Drei Brocken Shakespeare und ein neumodischer Conférencier „Shakespeare Dances – Die ganze Welt ist Bühne“ vereint drei Ballette von John Neumeier; Startänzer Carsten Jung führt sprechend durch den Abend

Shakespeare Dances - three in one.

Silvia Azzoni probt hier „Wie es euch gefällt“ – mit kecker Miene, akrobatischer Eleganz und burschikoser Grazie. Foto: Holger Badekow

Es ist selten, dass ein Balletttänzer sprechenderweise drei Tanzstücke miteinander verbindet. Carsten Jung, dem Megastar vom Hamburg Ballett, ist dieser Spaß vergönnt – als Fahrrad fahrender Student Jacques darf er für John Neumeier in feinstem sächsisch gefärbten Thüringisch eine Tripple Bill zu Shakespeare-Themen moderieren. In der Hand hält Jung sein Buch: eine Shakespeare-Schwarte, selbstverständlich. „Shakespeare Dances – Die ganze Welt ist Bühne“ ist eine dreiunddreiviertel Stunden lange Melange aus Zitaten, Literaturballetten, Revuen und Zeitreisen. Das Komödiantische steht im Vordergrund – zwei Komödien umarmen dramaturgisch ein tragisches Stück.

Radler Jung verkörpert dabei die Gegenwart. Zwar ist Jacques eine ursprünglich aus „Wie es euch gefällt“ stammende Figur, sie hat sich aber vom festgelegten Stückerahmen verselbständigt. In Jeans tänzelt Carsten Jung durch die Epochen und Kostümwelten, erlebt an unserer Stelle alles hautnah mit, was auf der Bühne passiert. Er agiert mal als Solist, mal als Teil des Ensembles. Und vor allem als Conférencier, der kommentiert und zu Assoziationen reizt.

Seine Tagträume, aus denen die vorgeführten Ballette bestehen, sind häufig Maskeraden, die um die Liebe kreisen. Das Verwirrspiel zwischen Männern und Frauen kulminiert da in Kostümierungen und Travestien – umso komischer, wenn man bedenkt, dass zu Shakespeares Zeiten ohnehin nur Männer die Bühne betreten durften und junge Männer generell die Frauen darstellten. Die drei Brocken Shakespeare, die Neumeier uns hier hinwirft, sind nun aber keineswegs eine Subsummierung des gesamten dramatischen Werks des bedeutendsten Renaissance-Autoren. Vielmehr wurde die Auswahl nach dramaturgischen Kriterien getroffen: Das erste und das letzte Stück ergänzen sich, während das in der Mitte den Kontrast dazu bietet.

„Wie es euch gefällt“ ist das erste rudimentäre Shakespeare-Stück dieses Abends. Es wurde bereits 1985 vom Ballett der Hamburgischen Staatsoper (wie das Hamburg Ballett damals genannt wurde) uraufgeführt – und hieß bis 2002 „MOZART und Themen aus WIE ES EUCH GEFÄLLT.“ Danach war die Rechtschreibung eigentlich immer richtig, bis 2013, zur Premiere der „Shakespeare Dances“, da wurde auf einmal „Euch“ groß geschrieben. Da es sich um keinen Brief handelt (nach der alten Rechtschreibung – aber auch nur nach der – werden Anreden dort auch groß geschrieben), dürfen wir uns also als Pluralis majestatis fühlen. Majestät, Hoheit – fühlt Euch gut!

Bei der Generalprobe 1985 verletzte sich übrigens der legendäre Neumeier-Solist Max Midinet. Einige Tage wurde darum – bis die Zweitbesetzung richtig eingearbeitet war – die Premiere verschoben. Ein Vorgang, der heute undenkbar erscheint – man würde unter allen Umständen versuchen, so einen wichtigen Termin einzuhalten und dafür alle Hebel in Bewegung setzen. Da die Profi-Tänzer es zudem gewohnt sind, vom Video bzw. der Filmaufzeichnung zu lernen – und das in rasantem Tempo – würde eine Premierenverschiebung vermutlich auch wirklich nicht mehr nötig sein.

