Heilige Spielhalle! Wenn Wünsche wahr werden… Auf in die Spielzeit 20/21 beim Hamburg Ballett: John Neumeier erhört das zarte Flehen zahlreicher Ballettfans – und bringt „Dornröschen“ mit einer neuen Ausstattung von Jürgen Rose heraus

"Liliom" in einer neuen Besetzung!

Hurra! Bald wird „Liliom“ von John Neumeier wieder beim Hamburg Ballett geprobt. 2011 waren es Sasha Riva (mit den Luftballons), Alina Cojocaru (im blauen Kleid), Aleix Martínez (hinter Cojocaru) und Carsten Jung (ganz hinten). Foto: Holger Badekow

Trara: Die beiden genialen Koryphäen John Neumeier und Jürgen Rose finden wieder zusammen! Damit erfüllt sich nicht nur ein lang gehegter Wunsch von Rose selbst, sondern auch der von zahlreichen Ballettliebhabern – darunter ist die Autorin dieser Zeilen. Viele Stammleserinnen und Stammleser vom Ballett-Journal dürften nun vor Freude aufjuchzen:  „Dornröschen“, das Neumeier in einer auch damals von Rose ausgestatteten, bezaubernd modernisierten Version bereits 1978 premieren ließ, wird im Sommer 2021 beim Hamburg Ballett ganz neu auferstehen. Das wird ein großartiges Erwachen aus dem Dornröschen-Schlaf! „Lebendige Traditionen“ heißt denn auch das Motto der kommenden Ballettspielzeit bei Neumeier. Und sie beginnt gleich im September 20 mit einem Knüller, nämlich der feministisch-eleganten Léo-Delibes-Fantasie „Sylvia“, die John Neumeier einst für die Pariser Opéra erschuf. Und noch ein heimlicher Wunsch von Vielen wird wahr: „Liliom“ von 2011, das sozialkritische Ballettdrama mit speziell kreierter Musik unter anderem für eine Big Band von Michel Legrand, wird ab Februar 2020 wieder zu sehen sein, erstmals in komplett neuen Besetzungen der Titelrolle. Und jetzt halten sich bitte alle fest: Am Sonntag, dem 13. Dezember 2020, wird mit „Beethoven 9Neumeiers kommende Uraufführung stattfinden.

Es handelt sich um eine choreografische Antwort auf das laufende Beethoven-Jubiläumsjahr ebenso wie um eine Entgegnung der bekannten Choreografie von Maurice Béjart zur selben  Sinfonie. Sie wird in der Hamburgischen Staatsoper unter dem ebenfalls heiß ersehnten Dirigat von Kent Nagano, diesem ebenso mysteriös wie glasklar das Philharmonischen Staatsorchester Hamburg leitenden Generalmusikdirektor, zelebriert werden. Noch Wünsche offen? – Das wäre nun kaum zu glauben.

Pressekonferenz bei John Neumeier

John Neumeier weiß zu überraschen – und macht sein Publikum glücklich. Soeben stellte er die kommende Spielzeit vor, auf dem Foto tat er es vor zwei Jahren. Heute verhinderte das Sturmtief „Sabine“ ein erneutes fotografisches Portrait. Was der Freude über den Spielplan keinen Abbruch tut. Foto: Gisela Sonnenburg

Hören wir den Chefchoreografen Neumeier selbst: „Jubiläen sind wichtige Ankerpunkte, an denen Traditionen spürbar werden. Daher würdige ich Ludwig van Beethoven in der Woche seines 250. Geburtstags mit einer Uraufführung. Beethoven 9 soll das Ballett heißen – eine Verbeugung auch vor der musikalischen Tradition, die der Komponist mit der geradezu mythischen Zahl seiner Sinfonien initiiert hat.“

Und: „Ich freue mich darauf, mit Kent Nagano unsere vertrauensvolle Zusammenarbeit fortzusetzen, die sich bei der Kreation von Turangalîla so glänzend bewährt hat“, so frohlockt John Neumeier. Und: Wir freuen uns mit!

