Pfingstwunderpredigt Pfingstsonntag im Superlativ: Doppelvorstellung „Die Kameliendame“ von John Neumeier mit Ballettstar Anna Laudere und Stargast Olga Smirnova vom Bolschoi beim Hamburg Ballett

Die Kameliendame entzückt immer wieder

Anna Laudere und Edvin Revazov in der Seitenansicht beim Blauen Pas de deux in „Die Kameliendame“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Die Mission des Pfingstwunders ist weniger out, als man so denkt. Auf den Pfingstsonntag hatte ich mich zudem schon seit Monaten gefreut. Denn beim Hamburg Ballett stand „Die Kameliendame“ von John Neumeier gleich zwei Mal auf dem Programm, nachmittags und abends. Der Besuch zweier solcher Vorstellungen an einem Tag hat erfahrungsgemäß etliche Synergieeffekte – und wo es für die Künstler doppelt so viel Arbeit ist, hat das Publikum mindestens doppelt so viel Vergnügen. Zunächst tanzte Anna Laudere die Titelrolle – mit ihrer einzigartig schönen, modernen Interpretation der Partie. Nicht wenige Fans bevorzugen generell sie und Edvin Revazov als Armand – die Liebe zwischen ihnen ist etwas ganz besonders Inniges, ganz besonders Starkes, und vielleicht ist dieses nicht nur verliebte, sondern wirklich existenziell liebende tänzerische Zusammenspiel überhaupt nirgends auf der Welt sonst so zu sehen. Am Abend dann bestach Olga Smirnova aus Moskau vom Bolschoi-Theater in zartester Ästhetik als Gast, und ihr Partner – mit berührender jugendlicher Frische – war Christopher Evans, der diese Saison erstmals den weltberühmten Part des Armand verkörperte.

Es ist unmöglich zu sagen, welche Besetzung besser wäre. Beide bezauberten mit ihrer Leichtigkeit beim Tanz (trotz akrobatischer und rasantester Finessen) sowie mit ihrer Leidenschaft bei der mimisch-gestischen, also schauspielerischen Darstellung.

La Laudere hat den großen Vorteil, mit ihrem edlen, gleichmäßig proportionierten Körper und ihren nordischen Gesichtszügen eine sehr heutige Titelheldin abzugeben. Man kann sie sich gut statt in der Kutsche auch im Rolls Royce vorstellen. Die Handlung spielt ja im 19. Jahrhundert, der zugrunde liegende Roman von Alexandre Dumas dem Jüngeren ist eine Rückschau und erschien im Revolutionsjahr 1848.

Die Kameliendame entzückt immer wieder

Anna Laudere – als „Kameliendame“ in jener Szene, in der sie sich für den Rest ihres Lebens verliebt. Foto: Kiran West / Hamburg Ballett

Wenn Laudere in den bauschigen, prunkvollen, raschelnden und mit Volants gespickten Gewändern, die Jürgen Rose mit viel optischem Tastsinn schuf, ihre Pirouetten und Développés vollführt, dann ist sie eine in ihrer Eleganz zwar zeitlose, aber auch sehr gegenwärtige Femme fatale.

Die Kurtisane Marguerite Gautier, die sie darstellt, interessierte sich – bis sie ihre große Liebe traf – vornehmlich für Luxuswaren des alltäglichen Bedarfs, von teurer Kleidung über kostbare Juwelen bis zu exklusiven Einrichtungsgegenständen. Kämen noch ein Tablet und ein Handy hinzu, würde sie fast nichts von einem neureichen Callgirl aus unserer Zeit unterscheiden.

Im Theater, das sie besucht, wird ein Stück über „Manon Lescaut“ getanzt. Mayo Arii ist eine ätherische, im Vergleich zur verträumten, aber auch dynamischen Laudere nachgerade vergeistigte Manon.

Dieser Gegensatz der beiden Frauen lässt sie einander verstehen, aber auch voreinander zurückschrecken.