Shakespeare Dances - three in one.

Silvia Azzoni und Alexandre Riabko in „Wie es euch gefällt“ – ein verrückt-verliebtes Pärchen… Foto: Holger Badekow

Rosalind und Orlando ergeben jedenfalls auch in der Kurzfassung, die in „Shakespeare Dances – Die ganze Welt ist Bühne“ getanzt wird, ein entzückend verrücktes Pärchen; zu lieblicher Musik von Wolfgang Amadeus Mozart feiert die vorübergehende Geschlechterverwirrung fröhliche Urständ, ebenso wie die Verliebtheit, die sozusagen quer Beet geht.

„Nicht unbedingt logisch, aber richtig“ findet Neumeier das märchenhafte Happy End des ungeheuren Wirrwarrs in diesem Stück. Darin tanzen die vier Paare ihre ureigenen Nöte der Natur.

Rosalind, bei der Premiere 2013 besetzt mit der animalisch-geschmeidigen Silvia Azzoni, ist eine aberwitzige Hosenrolle: Das Mädchen ist als Junge verkleidet, der wiederum ein Mädchen spielt. Ihren Orlando, getanzt von Azzonis vitalem Ehemann Alexandre Riabko, muß Rosalind lange anschmachten, bevor er sie richtig anschaut. Drei weitere Paare, die nicht mit Shakespeares Vorlage identisch sind, sind ebenfalls so absurd verliebt, daß man mehr lacht als alles andere. Leichtherzige Triller und akustische Koketterien von Mozart verleihen der Chose auch akustisch verwirrende Niedlichkeit.

Verbannung und Todesnähe, die bei Shakespeare thematisch noch eine politische Grundierung mit sich bringen, erscheinen hier nur noch als Vorlage für möglichst viele Slapstick-Momente: Das Tempo ist überdreht und durchgeknallt, witzig und neckisch – und auf gar keinen Fall bierernst.

Shakespeare Dances - three in one.

Lloyd Riggins und Anna Polikarpova tanzten auch mal „Hamlet“ von John Neumeier – hier in einer besonders dynamischen Pas-de-deux-Pose. Foto: Holger Badekow

Das zweite Stück, „Hamlet“, bietet da ein komplettes Kontrastprogamm. John Neumeier schuf es ebenfalls 1985. Die Tragödie premierte damals zum Saisonbeginn und sogar zur Eröffnung des renovierten Opernhauses in Kopenhagen unter dem altdänischen Titel „Amleth“. Schließlich spielt es ja auch in Dänemark – schon im Shakespeare’schen Drama. Neumeier hatte allerdings noch eine andere Prominenz im Gedächtnis, als er choreografierte: seine Lehrerin Vera Volkova. Sie hatte dem begabten Berufsanfänger Neumeier einstmals in Kopenhagen Einzelunterricht gegeben und ihn zartfühlend, aber dominant, das richtige Coup de pied gelehrt.

Die Neuversion des Stücks stammt von 1997. Aktuell tanzen Anna Laudere und Edvin Revazov das tragische Paar Ophelia und Hamlet – und so verknappt und aufs missverständliche Liebesgeschehen reduziert die Choreografie ist, so eindrücklich und unmissverständlich ist sie in der Wirkung.

Unterfüttert ist das Stück von satten Akkorden und wabernden Sphären des englischen Komponisten Michael Tippett (1905–1998). „Verwandeln, Träumen, Jonglieren“ nennt der Musikwissenschaftler Diether de la Motte Tippetts Werk. Denn häufig lösen sich hier gefundene Klarheiten langsam in nachgerade pointillistische Atmosphären auf. Vieles fängt gut an – und endet schrecklich, scheint dieser Kompositionsstil ständig demonstrieren zu wollen.

