Wie der Geschmack von Salz auf nackter Haut Carsten Jung als Eugen Onegin in John Neumeiers aktueller Version von „Tatjana“ – ein heißblütiges Phänomen

Winter in Hamburg

Melancholische Onegin-Stimmung… Ein Tag mit Wintersonne in Hamburg – finde einen Baum! Foto: Gisela Sonnenburg

Wenn man an einem kalten, aber hellen Wintertag vor die Tür geht, ein paar blattlose Bäume findet, die einem stumm das Verständnis der Natur entgegen halten, wenn man in den blassen Himmel schaut und Schneefall erwartet, dann ist es Zeit, sich erneut mit der Liebesgeschichte von Tatjana und Eugen Onegin zu beschäftigen. Man sollte das regelmäßig und mindestens einmal im Jahr tun, denn diese gebrochene Love story aus Russland trifft den Kern unserer Zivilisation, was die existenziellen Probleme bei der Verpartnerung, bei der Sozialisation von Liebe angeht.

Winterhimmel

Die Kraft des Himmels… auch im Winter zu genießen. Foto: Gisela Sonnenburg

John Neumeier hat ein traurig-poetisches Wintermärchen aus der dagegen regelrecht profan anmutenden Versromanvorlage von Alexander Puschkin gemacht: ein Ballett wie aus dem kristallsatten Eisschrank der Legenden. Die Zartheit der Gefühle wird ernst genommen, nicht sarkastisch kommentiert; die unwahrscheinlichen Abenteuer der Hauptfiguren erreichen auf der psychologischen Ebene so etwas wie Wahrhaftigkeit. Die Musik von Lera Auerbach unterstützt das mit singenden Sägen, trompetenden Fanfaren und dramatisch-drohenden Unwettern jedweder Couleur. Aber was bei Puschkin in „Eugen Onegin“ noch aus rein männlicher Perspektive beschrieben wird, ist in „Tatjana“ aus Frauensicht begreifbar. Das betrifft auch den liebenden Blick eines jungen Mädchens auf einen erfahrenen Mann, der aus zunächst rätselhaften Gründen ihr Innerstes berührt – und sie dann, ohne es zu wollen, zu einer lebenslang anhaltenden Liebe verführt.

Wie intensiv die Hamburger Starballerina Hélène Bouchet diese Rolle, die mit ihr und für sie geschaffen wurde, tanzt, habe ich vor einigen Tagen an dieser Stelle bereits beschrieben (siehe Artikel im Ballett-Journal: „Der Geschmack von Schnee auf nackter Haut“). Ich habe auch schon erwähnt, dass ihr Tanzpartner der Uraufführung, Edvin Revazov, ein Rückenleiden auskurieren muss und die Rolle des Eugen Onegin darum eine Neubesetzung erforderte. Jetzt ist der Vorstellungsblock mit Carsten Jung in der männlichen Hauptrolle abgespielt – und die meisten Zuschauer, gleichermaßen Zeitzeugen einer Verwandlung eines solchen Balletts, dürften bei jeder Performance mit Jung als Eugen das Gefühl gehabt haben, einer Premiere, mehr noch: einer innovativen Erneuerung des Tanzes, beizuwohnen.

Der Umwandlungsprozess auf der Bühne beginnt jeden Abend erneut: mit den jeweils ersten Auftritten dieser fast dubiosen, zwischen Ritterlichkeit und Frauenverachtung schwankenden Theaterfigur, diesem Onegin, der außer Ausschweifungen und gehobenem Kulturgenuss keinen tieferen Lebenssinn wahrhaben will. Jung ließ sich für diese Rolle eine Glatze scheren, um der kopfhautähnlichen Silikonmaske und ihrer künstlichen Schweißtreibung zu entgehen. Stoppelig wachsen seine Haare nun nach, bei der letzten Vorstellung am 20.11.14 sah er wie ein klassischer Sträfling aus oder auch wie ein aus Deutschland nach Russland verirrter Woyzeck.