Abbé Prévost schrieb im Spätbarock die Geschichte der Edelnutte Manon auf, die der Liebe eines Studenten verfällt, er wiederum ihr – und sie stirbt in seinen Armen als gebrandmarkte Hure auf der Flucht aus einer Strafkolonie.

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Marguerite befürchtet nun natürlich, durch die Liebe zu einem nicht angemessen reichen Mann ebenfalls aus dem Luxussegment ihrer Gesellschaft herauszufallen. Denn eine verliebte Prostituierte hat unter Umständen einfach keine Lust mehr darauf, ihre Lust meistbietend zu verkaufen. No money, no honey – aus der Oberschicht kann es dann im ungezügelten Kapitalismus ganz rasch bergab, bis ganz nach unten auf die Straße, in die Obdachlosigkeit, gehen. Das war schon im 19. Jahrhundert so – wie heute wieder.

Manon und Marguerite sind Heldinnen nicht aufgrund ihres Standes, sondern aufgrund ihrer Liebe.

Manon ist von daher eine bedeutende Rolle im Ballett „Die Kameliendame“, auch ihre Auftritte zeichnen sie als zweite weibliche Hauptrolle aus.

Aber was wäre diese ganz in violette Farbnuancen gehüllte Barockfantasie ohne ihren Partner, den sinnenfreudigen Studenten Des Grieux?! Jacopo Bellussi ist ein geschmeidiger, hingebungsvoller Des Grieux, und wenn er seine Manon, also Mayo Arii, in die Höhe hebt, sie um sich wickelt, sich auf komplizierte Pas de trois mit Armand oder Marguerite einlässt (aber nie auf Pas de quatre mit beiden zugleich) – dann hat man den Eindruck, er sei direkt aus dem Roman von Prévost entstiegen, um hier allerlei Warnsignale und Erklärungen tänzerischer Art abzugeben.

Die Kameliendame entzückt immer wieder

Mayo Arii – hier auf dem Presseportrait von Kiran West – tanzte nachmittags die Partie der Manon in „Die Kameliendame“ – ätherisch und schwebend, ganz jenseitig, dennoch sehr eindringlich.

Und tatsächlich wiederholt sich das traurige Schicksal vom Sterben der verliebten Nutte anhand Marguerites Werdegang, allerdings nochmals um die tragischen Faktoren des Selbstverzichts und der Einsamkeit gesteigert.

Und kaum nahm die reine Liebe im verdorbenen Sumpf der Amüsiergesellschaft ihren Lauf, kaum zog das ungleiche Paar mit ein paar Freunden für den Sommer aufs Land, mit kunstvollen Hebungen, entzückenden Intermezzi und doch so einfach zu verstehenden, großen Gefühlen – da taucht auch schon der Hauptgeldgeber der Luxusnutte auf und verlangt, dem fröhlichen Treiben an der guten Landluft ein Ende zu bereiten.

Aber da wirft Marguerite ihn doch glatt hinaus! Schmeißt ihm zuvor noch ihre Juwelen vor die Füße – und stellt sich schützend vor ihren unbedarften Liebhaber, der keine Ahnung davon hat, wie sehr wie in ihrer Welt als Statussymbol benutzt und missbraucht wurde.

Allein gelassen, zelebrieren Laudere und Revazov den Weißen Pas de deux mit einer solchen Anmut und erregten Verzückung, dass man sie um den Gemütszustand der Figuren, die sie darstellen, nur beneiden kann.

Offenkundig ist die Liebe hier die Nährquelle für viele andere positive Gefühle und Haltungen – man könnte, und das ist das Wundersame daran, meinen, diese Liebe mache nicht etwa noch selbstsüchtiger und egoistischer, als die Menschen es gemeinhin sowieso schon sind, sondern sie habe eine läuternde und altruistisch machende Wirkung auf die beiden Liebenden.

