Der Geschmack von Schnee auf nackter Haut John Neumeiers "Tatjana" – nach Puschkins "Eugen Onegin" – wird in Hamburg und in Moskau getanzt

Tatjana ist Onegins Geschichte aus der Frauensicht

Hélène Bouchet und John Neumeier in Hamburg während der Kreationsproben zu „Tatjana“. Foto: Holger Badekow

Der Choreograph und Allround-Künstler John Neumeier formulierte vor vielen Jahren mal einen Satz über sich, auf seine Stücke bezogen: „Ich bin Mann, ich bin Frau – ich bin sie alle!“ Für seinen jüngsten großen und auch abendfüllenden Wurf, für das geniale Dreistundenstück „Tatjana“, beherzigte Neumeier seine Devise – und fühlte sich ganz in die Titelgestalt ein.

Als Hilfe und Vorlage diente ihm das heimliche russische Nationalepos, der Versroman „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin. Darin heißt es: „Was treibt Onegin? Halb schon träumend / Fährt er zum Schlafen heim vom Ball: / Doch Petersburg, stets lebensschäumend, / Ist schon geweckt mit Trommelschall.“

Was ist das für ein Typ, dieser Onegin, der nun schon zwei große Ballette sowie auch eine Oper – von Peter I. Tschaikowsky“ – füllt? Onegin, dieser Dandy, der die Nächte durchfeiert, der Theateraufführungen und Feste konsumiert wie andere Leute die BILD-Zeitung, er ist ein anderer Intellektueller, ein verstecktes Alter ego von Puschkin selbst, wenn auch aufgehoben in der noblen Sphäre der Oberschicht im 19. Jahrhundert. Aber als er das Mädchen Tatjana trifft und ihr Potenzial erkennt – sie ist von schwärmerisch-tiefsinnigem Temperament und großer Schönheit – verliebt er sich wider Willen in sie – allerdings etliche Jahre zu spät.

Anders ergeht es Tatjana. Es funkt zwischen ihr und Eugen ja bereits bei einem Spaziergang, als sie noch recht jung ist. Eugen und sie diskutieren da zwar Bücher, aber im Subtext geht es darum, dass sie – sexuell noch unerfahren – seine Gattin oder Geliebte werden möchte. Sie will teilhaben an seinem Erlebnisschatz, hat sich Knall auf Fall in ihn verliebt. Er wiederum beflirtet sie, als wäre er der Lehrmeister und sie ein Schulmädchen. Das ist ein Spiel für ihn, nichts Ernstes. Aber sie schreibt ihm einen schmachtenen Liebesbrief – und tritt ihm damit zu nahe.

Onegin nach Frauenart

Bei John Neumeier steht Tatjana im Mittelpunkt, nicht Eugen. Es ist eine seltsam unerfüllte Liebesgeschichte einer starken jungen Frau. Foto: Holger Badekow

Bei Puschkin gibt er ihr schon auf dem Spaziergang einen Korb, weil er sich nicht verheiraten will, wie er sagt. Wohl schon gar nicht mit einer noch unreifen jungen Dame aus der Provinz. Tatsächlich bleibt Eugen ledig, offenbar lebenslang: ein Frauenheld, ein unsteter Eroberer, ein promiskuitiver Zyniker. Und Tatjana? Die findet bei einem anderen Mann ein sanftes, kleines Glück, das ganz anders ist als das erhoffte mit Eugen – und das ihrer Liebe zu dem aufregenden Dandy nichts entgegenzusetzen hat und diesem Gefühl auch kein Ende setzt. Alles läuft auf eine nochmalige Begegnung von Eugen und Tatjana hinaus… Geschickt ist der Roman auf diesen Endpunkt hin komponiert.

Aber warum steht bei Puschkin Onegin im Zentrum dieser Love story? Der scharfsinnige russische Dichter Fjodor M. Dostojewski befand über das Werk seines Kollegen: „Vielleicht wäre es besser gewesen, Puschkin hätte seinen Roman nach ihr ‚Tatjana Larina’ genannt, und nicht nach ihm ‚Eugen Onegin’, denn sie, nicht er, ist der Held.“ Insofern hat John Neumeier mit der Uraufführung seiner „Tatjana“ im Sommer 2014 bei den Hamburger Ballett-Tagen eine Dostojewski’sche Forderung verwirklicht. Lust dazu hatte schon seit 2007 – und auch an „seine“ Komponistin Lera Auerbach dachte Neumeier von Anfang an.

