Die Geduldige mit dem nordöstlichen Flair Eine Paraderolle für Anna Laudere vom Hamburg Ballett: Solveig in „Peer Gynt“ von John Neumeier

Hier enden Peer Gynt und Solveig gemeinsam in der Premierenbesetzung mit Carsten Jung und Alina Cojocaru. Foto: Holger Badekow

Hier enden Peer Gynt und Solveig gemeinsam in der Premierenbesetzung mit Carsten Jung und Alina Cojocaru. Foto: Holger Badekow

Diese Solveig hat etwas unendlich Schweigsames. Etwas Ernsthaftes. Etwas, das sie wie ein Schutzwall umgibt und allen Unrat, alle Unbill des Lebens von ihr fern hält. Sie ist darin eingesponnen wie in einem Kokon, den sie mit sich herum trägt. Nur selten kommt sie da raus – wie ein Einsiedlerkrebs aus seiner schneckigen Behausung. Wenn Anna Laudere als Solveig in „Peer Gynt“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett das tut – sie also aus sich heraus geht – dann scheint die Sonne auf der Bühne aufzugehen. Dann strecken sich diese schönen, langen Frauenbeine, dann spreizen sich diese zarten Damenhände, und dann schaut dieses Jungmädchengesicht unter der naturblonden Frisur so unschuldig und so hilflos und so unbeirrbar zugleich drein, dass man ihr umgehend Unterstützung anbieten möchte.

Anna Laudere, gebürtige Lettin, umgibt ja ohnehin und auch in weniger tragischen Rollen eine Aura des Nordöstlich-Erhabenen: Melancholie und Heiterkeit, beide in Maßen, mischen sich darin. Als Solveig, diese norwegische Nationalfigur, die der Dramatiker Henrik Ibsen als weibliches Gegenstück zu seinem Titelheld „Peer Gynt“ erfand, kann Anna Laudere ihr Temperament voll einbringen. Als sie Peer kennen lernt, in einem kleinen Dorf irgendwo hoch im Norden, rempelt sie ihn fast an, rückwärts auf ihn zulaufend: Sie ist ein Mädchen, das für alles offen ist.

Bei der Uraufführung tanzte Anna Laudere die Rolle der Aase (siehe Videostill oben), also der Mutter von Peer. Sie bildete damit einen ruhigen Pol im Gesamtgefüge des Balletts, und gleich zu Beginn des Abends ist sie die zentrale Figur einer „Standpyramide“, die Peers Identität begründet. Sie besteht aus Aase, der Leben spendenden Mutter, und den verschiedenen „Aspekten“ von Peers Persönlichkeit, die bei Neumeier personifiert auftauchen und den Titelhelden vom Geburtsmoment an durch sein Leben begleiten.

Peer ist zu diesem Zeitpunkt ein stoffeliger, pubertierender Jugendlicher, der sich ungelenk und plump, eigentlich wie ein grob geschnitztes Riesenbaby verhält. Edvin Revazov macht mit seiner starken, großen Statur eine ganz eigene Sache aus dieser Partie, die in der letzten Saison, mit dem bravourösen Carsten Jung besetzt, eher vielschichtigen Glamour und große psychologische Tiefe ausstrahlte.

Der absurd-triebhafte Peer, den Revazov verkörpert, bedeutet indes von vornherein für die Frau, die ihn liebt, ein großes Unglück. Anna Laudere macht das deutlich, indem sie die Hände vors Gesicht schlägt und viele Sekunden so verharrt. Genau das ist ihr Gefühlszustand als Solveig: Diese Geste ist bei ihr tonangebend. Die Liebe kommt wie ein Schrecken über sie – und bleibt, ein Leben lang. Da tobt auch die Musik von Alfred Schnittke dazu – exzellent vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter Markus Lehtinen gespielt.

Aber es hilft nichts: Das Frauenunglück ist gemacht. So einen Kerl zu lieben, ist schlimmer, als direkt in die Hölle zu fahren.

Peer Gynt kommt ohne Hemmungen zur Welt.

Die Standpyramide, in der Premierenbesetzung bestehend aus Aase (Anna Laudere) und Peers „Aspekten“, kündigt ganz zu Beginn des Stücks die Geburt von „Peer Gynt“  an: im gleichnamigen Stück von John Neumeier beim Hamburg Ballett. So zu sehen im Werbetrailer für „Peer Gynt“ beim  Hamburg Ballett, Videostill daraus: Gisela Sonnenburg

Man leidet mit Solveig. Und während Peer Gynt seiner hemmungslosen Selbstverwirklichung nachgeht und ein groteskes Abenteuer nach dem anderen absolviert, sucht Solveig ihn mit der Besessenheit der total Verknallten und der Geduld der Wissenden immer wieder auf. Sie weiß, dass ihr Peer ein unreifer Charakter ist, unfähig zu wirklichen moralischen Tugenden. Sie weiß weiter: Er ist ein Anti-Held und noch dazu ein Hochstapler. Sie weiß aber auch, dass er exakt jenes Gegenstück Lebendigkeit verkörpert, das ihr fehlt und das sie braucht, um überhaupt noch atmen zu können.