Wenn man sich hingegen anschaut, wie allerorten Pfingsten draußen, in der realen Welt, gefeiert wurde – nämlich mit dröhnend lauter, qualitativ äußerst schlechter und primitiver Musik, mit Unmengen Alkohol, die früher oder später zu Umweltverschmutzungen diverser Art führen, mit ungesunden Würsten von zu Tode gequälten armen Schweinen (oder anderen gefolterten Viechern) und auch mit so richtig miesem, unbeherrschten Benehmen – dann kann man das Opern- und Balletthaus nur dafür loben, dass es ein wahrhaftiger Hort der Menschlichkeit und der Kultur, aber auch ganz einfach der Zivilisation ist, so wie es die Kirchen und sonstige religiöse Tempel ganz sicher schon seit langem nicht mehr sind und auch nicht mehr sein können.

Das Pfingstwunder aus der Bibel hingegen ist eine zweitausend Jahre alte Legende mit großem kulturellen Wert auch ohne religiösen Kontext. Es besagt, dass sich Menschen, die verschiedene Muttersprachen hatten und die niemals eine Fremdsprache erlernten, sich auf einmal – dem christlichen Glauben nach dank der göttlichen Kraft von Jesus Christus – hervorragend verstehen konnten.

Dieses seltsame, unerklärliche Einverständnis, dieses harmonische Miteinander ohne Worte (oder trotz vieler Worte) erfasst – und zwar ohne benebelnde Drogen – auch das Ballettpublikum.

Ballett hat nun mal die Eigenschaft, sowohl die Tanzenden als auch die den Tanz gedanklich Nachvollziehenden (also die Zuschauer) geistig und seelisch gleichermaßen zur Selbstbeherrschung zu erziehen.

Ist das nicht, was diese Welt ganz dringend braucht?

Ist das nicht, was Menschen, die ausschließlich an sich und ihre Familie denken, ganz heftig benötigen?

Die Kameliendame entzückt immer wieder

Liebe macht nicht blind, sondern erweitert den Horizont: Anna Laudere und Edvin Revazov in „Die Kameliendame“, im ersten Akt, bei der ersten stürmischen Annäherung. Foto: Kiran West

Ist es nicht absurd, dass ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da für jeden klar sein sollte, dass die Luftverschmutzung, die Waldabholzung, die Wasser- und Wiesenvernichtung und die Überbevölkerung diesen Planeten in eine Hölle aus Krieg und Gewalt verwandeln, sich das russische Roulette aus Konsum und noch mehr Konsum und immer mehr Konsum nur umso schneller dreht? Anhalten, möchte man brüllen, Maschinen, steht still! Und dann möchte man hinaus in den Park oder den Garten treten und tief einatmen können, ohne einen Hustenanfall zu bekommen oder den Verwesungsgeruch einer Müllhalde zu inhalieren.

Aber was tun wir dafür? Im Kulturtempel wird über solche Fragen immerhin nachgedacht, wenn klassische Musik ertönt, zum Beispiel, wie hier von Frédéric Chopin, von Markus Lehtinen dirigiert.

Insofern ist Genuss von dieser Art ein heilsamer nicht nur für die Einzelnen, sondern auch für die ganze Gemeinschaft. Und man kann davon ausgehen, dass die positiven Energieströme, mit denen die Yoga-Anhänger stets so prahlen, beim Ballett noch in viel stärkerer Ausprägung vorhanden sind.

Gestört wurden diese guten künstlerischen Energien in der Nachmittagsvorstellung am Sonntag in der Hamburgischen Staatsoper allerdings davon, dass die Klimaanlage falsch eingestellt war und ein eiskalter Zug einen im Parkett stundenlang zum bösen Frieren brachte. (Anmerkung vom Dienstag danach: Bei mir entwickelte sich darum eine heftige Erkältung, nicht gerade lustig, und das ist nun wirklich nicht das Mitbringsel, das man aus einem Balletterlebnis mitnehmen möchte. Aber eine solche Kälte in einer Aufführung habe ich wirklich noch nie erlebt, LeidensgenossInnen sollten sich ruhig entsprechend mitteilen, auch wenn die Temperatur am Abend im Zuschauerraum wieder in Ordnung war.)