In Szenen, in denen sein Vorgänger Edvin Revazov bewusst stoffelig und seltsam hilflos-fremdartig im kulturellen Gefüge wirkte – woraus sich eine eigenartig-bodenlose, zugleich ins Zeitlose überhöhende Faszination ergab – ist Carsten Jung ganz Mann, ganz bodenständig: ein Charmeur aus Gewohnheit, mit verinnerlichter Lässigkeit und sogar Nachlässigkeit. Weil er aber zugleich seine Seele auf der Haut spazieren zu führen scheint, wirkt er merkwürdig anrührend. Man versteht Tatjana: Sie verliebt sich in diesen Solitär, weil er zugleich innerhalb und außerhalb der Gesellschaft steht. Er wirkt stark und schwach zugleich, kommt ihr manchmal sehr nah und bleibt dennoch innerlich fern. Das bleibt bis zu den Schluss-Pas-de-deux so: Erst dann kehrt sich dieses Verhältnis um, plötzlich liebt und begehrt er sie, die ihm nun gesellschaftlich wie psychologisch überlegen ist, während sie versucht, die Gefühle für ihn zu unterdrücken und sich vor der auch selbstzerstörerischen, weil übergroßen Fleischeslust zu schützen. Maßlose Begierde ist hier die Gefahr, die von Onegin für Tatjana ausgeht – die sozialen Gegebenheiten, die Sicherheit der Ehe und der gesellschaftlichen Akzeptanz sind dagegen eher weniger evident.

Liebe wie unter Tieren

Ein Liebespaar im Dilemma: Carsten Jung als Onegin mit „Tatjana“ Hélène Bouchet. Foto: Holger Badekow

So, wie Hélène Bouchet das tanzt und spielt, würde sie übrigens auch eine fantastische Polina in Dostojewskis „Der Spieler“ abgeben: Diese ist zudem arrogant, aus einer Art Selbstschutz heraus, ansonsten aber ist die innere Gefühlslage der beiden Frauenfiguren überwiegend deckungsgleich. Polina wie Tatjana leben unter Spannung, verbergen emotionale Abgründe in sich, kultivieren aber zugleich deren Offenhaltung, als wollten sie nicht, dass ihre seelischen Wunden heilen und hässliche Narben schlagen.

In Hélènes Tatjana jedenfalls brodelt es heftig. Sie weiß auch um ihren Zustand, sie weiß, dass ihre Ehe mit einem mit Orden dekorierten Adligen für sie die schier unerträgliche Langeweile einer ungesalzenen Speise birgt. Und natürlich wartet sie latent auf mehr, lauert auf die Gelegenheit zu einem Abenteuer, auch wenn sie sie dann nicht ergreifen würde. Sie ist voller Verlangen und Sehnsucht. Aber: Sie hat sich bereits angewöhnt, ihre Neigung zum Exzess lediglich in Träumen und Tagträumen auszuleben.

Darum lässt Neumeier sie auch als ausgereifte Erwachsene noch mit dem großen Teddy spielen, darum setzt er sie ganz am Ende versonnen und selbstversunken ins Fenster, wo sie einerseits Ausschau und andererseits innere Einkehr abhält: als sei sie nicht oder nicht mehr von dieser Welt. Die eigenen Liebesqualen zelebriert sie dabei wie ein Ritual, zügelt sich darin zugleich und wirkt darum wie darüber erhaben. Aber wenn sie ihr letztes Solo tanzt – es sind fast nur Arm- und Handbewegungen der malerisch ins Fenster gelagerten Tatjana – dann ist das wie eine notwendige Abrechnung mit ihrem Schicksal: Sie hat sich für das eigene Überleben entschieden, das sie durch eine ausgelebte Liebe mit Onegin, diesem testosterongesteuerten Vergnügungssüchtigen, stark gefährdet sehen müsste. So banal, so scheint es, will sie nicht an ihrer Liebe sterben – und den eigenen Untergang noch nicht einmal riskieren.

IST DIE LIEBHABERIN KLEINLICH?

Das mag auf den ersten Blick kleinbürgerlich und bieder wirken, erhält seine Würze und Glaubhaftigkeit aber dadurch, dass Hélène Bouchets neue Tatjana sich ganz sicher ist, an der angenommenen Liebe des Onegin letztlich sterben zu müssen. Carsten Jungs Eugen Onegin verkörpert folgerichtig das starke Suchtpotenzial von purem Sex – es würde die zarte Tatjana wörtlich übermannen und ohne Aussicht auf Rettung in die Abgründe ihrer versammelten Traumata stürzen. Ein Tod durch Drogen oder Suizid wäre ihr sicher, und sie könnte keine Therapie dagegen akzeptieren. Liebe und Tod würden für Tatjana ein und dasselbe. Man erinnert sich an „Mayerling“, dieses großartige Ballett von Kenneth MacMillan, in dem es genau um diese Problematik geht. Hélènes Tatjana ist allerdings zu klug, um ihr Leben und damit ja auch ihre Liebe leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Lieber bewahrt sie sich ihre Gefühlstiefe in einer Art Keuschheit – und schickt den zu spät zu ihr einkehren wollenden Onegin in die Wüste.