Die Hebefiguren zwischen den beiden sind denn auch atemberaubend. Anna Laudere, wahrlich keine „kleine“ Tänzerin, schwebt frei wie ein Vogel, wie ein Mauersegler oder ein Adler, auf Revazovs imposanten Schultern, lässig ruhend. Er wirbelt sie danach in exakt getakteten Tempi durch die Gegend, und er taucht auf mit ihr, wenn er sich mit ihr wie mit einem „Gepäckstück“ aus einer verschlungenen Pose erhebt.

Ihre Gesten sind exakt, geometrisch, modern und berückend. Mit den romantischen Hebungen etwa aus „La Sylphide“ haben sie wirklich nichts mehr zu tun, aber auch mit den akrobatischen Rock’n Roll-Statuten einer Twyla Tharp wollen sie nicht konkurrieren.

Sie sind eine Klasse für sich, diese Neumeier’schen Hebungen, und wer bislang noch nicht wusste, dass das Wort „Hebung“ in der deutschen Sprache und Philosophie dreifache Bedeutung hat, der sei nun davon belehrt: Es gibt „Hebung“ im Sinne von räumlicher Anhebung, „Hebung“ im Sinne von „Erhabenheit“ und „Hebung“ im Sinne von „Aufhebung“, also „Auflösung“. En detail nachzulesen und zu reflektieren ist das anhand von Hegels Didaktik – ich werde zu gegebener Zeit noch stärker darauf Bezug nehmen und in einem anderen Beitrag weiterhin darauf eingehen.

In „Peer Gynt“ von John Neumeier jedenfalls findet der erste wirkliche Liebes-Pas-de-deux eine knappe halbe Stunde nach Vorstellungsbeginn statt, und darin trägt Anna Laudere als Solveig so ein weißes Kleid und ein Kopftuch, das sie umgebunden hat, als säße sie in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts in einem Cabrio. Noch ist ihre Suche nach dem Mann ihres Lebens (und später auch ihres Sterbens) von viel Hoffnung geprägt, die immer wieder in ihren verzweifelt werbenden Bemühungen um diesen ulkigen Kerl aufblitzt. Das Outfit verleiht Solveig hier zudem eine Fröhlichkeit, die von der Choreografie in den aufleuchtenden Details eingelöst werden kann. Die vielseitig das Stück erfassende und auch ergreifende Ausstattung stammt im übrigen von der lebenden Legende Jürgen Rose. Die Kulissen zeigen denn auch  eine Welt, die viel Leere, durch Peers Aktionismus aber auch viel Sinnstiftung enthält.

Anna Laudere tanzt in der Zweitbesetzung die Solveig - eine zu Beginn junge, später alterslose Rolle, die für die beständige Liebe an sich steht. Foto: Holger Badekow

Anna Laudere tanzt in der Zweitbesetzung die Solveig – eine zu Beginn junge, später alterslose Rolle, die für die beständige Liebe an sich steht. Foto: Holger Badekow

Wie darin Edvin Revazov als Peer Gynt, der im wahren Leben Anna Lauderes Ehemann ist, sie da anfasst, das spricht Bände. Er ist ein zupackender Bursche, nicht unbedingt sensibel, aber stürmisch. Die Liebe, die diese seltsam gefasste Solveig ihm entgegen bringt, ist ihm indes unheimlich. Er zeigt – stärker als Carsten Jung in der Rolle, der vor allem Peers Unstetigkeit virtuos tanzte – was ihn alles abstößt an Solveig: ihre Bindungswilligkeit, ihre Bravheit, ihre Ruhe. Sogar ihre Treue findet er wohl unsexy. Dennoch ist da ein Gefühl, gegen das er sich nicht wehren kann. Zuvor waren sich die beiden noch so fremd, und beide zuckten zusammen, wenn der andere sie berührte. Jetzt aber, da Peer sich ein Haus gebaut, eine Leiter zur Schaukel umgebaut und sein Leben scheinbar in den Griff bekommen hat – da sprühen die Funken der behaglichen Intimität zwischen ihnen.

