, ohne Schmerzmittel. Die Unfallchirurgie vom UKE, wo ich frühmorgens gelandet war, muss aber sehr gelobt werden.
Gisela Sonnenburg

Zur Entstehungsgeschichte des Balletts „Turangalîla“:

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-214-ballett-werkstatt/

Termine: siehe „Spielplan“

www.hamburgballett.de

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