Die russischstämmige Amerikanerin Auerbach ist übrigens im selben Jahr geboren, in dem John Neumeier in Hamburg sein Amt als Ballettboss antrat, 1973. Er entdeckte sie für sich, als er sein Stück „Préludes CV“ nach ihren Musiken choreographierte. 2005 wurde das erste gemeinsam entstandene Werk uraufgeführt: „Die kleine Meerjungfrau“, die seither ihren Siegeszug durch hochkarätige Ballettcompagnien in der ganzen Welt antrat. So tanzte man das Stück auch schon beim Theater mit dem wirklich scheußlichen Namen „Stanislavsky and Nemirovich-Danchenko Moscow Music Theatre“. Auerbachs Musik – schwierig, aber schön und tanzgerecht – kam dort, in Moskau, besonders gut an, sodass „Tatjana“ eine Kooperation der Hamburgischen Staatsoper, des Hamburg Balletts und des Moskauer SNDMMT ist. Die Kosten explodierten dabei leicht, was durch eine Spende von rund 100 000 Euro von Hamburger Förderern aufgefangen wurde. Die Neumeier-Mäzenin Else Schnabel legte dann freundlicherweise nochmal was drauf.

Am 7. November 2014 war die Moskauer Premiere von „Tatjana“ mit der Superstarballerina Diana Vishneva. Vishneva hat sicher ihre besten Tage hinter sich und litt dem Anschein nach zeitweise heftig an zuviel Botox in der Stirn. Sie hat aber nach wie vor eine körperliche Ausstrahlung, die berührt und jeden, der dem Ballett zugeneigt ist, gefangen nehmen kann. Ihr Vorzug ist nicht nur der Starkult, den man mit ihr betreiben kann, sondern auch, dass sie Reife hat, also Erfahrung und Sicherheit. Ihre Präsenz mit Gefühlen und auch Gefühlsmelangen auf der Bühne ist nahezu sprichwörtlich!

Tatjana tanzt mit ihrem Mann

Hier tanzt eine Frau, die sich nicht einengen lässt, obwohl sie Kompromisse eingeht: Tatjana, kreiert von John Neumeier für Hélène Bouchet. Foto: Holger Badekow

Schwer hat es die Hamburger Tatjana dagegen allerdings nicht, denn auch Hélène Bouchet hat viel Erfahrung in großen Partien, sie ist gerade in der Verbindung von Mädchenhaftigkeit mit Weiblichkeit eine Spezialistin. Bei der Uraufführung von „Tatjana“ wusste sie mit präziser Technik und edelmütiger Haltung zu überzeugen – und was an ihr besonders zu genießen ist, ist die Schönheit in jeder Bewegung und die entsprechend konsequent feinen Linien. Wenn sie auf der Bühne stirbt, ob als Julia oder als Desdemona, ist es sogar eigentlich unmöglich, nicht vor Rührung zu weinen. Eine Primaballerina wie aus dem Bilderbuch!

Für Hélène kreierte Neumeier die „Tatjana“, und planmäßig gibt es in Hamburg auch keine andere Besetzung für sie. In Moskau hingegen gibt es außer Diana noch drei weitere Besetzungen der Titelrolle – Vishneva arbeitet ja international und vor allem in New York. Eine Erneuerung des Casts in Hamburg ergibt sich jetzt durch den Ausfall von Edvin Revazov, der bereits letzte Saison tapfer gegen Rückenschmerzen ankämpfte, die Sache jetzt aber auskurieren muss. Für ihn springt Carsten Jung als Eugen Onegin ein. Jung ist ein versierter, vielseitiger Erotiker auf der Bühne, ein erfahrener Titelheld aus „Liliom“ – und er war als „Zettel“ in „Ein Sommernachtstraum“ stets von unüberbietbarer Komik.

Aber auch das Bitterböse und Hartherzige kann Jung im Gegensatz zu vielen anderen Tänzern hervorragend darstellen, das hat er etwa als „Mann im Schatten“ in „Illusionen – wie Schwanensee“, als Stanley in „Endstation Sehnsucht“ oder auch als Monsieur Duval in der „Kameliendame“ bewiesen, jeweils mit sehr verschiedenen Facetten, die er in sich vereint. Insofern hat dieser Weltklassesolist auf jeden Fall das Potenzial, einen hoch interessanten Eugen Onegin abzugeben. Die Frage im Ballett ist natürlich immer nur: Gibt es genügend Zeit für ausreichende und ausreichend intensive Beprobung?

