Das zweite Leben wartet schon Der Zwillingsstartänzer Otto Bubeníček geht beim Hamburg Ballett von der Bühne: neue Aufgaben in der Zukunft versüßen den Abschied

EIn Ballettmann mit Flair: Otto Bubenicek.

Otto Bubenicek: Tänzer, Bühnen- und Kostümbildner, Komponist, Dramaturg – die Zukunft hält viele Aufgaben für ihn bereit, auch ohne beim Hamburg Ballett auf der Bühne zu stehen. Foto: Gisela Sonnenburg

Er trägt einen dunkelblauen Anzug, darunter ein weißes T-Shirt. Er buckelt den Rücken, eine Frau lehnt sich an ihn. Die Spannung zwischen ihnen steigt, aber sie streckt sich in die Höhe – und er stürzt vor und nimmt eine Art Liegestütz-Position mit erhobenem Podex ein. Später steht er vorn, während sie hinter ihm liegt. Er bemüht sich nicht um sie, will sie aber behutsam greifen – in dem Moment steht sie auf. Oh! Sie kriegen sich wohl nie. Dabei ist die Chemie zwischen ihnen so da! Aber so sind Beziehungen manchmal: Sie bestehen aus lauter verpassten Gelegenheiten. Aus Ungleichgewichten. Aus Warten statt Aktion. Ballett kann solche Phänomene viel besser aufzeigen als jede andere Kunst. Zumal wenn, wie hier, die Tänzer die verzwickten Situationen kongenial reproduzieren. Wer hier gerade tanzt? Er – das ist Otto Bubeníček. Sie – das ist Anna Laudere. Beim Hamburg Ballett tanzten sie soeben, während der 41. Hamburger Ballett-Tage, die ergreifende „Winterreise“ von John Neumeier – für Otto war es zum letzten Mal.

EIn Ballettmann mit Flair: Otto Bubenicek.

In der „Winterreise“ von John Neumeier zeigte Otto Bubenicek bei den 41. Hamburger Ballett-Tagen seine Balancen, seine Attitüden, seine hingebungsvollen Pas de deux und Pas de trois – ein Genuss für alle, die dabei waren. Foto: Holger Badekow

„Vor etwa einem Jahr entschieden mein Bruder und ich, den Rückzug von der Bühne anzutreten“. Otto Bubeníček spricht leise, aber sehr deutlich. Er und Jiří Bubeníček sind in der Ballettwelt berühmt, sie sind die tanzenden Zwillinge aus Prag, die als Kinder zweier Zirkuskünstler fürs Ballett entdeckt und auf dem Prager Konservatorium ausgebildet wurden. 1992 erhielten sie den Spezialpreis beim Prix de Lausanne, dem wichtigsten Ballettnachwuchswettbewerb. Seit 1993 tanzten beide beim Hamburg Ballett, erst als Gruppentänzer, dann als Solisten – ab 1997 als Erste Solisten. Jiří ging nach ein paar Jahren, fand beim Semperoper Ballett in Dresden eine neue tänzerische Heimstatt, er gastierte viel international und begann, regelmäßig zu choreografieren. Otto, den eine enge, zwillingstypische Symbiose mit Jiří verbindet, stand seinem Bruder mit Rat und Tat zur Seite, übernahm den Part des Teampartners, der mal Musik sampelte und komponierte, mal die Kostüme entwarf und sich in jeder Hinsicht als begabt und kompatibel erwies.

Das wird die Zukunft für den jetzt 40-Jährigen sein: Neben Gala-Auftritten – vorzugsweise mit den Les Ballets Bubeníček, dem lockeren Verbund von Tänzern aus aller Welt, den die Zwillingsbrüder leiten – wird Otto nun Bühnen- und Kostümbildner, Komponist und Dramaturg sein. Um sich weiter zu entwickeln, wird er in Hamburg „Stage Design“, also Bühnenbildnerei, studieren, vor allem aber wird er mit viel Einfühlungsvermögen seinem Bruder zur Hand gehen. Inspiration, Unterstützung, Ergänzung – diese Bereiche sollte man nicht unterschätzen. Im Sprechtheater gibt es ja schon lange solche Duo-Teams, von denen der mehr schöpferische Part ohne den mehr zuarbeitenden Part nicht wirklich groß geworden wäre. Man denke nur an den Großmeister der Regie Claus Peymann und seinen Dramaturgen Hermann Beil.