Für Carsten Jungs Onegin ist das ein Schock, und es ist fraglich, ob dieser Dandy jemals wieder er selbst sein wird, jemals wieder unbelastet wird leben können. Wahrscheinlich wird er untergehen. Er ist ohnehin ein Verletzter und Gequälter, leidet seit dem Duell mit seinem ehemaligen Freund Lensky unter starken Schuldgefühlen. Jung spielt das grauenvoll gut, man bekommt eine Gänsehaut und möchte wahrlich nicht mit ihm tauschen, obwohl er nach außen hin das freie Leben des nonchalanten, ungebundenen Dandys so köstlich zu verkörpern weiß. Aber er ist und bleibt ein Mörder, wenn auch kein verurteilter – dieses Stigma der Unberechenbarkeit ist gerade für Tatjana nicht zu ignorieren.

EIN UNKONTROLLIERBARER KERL

Carsten Jung würde mit dieser seiner Spielhaltung übrigens auch einen fantastischen Alexei aus Dostojewskis „Der Spieler“ abgeben: Ein Spieler nicht aus jugendlicher Naivität, sondern aus einer Art verfrühter Lebensenttäuschung. Ein Spieler ist sein Onegin sowieso, von Beginn an, aber er spielt nicht (nur) mit Karten oder im Kasino, sondern vor allem mit seinen Mitmenschen. Jungs Onegin gefällt sich in der Position dessen, der manipuliert und anderen die Suppe versalzt. Nur deshalb kommt es zum Ausnutzen der Leichtlebigkeit von Lenskys Verlobter Olga (schön verspielt: Leslie Heylmann). Und nur darum können die ehemaligen Freunde Lensky und Onegin einander sehr bald nur noch hassen.

Lensky – wie bei der Uraufführung erneut sensationell lyrisch, sensationell temperamentvoll, auch sensationell sexy getanzt von Alexandr Trusch – hasst Onegin mit der Leidenschaft eines Kindes, dem man sein Lieblingsspielzeug wegnahm. Onegin hingegen hasst kalt, wie ein Mafiosi, dessen Mackerehre angekratzt wird. Ganz cool nimmt er Lensky die Wodkaflasche aus der Hand und trinkt daraus, nachdem der junge Irrwisch ihm desavouierenderweise Wodka ins Gesicht geschüttet hat. Die zur Schau getragene Soueränität von Onegin in Jungs Interpretation gibt Lensky den Rest. Sie provoziert ihn stärker, als jeder Ringkampf oder jede Ohrfeige ihn hätte provozieren können. Der Eklat ist da, das Duell im Grunde schon entschieden: Gegen den Hitzkopf Lensky hätte wohl jeder gewonnen, da muss man kein versierter Schütze sein.

Tatjana und Onegin

Eine im Grunde psychologisch plausible, aber auch psychedelische Liebe: „Tatjana“! Foto: Holger Badekow

Dennoch erschreckt man sich fast zu Tode, wenn nach einem qualvoll zeitlosen Pas de quatre mit zwei Schattenmännern als Sekundanten (Sasha Riva und Marc Jubete als unbezahlbar intensive Todesengel) zugleich zwei Schüsse erschallen und der getroffene Lensky erstarrt, sein ausgetretenes Blut befühlt und zu Boden sinkt. Auf Onegins Gesicht spielt sich jedoch sofort der Film seines kommenden Lebens ab: Im Grunde wird er immerzu auf der Flucht sein, vor sich selbst, vor dieser Schuld, vor dieser Katastrophe, die er mit nichts wieder ausheilen kann.