Viele Proben braucht auch Dario Franconi, denn er muss Jung als Prinz N. sowie als Bär in „Tatjana“ ersetzen. Diese Rollen sind nicht zu unterschätzen: N. ist der Mann, den Tatjana heiratet, ein dekorierter Militär, ein Mann der Gesellschaft, einer, der Liebe und Ehe problemlos zu verbinden weiß (im Gegensatz zu Onegin). Das Noble, Haltgebende, Führungsstarke dieser Figur, die dennoch niemals aufdringlich sein darf, wurde von Carsten Jung kreiert und ist an den sympathischen Fürst Gremin aus John Crankos „Onegin“ angelehnt. N., der ein bisschen an den unfreiwillig komischen Grafen von N. aus der „Kameliendame“ erinnert, ist eine Erfindung Neumeiers – und womöglich viel schwieriger zu tanzen, als es aussieht. Hebefiguren und Partnerszenen sind sicher technisch nicht allzu ungewöhnlich. Aber als Schauspieler muss der Prinz N. Einiges zu bieten haben, um glaubwürdig zu sein!

Der Bär ist sogar eine tragende Partie in „Tatjana“, weil er als Lustfigur auftaucht und die Traumsymbolik von Tatjanas verliebter Psyche verkörpert. Er hat nur zwar eine einzige Szene, die aber hat es in sich: Der Bär kommt nachts durch das Fenster, in dem Tatjana sonst sehnsüchtig und manchmal fast depressiv sitzt und ihren Tagträumen frönt. Wie es sich für ein menschliches Tier gehört, lässt das bärige Biest Konventionen außer Acht. Es kommt gleich zur Sache. Eingehüllt ist es in einen Bärenpelz, darunter ist der Oberkörper nackt, stark, männlich. Jungs Sixpack – seine Bauchmuskulatur – ist ohnehin eine Berühmtheit für sich, sogar für ballettöse Verhältnisse. Franconi wird hier zwar auch gut aussehen, wird aber nicht ganz so einen Wow-Effekt erzielen können wie Carsten Jung. Dafür kann Franconi – was er in „Othello“ in einer Nebenrolle schon zeigte – eine Art zielgerichtete Geilheit aufbieten, und die passt nun wiederum vorzüglich zur Bärenpartie.

MÄNNER SIND NICHT NUR ZUM KUSCHELN DA!

Denn der Mann als Bär ist kein passives Kuscheltier (wie die drei großen Teddys, mit denen Tatjana spricht und sich die Zeit vertreibt). Der Mann als Bär will an den Bären – die Symbolik der weiblichen Schambehaarung ist hier durchaus mitgemeint. So verführt der Bär die verliebte Tatjana ohne Umschweife, umwirbt sie, gibt sich ihr hin, legt sich ihr in den Schoß, nachdem er sein Bärenfell abgestreift und es ihr umgelegt hat. Ein liebevoller, sogar beschützender Liebhaber ist er, der – anders als der negativ und destruktiv aufgeladene Onegin – vor Energie nur so strotzt.

Die Szene ist herzergreifend in ihrer direkten Erotik, aber auch in der Verbindung des Personals. Hélène Bouchet als Tatjana – im wahren Leben übrigens die Partnerin von Carsten Jung – weiß genau, wie sie sich langsam und vor aller Augen entfalten kann, wie sie aus Zuneigung und Staunen ein erotisch gefärbtes Gefühl zu machen hat. Sie spielt und iebt den Bären, ohne darüber nachzudenken, für welche Person er steht. Ob für Eugen Onegin oder ob für einen anderen.

Doch nach dem Bären kommt der Vampir: Tatjanas Traum geht weiter und umfasst eine Horde „Ungeheuer“, die von Eugen in der Gestalt eines Vampirs angeführt werden. Neumeier lässt Tatjana ja schon zu Beginn Geschichten aus Transsylvanien lesen, die dann in ihre Träume einfließen. Bedeutsam und antizipatorisch ist hier allerdings der Schluss des Traums: Der Vampir erdolcht Lensky, der mit Olga schon hier ein Paar bildet.

Bei Puschkin findet Tatjanas Angstlust-Traum übrigens auf einer verschneiten Waldwiese statt – und der zweite Teil in einer Hütte, die mit Lewis-Carroll-reifen Monstern angefüllt ist, die Eugen Onegin zugeordnet sind. Grauen, Panik und Lust mischen sich hier – die großen Ängste von Tatjana in Bezug auf Sexualität offenbaren sich. Es ist auszuloten, inwiefern diese Ängste Tatjana für Onegin anfällig machen.