Die Kameliendame entzückt immer wieder

Edvin Revazov als frisch verliebter, fast verstörter Armand in der ersten Theater-im-Theater-Szene in der „Kameliendame“ von John Neumeier. Er tanzte diese Rolle auch schon am Bolschoi, als Partner von Svetlana Zakharova. Im Hintergrund auf dem Foto: Alexandre Riabko als barock-mondäner Des Grieux. Foto: Kiran West

In diesem Sinne war mein Pfingsten also gesundheitlich eine Pleite – aber ohne Ballett wäre es kein wirkliches Pfingsten gewesen. Legen Sie gegebenenfalls schnell noch eine DVD ein – „Die Kameliendame“ von John Neumeier etwa ist gleich in zwei Versionen im Handel erhältlich. Oder Sie stöbern auf youtube, wo Sie aufs richtige Stichwort reichlich Anregungen erhalten.

Oder Sie lesen ganz einfach hier weiter, um mehr zum Pfingstsonntag beim Hamburg Ballett zu erfahren.

Eine große Überraschung für mich in der nachmittäglichen „Kameliendame“ war nämlich:

Die Kameliendame entzückt immer wieder

Georgina Hills – hier im Presseportrait von Kiran West – entzückt als Nanina in „Die Kameliendame“ mit gekonnter Rollendarstellung und intensiver Präsenz.

Georgina Hills als Nanina, die treue Dienerin der „Kameliendame“, sie war eine Offenbarung!

Blass und schön, zurückhaltend, aber präsent, verlieh sie der Rolle genau jenes Flair, das ich stets vor Augen hatte, wenn ich den Roman „Die Kameliendame“ las (und das war seit meiner frühen Pubertät schon ziemlich häufig der Fall). Nanina ist nämlich loyal und ergeben, aber auch schüchtern und beobachtend. An ihr ist nichts aufdringlich und nichts ordinär. Nicht jede Besetzung kann das im Ballett leisten!

Graeme Fuhrman als Herzog traf mit effektiver Art die nötige Balance aus Edelmann und Hurenbock.

Xue Lin als Olympia begeisterte mit Charme und Gier in einer unwiderstehlichen Mischung.

Matias Oberlin bemühte sich redlich, den Drive und die Süffisanz des mit der Reitpeitsche hantierenden Gaston zu treffen.

Die Kameliendame entzückt immer wieder

Ivan Urban als Monsieur Duval und Anna Laudere als „Kameliendame“ – vor der alles entscheidenden Aussprache. Foto: Kiran West

Ivan Urban schließlich als Vater von Armand übertraf insofern alle Erwartungen, indem er zwischen den choreografierten Schritten und Posen, in denen er den reservierten, konservativen, hartherzigen Verfechter seines Standes mimt, auch mal durchblicken ließ, dass dieser Monsieur Duval auch nicht ganz frei von männlichen Gelüsten ist.

Wenn er mit der „Kameliendame“ tanzt, die er währenddessen dazu überredet, ihr eigenes Glück zu zerstören und sich von Armand zu trennen – damit die Familie Duval nicht von der Misfits-Lady Marguerite gesellschaftlich beschädigt wird – dann schwingt da mit, dass er seinen Sohn verstehen kann.

Gerade dieses zwischenmenschliche Verständnis füreinander macht die Beziehung Marguerites zum Vater ihres Geliebten so schwierig. Sie weiß, dass sie todkrank ist (im Roman ist es Tuberkulose) und nur noch wenige Monate zu leben hat. Ihre große Liebe könnte ihr Kraft geben, diese Zeit möglichst sinnvoll zu leben – und nicht allein zu sterben. Dadurch, dass sie den gesellschaftlichen Zwängen als Argument nachgibt und sich dann wirklich vom nichtsahnenden, naiven Armand trennt, stürzt sie sich selbst in Unglück und einen verfrühten, besonders grausamen und einsamen Tod.

Aber auch Armand verwindet die Trennung keineswegs leicht.