Beginnen wir nun mit dem außerordentlich frühen Spielzeitstart am 6. September 2020, mit „Sylvia“. Sie ist bei Neumeier eine Amazone und eine Lady zugleich, eine Frau, die im Zauber ihrer eigenen Vorstellungen ebenso wie mit der Natur der Erotik und auch in den High-Society-Gefilden nobler Parties ihre Erfahrungen macht. Sie lebt heute, und sie trägt nicht nur Kleider…

Schön und ausdrucksstark: Carolina Agüero, Ex-Primaballerina beim Hamburg Ballett. Hier das Presseportrait von Kiran West

Die Neumeier-Ballerina Carolina Agüero war übrigens eine fulminante Sylvia, und vielleicht werden die Vorstellungen eine Gelegenheit, sie wieder in ihrer alten Ruhmesstätte anzutreffen.

Neu und sehr lobenswert ist der Plan von Neumeier, mit seinem Hamburg Ballett eine Sondervorstellung für sozial benachteiligte Kinder zu geben: mit „Der Nussknacker“ am 27. November 2020.

Fast schon erwartet ist hingegen eine Tournee nach Asien, hier nach  Japan, nach Tokio und Kyoto (6. bis 31. März 21).

Zuvor, Ende Februar, wird wieder die Ballettschule vom Hamburg Ballett – John Neumeier mit der „Werkstatt der Kreativität“ im Ernst-Deutsch-Theater zu Gast sein.

Und die Jungen Choreografen dürfen wieder (wie auch im März diesen Jahres) in der Opéra stabile ihre Werke auftanzen lassen.

Die Dritte, hungernde Journalisten und das Lied von der Erde

Wie „Sylvia“ (1997), so wurde auch „Das Lied von der Erde“ (2015) von John Neumeier in Paris kreiert. Beide Stücke sind aber auch beim Hamburg Ballett Erfolgsballett. Foto mit Jacopo Bellussi vorn von der Ballett-Werkstatt in Hamburg: Kiran West

Bonn und Friedrichshafen dürfen sich ebenso wie Wien über Gastspiele vom Hamburg Ballett freuen, und die langjährige Kooperation mit dem Festspielhaus Baden-Baden wird glatt auf zwei Gastspiel-Perioden verdoppelt: außer im Oktober 20 wird auch im Mai 21 dort aufgetreten werden. Wow!

Insgesamt sind es rekordverdächtige 14 abendfüllende Stücke, die das Hamburg Ballett 20/21 zeigen wird. Darunter sind „Die Kameliendame“ und „Anna Karenina“, „The Winter’s Tale“ (von Christopher Wheeldon), „Hamlet“, „Ein Sommernachtstraum“ und das „Beethoven-Projekt“ (das die neue Uraufführung „Beethoven 9“ in gewisser Weise vorbereitet).

Vier Ballett-Werkstätte erhellen die Hintergründe der Tanzkunst, und die Nijinsky-Gala als glorioser Schlusspunkt der Saison – am Ende der stets viel Festival-Flair verströmenden Hamburger Ballett-Tage– wird auch im kommenden Jahr nicht fehlen. Na, da würde es sonst aber wohl auch Proteste nur so hageln!

Können verpflichtet – aber wem sagen wir das. John Neumeier ist nun gerade derjenige, der diese Maxime beherzigt wie niemand sonst.

Dass sein Team und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sein künstlerisches Zuhause – die Hamburgische Staatsoper – und sein kreatives Zentrum – das Ballettzentrum Hamburg, das seinen Namen trägt – bei dieser Gelegenheit ebenfalls bedankt werden, versteht sich hingegen fast von selbst.

Und es geht nicht nur um stete Verlebendigung der Gegenwart – es geht auch darum, aus Fehlern wie aus richtigen Entscheidungen auch der Anderen zu lernen.