Als er Tatjana nach vielen Jahren wieder sieht – sie ist mittlerweile via Eheschließung zum Zentrum einer großstädtisch-toleranten Sphäre emporgestiegen – entbrennt genau dieser Wunsch in Onegin: Das Vergangene zu vergessen und sogar wieder gutzumachen. Indem er Tatjana sein Begehren offeriert. Und tatsächlich charmiert er nur kurz, schon hat er sie wieder in der Hand, führt sie elegant in gewagte Posen, sie ist wie Wachs in seinen Händen.

DER EHEMANN LEISTET KEINEN WIDERSTAND

Ihr Ehemann hat dazu in Neumeiers Version im Grunde noch Beihilfe geleistet. Dario Franconi ist hier eine nicht nur tapfere, sondern auch neu interpretierende Zweitbesetzung, nachdem Carsten Jung, der die Partie zuvor getanzt hat, in die Rolle des Onegin wechselte. Er bleibt unterkühlt, er heiratete nicht nur aus Liebe, sondern auch aus Kalkül – mag sein, dass die Ehe mit Tatjana nicht ohne sexuellen Grund kinderlos blieb. Dieser Prinz N. hier brauchte eine Gattin zum Vorzeigen, und da kam ihm das hässliche Entlein Tatjana aus der Provinz – wohl behütet und intelligent, aber noch entwicklungsfähig – gerade recht. Die Ehe besteht in freundschafticher Zuneigung (auch eine Form der Liebe, wenn auch nicht die leidenschaftlichste) – und auch darin, dass sich die Ehepartner gegenseitig weitgehend in Ruhe lassen. Was der Prinz N. dann in seiner „Freizeit“ vom Ehestand alles so treibt, wissen wir nicht. Aber Tatjana hat genügend Muße, sich ihren Träumereien hinzugeben. Sie ist ein wenig wie die Kaiserin Sisi, die ihre Depressionen mit sinnlosen Hungerkuren, aber auch mit dem Verfassen von Gedichten bekämpfte. Nur genügen Tatjana ein offen stehendes Fenster und einige prunkvolle Vorhänge daran – immer wieder wird sie sich an ihren Traum vom Bären erinnern, den sie hatte, nachdem sie sich als junges Ding in Onegin verliebte.

Carsten Jung als Onegin

Leben statt Liebestod? „Tatjana“ mit Carsten Jung und Hélène Bouchet. Foto: Holger Badekow

Jetzt entführt sie ihn in einen verschneiten Birkenwald, sie begegnet ihm einmal mehr auf einer Parkbank – der locus amoenus schlechthin hier – und weiß doch im Grunde nichts mehr mit ihm anzufangen. Jetzt, wo es auf einmal so leicht ist, ihn zu lieben, weil er es neuerdings von ihr verlangt, scheint das Gefühl der Sehnsucht nicht wirklich stand zu halten. Erfülltes Glück ist, so dämlich das klingt, oberflächlich im Vergleich zu dem jahrelangen Sehnen nach einer Person, die unerreichbar scheint. Da müsste eine Steigerung, eine Veränderung des Gefühls eintreten – und genau davor empfindet Tatjana (nicht ganz ohne Grund) übergroße Ängste.

Er ist schon ein toller Hecht, ihr Onegin, aber auch ein unkalkulierbarer Wildling. Gestern erschoss er seinen besten Freund, was wird er morgen tun? Sein Leben lang hat er Verantwortung auf andere abgewälzt, sich amüsiert, als gebe es kein Morgen – wie würde er sich als Partner verhalten, dieser geborene Junggeselle? Und sie? Was würde eine feste Bindung an ihn für sie bedeuten? Könnte sie an ihren Träumen, über die sie sich existenziell definiert, festhalten?

AUSPROBIEREN DES RISIKOS

Sie probiert ihn als erotischen Partner aus, erst im Schnee, von dem sie kostet, dann in ihrem Schlafzimmer, in das er einbricht wie ein zwanghaft Getriebener, der nicht mehr leben kann ohne diese Frau, ohne sie zu sehen, zu spüren, zu küssen. Hier schmeckt er das Salz auf ihrer nackten Haut. Hier will er alles von ihr, fühlt sich zugleich unterlegen und unerfahren in der Position als Bittsteller und Nehmender. Als sie ihm über den Kopf streicht, ist er jedes Mal wie entwaffnet. Der heftige letzte lange Pas de deux enthält jetzt im Vergleich zur Urauffühung viele neue Elemente, von einem fast gewalttätigen Beischlaf à la „Der letzte Tango in Paris“ bis zu einer ätherisch transzendierten postkoitalen Spannung im Stehen.