Als es bei einem zufälligen Wiedersehen bei einem Spaziergang im herbstlichen Paris erneut zwischen den beiden funkt, er jedoch – um Marguerite zu kränken – bereits mit einer anderen Luxusnutte geht, besucht sie ihn. Vorgeblich, um ihn um Schonung zu bitten.

Man kann sich denken, dass daraus der heißeste Pas de deux entsteht, den so eine gebrochene, immer wieder aufflammende Liebesgeschichte nur hergibt. Der Schwarze Pas de deux ist denn auch ein Glanzstück in der Geschichte des Weltballetts, und all die exklusiven Hebungen darin, die Drehfiguren, Synchrontänze, aber auch die gestischen Details wie das Anschmiegen diverser Körperteile an solche des Geliebten sind zu einer Fuge der Passion und der überwältigenden Emotionen geschmiedet.

Anna Laudere und Edvin Revazov sind beides Meisterkünstler, die diesen Hochleistungstanz mit solchem Elan absolvieren, als sei er soeben erst von ihnen oder für sie erfunden worden. Dass die Choreografie von 1978 bzw. 1981 stammt, scheint schier unfasslich, so modern, so zeitgenössisch wirkt sie hier.

Doch auch Olga Smirnova, die als Stargast aus Moskau nach Hamburg kam, hat eine eigene, überzeugende Interpretation der „Kameliendame“. Sie tanzt diese Partie am Bolschoi-Theater seit 2014, und diese Saison zeigte sie erstmals beim Hamburg Ballett, wie hervorragend sie auch in dieses Ensemble passt.

Smirnova ist hoch gewachsen, schmal, sehr zart, sehr ebenmäßig. Ihr Stil ist ausgeprägt lyrisch. Sie wirkt wie ein scheues Reh, wenn sie über die Bühne trippelt, dennoch hat sie das typisch russische Temperament, das einen vor allem in den Bann zieht, wenn sie dramatische oder tragische Passagen tanzt.

Die Kameliendame entzückt immer wieder

Olga Smirnova im Blauen Pas de deux in „Die Kameliendame“ – zu Gast aus Moskau beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Ihre „Kameliendame“ ist in der pompösen Welt persischer Teppiche, kristallener Kronleuchter und großer Blumenbouquets zweifelsohne heimisch. Während Anna Laudere vor allem beim einfachen Leben auf dem Lande, einer einzigen Hymne an die Natürlichkeit, sich glücklich zu entfalten weiß, scheint Olga Smirnova doch mehr das Luxusweibchen zu sein, das sich an die Pureness außerhalb der Metropole Paris erst gewöhnen muss.

Ihr Partner als Armand ist Christopher Evans, der ebenfalls hoch gewachsen, rank und schlank ist, und der sich in die Liebe hier stürzt wie in ein unwägbares Abenteuer. Seine Pirouetten sind sauber, seine Sprünge exzellent – vor allem aber sprüht er nur so vor innerem Feuer.

Und das nicht nur, wenn er – wie in den Pas de deux – bekommt, was er möchte!

Zwar umgarnt er seine Kameliendame beim ersten Alleinsein, im Blauen Pas de deux, mit stürmischer Ungeduld. Aber dann ergibt er sich dem zärtlichen Gefühl und hebt sie mit fast übergroßer Sanftheit.

Als sie sich später von ihm trennt (auf Geheiß seines Vaters), und ihm in einem Brief mitteilt, sie vermisse ihr altes luxuriöses Leben und verlasse ihn darum, rastet Armand aus. Und tanzt eines der bedeutendsten und außergewöhnlichsten Soli für Herren, das die Ballettwelt je hervorbrachte.

Dieses „Wut-Solo“, das mit Verlassensschmerz und dem Aufbegehren dagegen angefüllt ist, beherrscht Evans mit einer Stärke des Gefühls, wie ich es noch nie gesehen habe. Nicht einmal Roberto Bolle kann da konkurrieren!