Tatjana und Eugen

Schnee auf nackter Haut: In Tatjanas Traum verhält sich Eugen Onegin wie ein Verliebter. Ein exquisiter Pas de deux in „Tatjana“ von John Neumeier. Foto: Holger Badekow

John Cranko hat in seinem Ballett allerdings gar keine entsprechende Szene, und auch in Peter I. Tschaikowskys Oper taucht sie nirgendwo auf. Erst John Neumeier hat durch seine Rückkehr zum Ursprungstext von Puschkin der Ballettwelt eine wunderbar schlüssige, überzeitlich gültige Sexualszenerie geschenkt.

Es wird dennoch Zeit, einige Worte über John Cranko zu sagen. Er starb in jenem Schicksalsjahr des deutschen Tanzes, in dem Pina Bausch beim späteren Tanztheater Wuppertal antrat und John Neumeier als Ballettdirektor von Frankfurt (Main) nach Hamburg ging. Lera Auerbachs Geburtsjahr 1973 ist, scherzhaft gesagt, von daher sehr passend für eine Ballettkomponistin, die in Deutschland tätig ist.

John Cranko darf indes in jeder Hinsicht als Vorgänger von Neumeier erachtet werden. In Stuttgart ließ der gebürtige Südafrikaner bereits in den 60er Jahren ein Ballettwunder heranreifen, machte Ballett zum Thema und scharte Fans um sich, was es in dieser Form an deutschen Opernhäusern zuvor nur mit Dirigenten und Sängern gab. Cranko schuf, neben vielen kleineren Stücken, drei große Hauptwerke, drei nach Literatur entstandene Handlungsballette, die bis heute zum Kanon der modernen klassischen Ballette zählen und berechtigterweise weltweite Kassenschlager sind: „Der Widerspenstigen Zähmung“, „Romeo und Julia“ und – besonders vom Publikum wie von der Fachpresse geliebt – „Onegin“.

Bei dessen Kreation saß Neumeier, damals Tänzer in Stuttgart, sogar im Ballettsaal. Und natürlich muss man daran denken, wenn man heute Neumeiers „Tatjana“ besieht. Sie ist dennoch und absichtlich ganz anders als Crankos „Onegin“: zerrissen statt gediegen; mit fast experimenteller statt vor allem klassischer Körpersprache arbeitend; „Tatjana“ hat viele in sich abgeschlossene Kernszenen statt, wie „Onegin“, drei große Pas de deux.

VIELE UNTERSCHIEDE ZWISCHEN CRANKO UND NEUMEIER

Und noch etwas bildet einen grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Balletten: Cranko schuf ein leicht zugängliches, dramaturgisch traditionell gebautes, rein chronologisch ablaufendes Handlungsballett. Neumeier hingegen schuf ein typisches Spätwerk, eine Collage und Montage aus verschiedenen Innenansichten, die sich überlagern und während des Ablaufs ineinandergreifen. Auch zeitlich wird gesprungen: zwischen den 30er Jahre der Sowjetunion und der Gegenwart. Der Choreograph zeichnet denn auch für die Gesamtinszenierung, für die Bühnenbilder wie für die Kostüme, verantworlich. Da gibt es mal viel Nebel und verschneite Birkenwälder zu sehen, mal Eugen Onegins Kemenate auf einer Drehbühne oder auch einen Ballsaal.

Neumeier spielt in diesem Szenario mit den verschiedenen Perspektiven der handelnden Personen – man könnte von einem filmisch-avantgardistischen Vorgehen sprechen. Natürlich ist es oft Tatjanas Perspektive, die illustriert wird. Aber manchmal ist auch die von Onegin. Oder auch die von Vladimir Lensky, der weicheren Gegenfigur zum harten Onegin. Lensky, hier als romantisch-besessener Komponist gezeigt, wird wirklich sensationell von Alexandr Trusch getanzt, diesem noch ganz jungen Tanztalent der Hamburger: ein Ausbund an Lyrik in den Beinen, mit eleganter Rundheit in den Armen und großer darstellerischer Lust im Gesicht. In Jeans wirkt er ganz heutig, dennoch glaubhaft, wenn er sich auf den ersten Blick in Olga (eine entzückende Leslie Heylmann) verknallt.