Mit Alina Cojocaru hatte diese Szene bei der Premiere im Sommer 2015 einen ganz eigenen Tenor. Carsten Jung konnte seine zierliche Tanzpartnerin aus dem Stand heraus in die Höhe hieven, als sei sie aus Zuckerwatte. Alles war paradiesisch leicht, durch die Liebe. Sie tanzten einen Traum, Solveigs Traum. Diese Leichtigkeit eines Miteinanders haben wir bei Revazov-Laudere nicht zu erwarten. Dafür gibt Anna Laudere ihr aufregend sprödes Timbre und dafür gibt Revazov seinen männlichen Schmelz in diesen Paartanz.

Und siehe: Es entsteht etwas ganz Eigenes, etwas Neues, etwas, das nicht den Glanz der Premierenbesetzung hat, das aber dennoch zu überzeugen weiß.

Am Ende kommt Peer, der Verrückte, zu seiner Solveig zurück, als gebrochener Mann, als Sterbender. Sie zieht ihn aus, mit einer zelebrierenden Kraft, als könne sie damit sein Leben verlängern. Solch eine Weihe! Schließlich liegen beider Kleider nebeneinander, als seien die Klamotten einst lebendig gewesen. Als seien es Tote, die im Lieben für die Grablegung vereint sind. Ein fast halbstündiger Paartanz in Zeitlupe hebt an, indem die beiden synchron mit den Oberkörpern vom Boden empor streben.

Es ist ein grenzenüberschreitender Tanz ins Jenseits, der ansetzt und auch andere Paare auf die Bühne lockt, um mitzumachen.

Ganz langsam ergeben sich da für alle Tanzenden geltende Spielregeln, die sie vielleicht sogar selbst so gemacht hätten. Sie sind synchron, weichen nicht vom allgemeinen Credo ab – und sie gehen darin auf und versinken in einer sowohl sinnlichen als auch platonischen Liebe, vor unseren Augen, unaufhaltsam, unendlich tief. Hier könnte ein neues Neumeier-Ballett einst beginnen. Aber hier ist auch ein Endpunkt erreicht, organisch und lyrisch, nicht pathetisch oder hymnisch.

Noch einmal das Ende des Abends: Peer Gynt kehrt endlich zu Solveig heim, hier die Premierenbesetzung mit Carsten Jung und Alina Cojocaru. Foto: Holger Badekow

Noch einmal das Ende des Abends: Peer Gynt kehrt endlich zu Solveig heim, hier die Premierenbesetzung mit Carsten Jung und Alina Cojocaru. Foto: Holger Badekow

Das Publikum dankte Anna Laudere und Edvin Revazov für diese Vorstellung mit großem Respekt. Aber auch Leslie Heylmann als Aase (die Mutter Peers, die in der Premierenbesetzung von Anna Laudere getanzt wurde) und Karen Azatyan als lyrische Verkörperung der „Aggression“ verdienen Dank. Ebenfalls großer Dank geht an Luca Andrea Tessarini, der einen knallharten Showbiz-Choreografen und Conférencier mit unnachahmlicher Kühle, Präzision und Brisanz darzustellen weiß. Und auch Ivan Urban, der als „Produzent“ Filmstars vermarktet, und Aleix Martínez, der als versinnbildlichte „Unschuld“ von Peer den Jungmanngeist auf den Punkt bzw. zu den Sprüngen bringt, ist zu danken.

Vor allem aber geht sehr viel Dank an Hélène Bouchet, diese Primaballerina des Hamburg Balletts, die in gleich drei Rollen – als Ingrid, als Grüne und als Anitra – derart viel Anmut und Eleganz, aber auch Komik und Karikatur auf die Bühne bringt, dass schon allein wegen ihr das Anstehen in der Schlange in der Ticketzentrale lohnt. Bouchet verkörpert hier die Rivalin von Solveig, den weiblichen Gegentypus zur mütterlich-treuen Liebenden. La Bouchet als glitzernd-charmantes Weibchen, als mondän-divenhafte Verlockung, als leicht zu habendes It-Girl! Diese Lebenslust! Was für Posen, was für eine erotische Ausdruckskraft – wäre ich eine Schriftstellerin, hier würden noch zwanzigtausend weitere Sätze ihre Brillanz zu loben versuchen.

Fazit: Gehen Sie hin, und bringen Sie Blumen mit – entweder in Form von Blumensträußen, die man auf die Bühne wirft, oder in Form von Gedanken, die man klammheimlich den Tänzerinnen und Tänzern zueignet.
Gisela Sonnenburg

P.S. Fotos von Anna Laudere als Solveig können hier leider nicht gezeigt werden, weil diese durch das Verschulden des Hamburg Balletts bei Redaktionsschluss nicht vorlagen.

Termine siehe „Spielplan“ hier im ballett-journal.de

Weitere Texte zu „Peer Gynt“ bitte hier:

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-peer-gynt/

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-peer-gynt-english/

www.hamburgballet.de

 

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