Am Ende dieser herzzerreißenden Geschichte aber steht nicht Wut, sondern die Reue, die Trauer um die Geliebte, sogar der Vater bereut (freilich ohne, dass das etwas ändert) – und eben mit diesem Gefühl beginnt ja auch der Leidensweg des unglücklichen Armand, dessen Liebe ein Opfer der Verhältnisse wird, vom eigenen Vater ausgetrickst.

Es ist immer wieder spannend, sich zu fragen, wie man heute so eine Geschichte geschrieben hätte oder enden lassen würde.

Die Kameliendame entzückt immer wieder

Eine Schlüsselpose im Weißen Pas de deux in „Die Kameliendame“, hier getanzt von Olga Smirnova und Christopher Evans beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Ob Marguerite und Armand mit einem kleinen Startkapital in der Fremde einer Kleinstadt oder sogar in einem anderen Land eine Chance hätten – wer weiß? Könnten sie nach Korfu oder Teneriffa ziehen, um auf Heilung für Marguerite durch das gute Klima zu hoffen und bescheiden etwa von den Einkünften eines Olivenhains zu leben – wer weiß?

Alexandre Dumas der Jüngere gibt uns dahingehend keine Mitteilungen.

Er wollte sein zeitgenössisches Publikum rühren und keineswegs reale Lösungsmöglichkeiten für Liebende anstoßen, deren Liebe in der Welt nicht willkommen ist.

Zur Rührung tragen indes auch die anderen Protagonisten und Darsteller bei.

In der Abendbesetzung an Pfingstsonntag waren das in Hamburg (außer anderen, die bereits gelobt oder benannt wurde):

Die Kameliendame entzückt immer wieder

Carolina Agüero tanzt die Manon mit sinnlicher Kraft, sehr schön im Duett mit Olga Smirnova als „Kameliendame“ anzusehen. Presseportrait: Kiran West

Da ist die sinnliche Präzisionsballerina Carolina Agüero als eine Manon, die gerade nicht ätherisch-jenseitig wirkt, sondern die mit jeder Geste eines Fußes, eines Armes oder des Kopfes von ihrem Leben, ihrem Lieben und ihrem Leiden zu erzählen weiß.

Mit dem markant-männlichen Alexandre Riabko bildet sie ein melancholisch-liebendes Paar, das wie mit unsichtbaren Schicksalsfäden verbunden ist.

Die Pas de trois mit der Kameliendame oder mit Armand strotzen nur so vor kämpferischer Lebendigkeit. Denn während Armand und Marguerite bei ihren Pendants Trost suchen, um mental zu überleben, versuchen Manon und Des Grieux, die beiden in ihre Sphäre zu involvieren – in ein Reich der Fantasie, in eine Parallelwelt, letztlich ins Totenreich.

Im Duett von Agüero mit Smirnova begegnen sich zwei ungleiche Gleiche, die voneinander nicht lassen können. Am Ende folgt Marguerite ihrer Vorgängerin – nicht ohne bei der letzten Theatervorstellung, die sie besucht, noch entsetzt vor diesem Ende zu fliehen.

Die Kameliendame entzückt immer wieder

Bei ihm ist es sofort Liebe, sie versucht, kokettierend abzuwehren. Aber dann… Olga Smirnova als „Die Kameliendame“ fest im Griff von Christopher Evans als Armand. Foto: Kiran West

Die vielen Mini-Dramen, die hier zu einer großen schlüssigen Geschichte zusammengefügt sind, bezeugen, dass John Neumeier nicht nur ein genialer Choreograf, sondern auch sein eigenes dramaturgisches Genie ist.

Man taucht hier ein in ein Meer aus vielen Puzzleteilchen, die dennoch alle zusammen ein erkennbares großes Ganzes ergeben.

Diese Welt von Marguerite und Armand lebt und vergeht mit ihrem Tanz – und sie ersteht jedes Mal wieder auf, wenn sich der Vorhang öffnet. Oder auch, wenn jemand an sie denkt. Wundersam. Hatschi.
Gisela Sonnenburg

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