Doch es hilft Onegin nichts, all seine Künste als Liebhaber bedeuten jetzt erst recht sein Verderben, denn gerade seine Routiniertheit, aber auch seine Befähigung zur völligen Hemmungslosigkeit muss eine Person wie Tatjana abwehren, um nicht daran zu ersticken. Das Triebschicksal hat diese beiden Menschen zusammen geführt, um sie auch wieder zu trennen – oder wahlweise zu töten. Es müsste spannend sein, die Psychogramme von Onegin und Tatjana bis in ihre frühe Kindheit zurück zu verfolgen: Man würde wohl ähnliche Traumatisierungsformationen finden können.

Die Sichtbarmachung dieser Konstellation ist zweifelsohne der Neubesetzung zu verdanken. Zwischen diesem Onegin und dieser Tatjana leuchten derart viele Facetten der sexuellen Passion auf, dass das Dilemma der beiden klar wird, es schält sich im Laufe der Handlung heraus wie ein Zwiebelkern, der von den Schalen befreit wird.

Handlung? Ja: Handlung. Denn Neumeier, der als Künstler keineswegs überheblich, sondern demütig und einsichtig ist, hat mit seinem Team ordentlich an „Tatjana“ herumwerkeln lassen. Mit Erfolg: Die zunächst schwer verständliche dreistündige Szenencollage, die sich mehr assoziativ als konnotativ formulierte, wurde zu einem überschaubaren, motivisch erkennbar geordneten Handlungsballett. Es ist ja enorm, was alles darin steckt, und eine Doktorarbeit allein würde zur Beschreibung und Analyse dessen nicht ausreichen. Aber es ist auch phänomenal zu sehen, wie sich aus dem anfänglichen Chaos der Uraufführung – das auch zu genießen war, wohlgemerkt – die Leitfäden herausarbeiten und verstärken lassen, wenn der Urheber die Änderungen nur zulässt.

Dank an John Neumeier! Dank auch an seine Ballettmeister und seine Choreologin Sonja Tinnes, dank mal wieder vor allem aber an Hamburgs Ersten Ballettmeister Kevin Haigen, der Neumeier seinen Laden so gut in Schuss hält, dass andere Compagnien von dieser Sorgfalt – trotz Schnelligkeit – vermutlich nur träumen können. Das Stück gewann viel an Leichtigkeit, an Geschmeidigkeit, an Transparanz und Nachvollziehbarkeit. Nicht nur bei den Hauptpersonen! Vor allem der erste Teil (bis zur Pause) mutet nun an wie ein bereits vollendetes Ballett, wie ein Film, der um die Erschießung eines Freundes durch seinen Freund und um die verhinderte Liebe eines zart fühlenden Mädchen kreist. Mit sogar für die hochkarätigen Hamburger Verhältnisse seltener Einmütigkeit boten Solisten und Ensemble ein ergreifendes Tanzschauspiel: Ballett, technisch wie psychologisch, vom Feinsten.

TATJANA!

Der zweite Teil dann nahm sich wie ein schwerer, alter Rotwein gegen prickelnden Champagner aus. Manche Szenen waren sogar steinalter Malt Whiskey on the rocks! Die Gefühlslage Tatjanas beherrschte die Bühne, sich unter der glitzernden Oberfläche von Fröhlichkeit und Gediegenheit zunehmend verdüsternd, erschwerend, nach Auswegen suchend. Diese Frau lernte, mit ihren Entsagungen und den daraus resultierenden Depressionen zu leben, und es ist vielleicht genau das, was Onegin auf einmal so antörnt. Da ist etwas, das er nicht kann und auch zuvor auch nie können wollte. Da ist eine Selbstbeherrschung und Disziplin, die zwar Balletttänzer hervorragend drauf haben, die der Figur Onegin aber völlig wesensfremd ist.

Insofern ist es noch bewundernswerter, was Carsten Jung als Eugen Onegin hier vermochte: Ein neues Ballett ist geboren, und sein Titel zitiert ganz richtig die Uraufführung vom letzten Sommer beim Hamburg Ballett: „Tatjana“!
Gisela Sonnenburg

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