Während ihres Solos im ersten Teil des Balletts scheint die Welt denn auch noch in Ordnung – allerdings durchzieht der Tod Lenskis, der aus Eifersucht Onegin zum Duell forderte, von Beginn an die ganze „Tatjana“. Schließlich starb oder stirbt Lensky durch die Hand Eugens – und zwar als Fast-Verwandter von Tatjana, deren Schwester Olga ist. Die Verlobung von Olga und Lensky steht für die Hoffnung im „Onegin“, obwohl schon Puschkin darauf hinwies, dass ihr Glück eine Spur zu oberflächlich, zu bedenkenlos, zu weltfremd ist, um auf Dauer Bestand haben zu können. Dass ein gewalttätiger Tod das Paar trennt, ist allerdings das Trauma des Romans wie der Oper wie der Ballette – und Neumeier zeigt das drastisch, indem er Lensky immer wieder auf der Bühne sterben lässt, als Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung Tatjanas wie Onegins.

Die Liebe zwischen den beiden hat indes ebenso wie ihre seelischen Qualen nur in der immateriellen Welt ihren Wert. In Tatjanas Träumen ist Eugen ein zärtlicher Liebhaber, ein Pendant, das zu ihr passt, ein anrührendes, zugleich begeisterndes Wesen. Ihre Träume von ihm sind prototypisch für eine verliebte Frau. Besonders lieblich sieht es aus, wenn sie auf einer Bank sitzt, hinter sich den Winterwald, der von Tanzpaaren in schneeweißer Kleidung verkörpert wird – und plötzlich taucht Eugen auf. Er durchschreitet den Tanzwald, legt seinen Mantel auf die Bank und umfasst Tatjana von hinten. Erst da scheint sie wahrzunehmen, dass er zu ihr wollte und seinen Mantel nicht zufällig ablegte. Er bettet seinen Kopf in ihren Schoß, bettelt um ein bisschen Nähe und Zärtlichkeit. Welch Wunschtraum – angesichts des arroganten, gleichgültig-emotionslosen Onegins!

ES LEBE DER TRAUM!

Doch es lebe der Traum! Im Traum ist alles erlaubt. So beginnt ein inniger Tanz, in dessen Verlauf Eugen Tatjana wie ein Kind, das man ins Bett trägt, empor hebt und sich auch sonst ganz wie ein Verliebter verhält. Da steckt er seine Nase verliebt in Tatjanas Haar, fasst ihr wie mit zartem Streicheln ins Gesicht, fängt sie auf, als sie rückwärts in seine Arme fällt. Somnambul, aber glücklich, streckt sie ihr rechtes Bein weit in die Höhe, in einer himmelwärts strebenden eleganten Linie, er gibt ihr dafür den notwendigen Halt. Dann dreht er sie, als sei sie ein Püppchen, auf dem linken Spitzenschuh. Und er lässt sie ganz Frau sein, ganz erblühende Sinnlichkeit.

Als er sie zurück zur Bank zurück trägt, ist sie eine andere – und sie schöpft Schnee mit den Händen, unsichtbaren, aber deutlich erkennbaren weichen, frisch gefallenen, leicht schmelzenden Schnee. Dieser Schnee ist sicher ein Zeichen ihrer Unschuld. Eugen ist zwar bereits im Begriff, sie wieder zu verlassen, er beugt sich aber noch einmal von hinten über sie und entnimmt ihren Händen etwas Schnee – wie eine flüchtige Erinnerung. Allein gelassen, kreuzt sie die Arme vor der Brust, das Schneewasser ist verronnen, Tatjana fasst sich an den Hals. Diese Liebe geht ihr offenbar unter die Haut, dieses Lieben ist für die Liebende ein Trost, aber keine dauerhafte Lösung für ihr Leben. Man spürt förmlich den Geschmack von schmelzendem Schnee auf ihrer nackten Haut, der sie zum Nachdenken brachte – ein beruhigend sinnliches Erlebnis, genau wie diese getanzte Traumpassage.

Und doch ist es bereits Abschied, den sie von Ihrer Hoffnung auf Verpartnerung mit Eugen nimmt. Das zeigt sich dann erst gen Ende des Stücks. Der Zyniker Eugen, der ja zum Zeichen seiner trendigen Eigenheit eine Glatzkopfperücke trägt und überhaupt wie aus dem Berliner Kaffee Burger importiert wirkt, brach kurz vor dem Schnee-Pas-de-deux erneut in Tatjanas Leben ein. Nach Jahren sahen sie sich erstmals wieder!

Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte ist die von "Tatjana"

Am Ende kann Eugen Onegin dem Charme von Tatjana nicht widerstehen. Doch sie lehnt ab – sie lernte aus ihrer Geschichte. Foto: Holger Badekow

Dieses Mal aber kann Eugen sich gegen das Gefühl zwischen ihnen beiden nicht mehr wehren, er verfällt ihrem Charme ganz und gar. Schließlich hat sie sich ja auch verändert, aus der verträumten, schüchternen Landpomeranze wurde eine selbstbewusste Großstadtschönheit, die in weißfunkelnder Abendrobe mit Glitzersteinen am Hals – einer Erinnerung an die imaginären Schneekristalle – ein Fest gibt. Vor allem aber: Sie ist nicht allein, nicht mehr solo, nicht mehr zu haben – sie hat geheiratet, und zwar den soliden Prinzen N. Vielleicht ist es vor allem das, was Eugen Onegin auf einmal an Tatjana reizt. Es kommt zur spätnächtlichen Begegnung in ihrem Schlafzimmer, als sie nur ein schwarzseidenes Nachthemd am schönen Körper trägt (womit sie an das Kostüm der „Kameliendame“ im Schwarzen Pas de deux erinnert, auch wenn deren Unterrock cremefarben ist).

Doch jetzt ist es Tatjana, die Onegin einen Korb gibt: Nach langem Hin und her, nach einem sehr modernen und hoch emotionalen Pas de deux, in dessen Verlauf gestritten und sich wieder angenähert wird, erfolgt zwar eine erneute Liebeserklärung von ihr an ihn – aber dann auch sofort die Trennung. Sie schickt ihn weg.

Tatjana hat aus ihrer Lebensgeschichte gelernt. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass weder Onegin noch die Amour fou, die mit ihm zu erwarten wäre, für sie wirklich gut sind. Sie bleibt in ihrer bürgerlich-gemäßigten Sphäre, wo sie sicher und umsorgt ist – und geliebt wird, so, wie sie ist. Für Tatjana hat die Geschichte insofern ein gutes, wenn auch melancholisch eingefärbtes Ende.

Eugen Onegin aber zerbricht in Neumeiers Version, er geht zugrunde an seinem Leben ohne Liebe. Die Zurückweisung durch Tatjana, diese junge Frau, derer Eugen sich so sicher fühlte, ist dafür der Auslöser. In raumgreifenden, zuckenden Bewegungen geht er zu Boden, er leidet so stark wie nie zuvor und stärker noch als Tatjana in all den Jahren, in denen sie ihn nicht vergessen konnte. Sollte sie sich mit ihrer Abfuhr gerächt haben wollen, so hat sie ihr Ziel erreicht: Der arrogante „coole“ Eugen Onegin verliert wegen ihr seinen Lebensmut. Das steht so nicht bei Puschkin, auch bei Tschaikowsky und Cranko ist es nicht so, aber Neumeier gibt der liebenden Frauenseele Recht – und führt den zynischen Weiberhelden Eugen Onegin als schlussendlich Scheiternden vor.

Ob es dann irgendwann doch noch ein weiteres Treffen Tatjanas mit Eugen geben wird, bleibt der Fantasie jedes Einzelnen überlassen – ganz auszuschließen ist es sicher nicht. Dostojewski jedenfalls meinte über Tatjana: „Tatjana ist ein starker Mensch, die steht fest und sicher auf ihrem Boden. Sie ist tiefgründiger als Onegin und natürlich auch klüger als er. Sie ahnt schon durch ihren feinen Sinn, wo die Wahrheit ist und worin sie besteht.“ Und vielleicht hat sie gerade deshalb irgendwann doch Appetit auf den berühmten Schritt vom Wege. Denn Wahrheit kann auch außerhalb des Alltags liegen, Tatjana wird das ahnen. Aber das wäre dann wirklich ein neues Tanzdrama!
Gisela Sonnenburg

Mehr dazu bzw. zur Besetzung mit Carsten Jung als Eugen Onegin: 

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-tatjana-neubesetzung/

www.hamburgballett.de

Im SNDMMT in Moskau (Premiere dort war 2014):

www.stanmus.com

UND BITTE SEHEN SIE HIERHIN: www.ballett-journal.de/impresssum/ 

 

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