Die "Nijinsky-Gala XLIV" 2018 war ein großer Erfolg

Alexandr Trusch als Jeans-Prinz und Alina Cojocaru als seine ausgeschlafene Prinzessin: in John Neumeiers Version von „Dornröschen“ auf der Nijinsky-Gala 2018. Foto: Kiran West

Beispiel „Dornröschen“: Das Publikum liebt dieses durchaus hintergründige Ballettmärchen, das Marius Petipa im zaristischen Russland 1890 mit der seither in den Ohren der Klassikfans brillierenden Musik von Peter I. Tschaikowsky uraufführte. Und es liebt gerade Neumeiers Version mit einem Prinzen in Blue Jeans und einer schlafenden Prinzessin auf der Parkbank.

Als vor nicht langer Zeit ein Auszug mit Alina Cojoaru und Alexandr Trusch zu sehen war, zeigte sich, wie rasch die Zuschauerschaft wieder voll dafür entflammbar ist.

Und weil Jürgen Rose mit seiner Neuausstattung von Kenneth MacMillans „Mayerling“ beim Stuttgarter Ballett zeigte, wie zeitgemäß seine Fantasien sind und was er heute erst recht alles kann, ist es nur logisch, ihn dieses opulente Großballett erneut mit Rüschen und Tüll, mit Rosen und Röschen, mit Parkbank und Gestrüpp, aber auch mit einem Schloss und vielen Traumbildern bestücken zu lassen.

Lasst es prunken, liebes Meisterduo!

Übrigens wird durch diese Anknüpfung an ein einmaliges Vorkommnis („Mayerling“ im neuen Look) zugleich eine neue Tradition begründet: die der Neuinszenierung von choreografisch und konzeptuell erhaltenen Meisterwerken.

"Mayerling" mit Jason Reilly

Ein rundum neues Outfit aus der Designerhand von Jürgen Rose bescherte „Mayerling“ von Kenneth MacMillan beim Stuttgarter Ballett Top-Aufführungen. Hier mit Jason Reilly als Rudolf und Sinéad Brodd als seine Mutter Sisi. Foto: Ulrich Beuttenmüller

Wetten über die Premierenbesetzung der Hauptfiguren werden außerdem bis zur Ersten Hauptprobe hier gern angenommen (ohne Geldeinsatz). Mitglieder des Opernhauses und Balletts sowie ihre Angehörigen sind davon aber bitte ausgenommen.

Zur Auswahl stehen unter anderem die jungen Superballerinen Madoka Sugai, Alina Cojocaru, Charlotte Larzelere, Giorgia Giani, Xue Lin und Emilie Mazon als Titelheldin und die starken schönen Jungs Jacopo BellussiChristopher Evans, Alessandro Frola und Alexandr Trusch als ihr Prinz Desiré.

Ach, eine kleine Zwischenfrage sei erlaubt, um die Neugier zu schüren: Ob Desiré wohl wieder Jeans tragen wird?

Als Böse Fee, die bei Neumeier ein faszinierend androgynes, allerdings auch geschmeidig-elegantes Zwitterwesen ist, mit einer allerdings sehr männlichen und sprungfertigen Kraft zu hassen, empfehlen sich meiner Meinung nach Mathias Oberlin, Félix Paquet, Borja Bermudez und David Rodriguez. Alessandro Frola würde allerdings auch hier fantastisch wirken…

Für die nicht zu unterschätzenden weiteren Glanzrollen des Catalabutte und Bluebird mit Prinzessin Florine werden derzeit hier noch Blanko-Wetten angenommen, hingegen stehen für die Partie als verführerisch-poetische Gute Fee so schöne und lyrische Ballerinen wie Silvia Azzoni, Hélène Bouchet, Leslie Heylmann, wieder Xue Lin und natürlich Anna Laudere parat. Oder etwa nicht?

Wer hält dagegen?

Weil nun auch beim Stuttgarter Ballett (siehe Beiträge hier im Ballett-Journal) und ab Oktober auch beim Staatsballett Berlin das Sujet „Dornröschen“ aufgeführt wird, und zwar beide Male in der Inszenierung von Marcia Haydée (ebenfalls in einer Ausstattung des Ballettoptik-Titans Jürgen Rose), lohnt sich die Beschäftigung mit dieser sanften Parodie auf die Tatkraft des höfischen Lebens umso mehr.