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Edvin Revazov und Anna Laudere proben hier für „Hamlet“ – ein konzis tanzendes Paar, mit starken Rolleninterpretationen. Foto: Holger Badekow

Dazu erscheint Hamlet als ein Poet der stummen Körperlichkeit: störrisch-stoisch ist er zur Rache des Todes seines Vaters entschlossen. Seine Konflikte treiben ihn zur Kämmerertochter Ophelia, von Anna Laudere mit umfassender Vielseitigkeit getanzt. Sie ist Gretchen und Julia, Emilia Galotti und Luise Millerin in eins. Während sie einerseits noch mit Puppen spielt, mutiert sie andererseits schon zur Femme fatale. Grazile Liebesspiele mit Hamlet (dessen Darsteller Edvin Revazov mit Laudere verheiratet ist) bringen Annas Ophelia in wechselnde Zustände: Neumeier lässt sie am Ende die Augen vor der grausigen Realität verschließen und ins süße Liebesgefühl wie in einen Rausch abdriften. Ach, das ist so tödlich schön! Sasha Riva, Darsteller von Ophelias unglücklichem Vater Polonius, hat dann aber noch eine Überraschung bereit…

Das dritte Stück hat Chaos-Bonus: Die Tänzerinnen und Tänzer wissen in „VIVALDI oder was ihr wollt“ (das 1996 in Hamburg entstand) mitunter kaum noch, wer von ihnen Männlein und wer Weiblein ist. Zum Glück gibt es ein gemischtes Zwillingspaar: So bleibt kein Wunsch offen.

Shakespeare Dances - three in one.

Ein kunterbuntes Szenario mit Fahrrad: In „Shakespeare Dances – die ganze Welt ist Bühne“ darf Carsten Jung (mitte links hinten mit Buch) laut Shakespeare lesen und sich ganz als Supervisor fühlen… Foto: Holger Badekow

Schiffsbrüchige, Androgynität, Verkleidung (wie in „Wie es euch gefällt“) und Liebessehnen: Das 1600 geschriebene, durchtrieben wechselhafte Dama „Was ihr wollt“ von William Shakespeare findet hier seine ballettöse Entsprechung in sinnlich-symbolischer Verknappung. Aber es gibt auch ein Opfer; ganz so heiter wie die Barockmusik von Antonio Vivaldi ist das Stück nicht. Dennoch tragen im finalen Ensembletanz alle – einschließlich Conférencier Carsten Jung – knallrote Clownsnasen: So, als seien wir alle nur als Narren der Liebe zu begreifen!

Neumeier indes hatte tatsächlich viele Jahre aus einem ganz bestimmten Grund derart viele Probleme mit Antonio Vivaldi, dass er den barocken Komponisten der Leichtigkeit nahezu auffällig mied. In seinem Buch „In Bewegung“ verrät der Meister, warum das so war: „Seit langem faszinierte mich die Musik Vivaldis. Es war jedoch zunächst keine unproblematische Begeisterung, denn zum allerersten Mal bin ich mit Vivaldis Musik durch ein Ballett von John Cranko in Berührung gekommen.“ Und als Tänzer in Stuttgart musste er ein Stück tanzen, dass ihm zutiefst zuwider war und lediglich „mathematisch“ konstruiert vorkam, also völlig entseelt, ganz entmenschlicht, ganz hart. „L’Estro Armonico“, so der Stücktitel, brachte den jungen Ensembletänzer Neumeier zum Angstschwitzen, er befürchtete zu versagen und zählte geradezu zwanghaft die Takteinheiten.

Shakespeare Dances - three in one.

Heather Jurgensen (links) und Gigi Hyatt (rechts) in „VIVALDI oder Was ihr wollt“: eine knackig-feminine Besetzung, die in den 90er Jahren in Hamburg begeisterte. Foto: Holger Badekow

Noch Jahrzehnte später begann Neumeier unwillkürlich zu zählen, wenn er Vivaldi hörte – und konnte erst, als dieses Trauma überwunden war, sich frei zur Musik des Barockkomponisten bewegen. Unerlässlich für einen Choreografen!
Gisela Sonnenburg

Am 11. und 12. Juni in der Hamburgischen Staatsoper

www.hamburgballett.de

 

 

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