Turangalila bedeutet göttliches Liebesspiel.

Legendär: Carsten Jung als „Liliom“, einer grandiosen Neumeier-Kreation von 2011. Das Bild von Holger Badekow ist dem „Jahrbuch 2012“ vom Hamburg Ballett entnommen.

Und ein kleiner Ausflug in die jüngere Vergangenheit sei erlaubt:

Carsten Jung, als „Liliom“ unvergesslich ins Gedächtnis gebrannt, wird derweil vielleicht auch das eine oder andere Tränchen wegdrücken und ab dem 20. Februar– nein, nicht dieses, aber nächsten Jahres, also 2021– womöglich wieder in der heiligen Spielhalle zu sehen sein, als Coach etwa oder als Ratgeber, denn seine Darstellung und Kreation der Rolle gehören  ganz sicher zu den Sternstunden auch im reich damit behängten Arbeitsuniversum von John Neumeier.

Weil es nun aber nicht jeden Abend Ballett geben kann, hier auch noch ein paar Tipps für musikalisch-dramatische Erbauung durch Oper in derselben:

Ob man eine Jugendoper wirklich „Unser kleines Scheißkaff“ nennen darf oder ob es sogar so sein muss, wird ab dem 20. November 2020 in der opera stabile zu diskutieren sein.

Auch Journalismus ist harte Arbeit: Unterstützen Sie bitte das Ballett-Journal! Spenden Sie! Kein Medium in Deutschland widmet sich so stark dem Ballett und bestimmten Werten wie das Ballett-Journal! Honorieren Sie das bitte! Und freuen Sie sich über all die Beiträge, die Sie stets aktuell gelistet im „Spielplan“ und im Archiv hier im Ballett-Journal finden. Es sind über 630 Beiträge, sie entstanden alle ohne Fördergeld und ohne staatliche Unterstützung. Wir danken Ihnen von Herzen für eine Spende!

Aber wenn Andreas Kriegenburg den romantischen Ohrwurmseller „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber inszeniert – und das ist ab dem 18. April 2021 der Fall – und wenn dann auch noch der erwiesene Romantiker-Experte Kent Nagano, der eben auch den Ballettfans bestens bekannte Generalmusikdirektor Hamburgs,  dirigiert, dann sollte man voller Neugierde einen Opernabend einplanen.

Es locken Termine auch mit anderen Lieblingsstars wie Ingo Metzmacher (Ex-Generalmusikdirektor) und Klaus Florian Vogt (umjubelter Tenor mit gelegentlichem Bariton-Auftritt), Nikolai  Lugansky (dem russischen Lang Lang, also einem superben Pianisten) und Sean Shepherd, einem begabten amerikanischen Komponisten, der an der intellektuell geprägten Cornell University ausgebildet wurde).

Hanseatische Trias der Hochkultur: Georges Delon, Opernintendant, John Neumeier, Ballettintendant,  und Kent Nagano, Generalmusikdirektor, bei ihrer Pressekonferenz am Montag, 10.02.2020, in der Hamburgischen Staatsoper. Foto: Kiran West

Nicht zu vergessen ist das geliebte Skandalregiegenie Frank Castorf, welches Boris Godunow von Modest Mussorgski mutmaßlich zu einem Ereignis machen wird, und zwar punktgenau am Samstag, den 5. September 2020 zur Eröffnung der Saison. Es lohnt sich für Anreisende also ein Wochenende in Hamburg, mit der supersinnlich-sportivlasziven „Sylvia“ von John Neumeier und dem Hamburg Ballett am 6. September 2020!

Ach ja: Kniefall und Chapeau vor einer so umwerfend gestalteten Spielzeit! Wir werden kommen und gucken, ob sie hält, was sie verkündet. Versprochen!
Gisela Sonnenburg

 www.hamburgballett.de

www.staatsoper-hamburg.de

 

 

ballett journal