Bei den ballettösen Zwillingen kommt noch hinzu: Sie teilen als Tänzer eine gemeinsame Grundlage und Lebenserfahrung, die ihnen das Einander-nah-Sein nicht nur erleichtert, sondern sogar wie eine Zugabe aufs Leben und aufs Arbeiten draufgibt.

Otto ist der weichere, weniger dominante, auch vielseitigere Bruder von beiden. Wenn er sich bewegt, so kulminieren darin Lyrik und epischer Gestus. Diese letzten Vorstellungen während der Ballett-Tage in Hamburg genießt er bewusst – und tanzt sie mit einer so großartiger Hingabe, dass man nicht umhin kommt, sich geprellt zu fühlen, weil er gehen wird.

EIN KOPFNEIGEN WIE EIN WINK FÜR ENGEL

Wenn Otto Bubeníček etwa das Bein beim Tanzen vorstreckt, so hat das einen Ausdruck und eine Poesie, als würde er mit dem Körper einige Verse dichten. Anders als sein Bruder, der ein großes dramatisches Talent ist, liegen bei Otto die Talente im impressionistischen Bereich. Seine Attitüden, seine Ports de bras, seine Balancen sind legendär – und sein Kopfneigen kann anscheinend ganze Engelsheerscharen herbei rufen.

In der „Winterreise“ hat er seine Pas de deux und Soli mit John Neumeier für sich kreiert. Sie sind ihm Schritt für Schritt, Handbewegung für Handbewegung auf den Leib geschneidert. Wenn er dort steht und einen Arm übern Rücken auf die Hüfte legt, um dort die andere Hand zu treffen, hält man ohnehin die tätige Bemühung, die Otto so generös verkörpert, für die eigentliche Botschaft des Stücks.

In einem runden Dutzend anderer Partien des großen Deutsch-Amerikaners Neumeier, darunter in „Die Möwe“, in „Nijinsky“, in „Pavillon d’Armide“, in „Tod in Venedig“, in „Orpheus“, hat Otto Bubeníček ebenfalls sein eigenes Flair und somit seinen Stempel hinterlassen. Das wird bleiben. Zur Rolle des Orpheus kam Otto durch eine Erkrankung des ursprünglich von Neumeier avisierten Gaststars Roberto Bolle – Otto tanzte mit großem Erfolg die Uraufführung des anrührenden Stücks, mit dem Hamburg Ballett im Dezember 2009.

EIn Ballettmann mit Flair: Otto Bubenicek.

In „Napoli“ von Lloyd Riggins tanzte Otto Bubenicek – hier mit Silvia Azzoni – den smarten Golfo, einen Neptun mit Dreadlocks und gefügigem Harem – eine Womanizer-Rolle wie ein Abschiedsgeschenk für den seit Oktober 2014 immerhin 40-Jährigen Primoballerino. Foto: Holger Badekow

Wie ein Abschiedsgeschenk mutet zudem im Rückblick an, dass Lloyd Riggins die Partie des Golfo in „Napoli“ für Otto kreierte. Das war fünf Jahre nach „Orpheus“, im Dezember 2014. Einen durchtriebenen, erotisch versierten Neptun gibt Otto da ab, mit Dreadlocks und jener Hippie-liken Lässigkeit, die man Womanizern allgemein gern nachsagt. In solchen Rollen empfindet ein Bubeníček – der eine wie der andere – stets ein großes Glück.

Denn, so Otto: „Auf der Bühne zu sein, heißt, eine Erfahrung aus voller Seele zu haben: Wir können da jemand anderes sein, in einer bestimmten Rolle leben. Wenn die Figur sich entwickelt, erleben wir das. Und wir haben zur Musik, zu den Kostümen, zum Licht, zur Bühne und zu den anderen Tänzern eine so starke Beziehung – das ist, wenn man das Ziel der Aufführung erreicht hat, ein wirklich sehr befriedigendes Gefühl.“

Man kann das schon mit einem Orgasmus vergleichen, befinden wir im Gespräch: Man strebt dem zu, erlebt ein Herausfallen aus Zeit und Raum – und ist erst hinterher wirklich zufrieden.

EIn Ballettmann mit Flair: Otto Bubenicek.

Otto Bubenicek als Jago in „Othello“: Der lyrische Tänzer in der Rolle des Fieslings – das überrascht und hat einen speziellen Reiz. Noch einmal am Samstagabend mit dem Hamburg Ballett. Foto: Hollger Badekow

Eine solche Aufführung erwartet Otto am Samstag, es wird sein letztes abendfüllendes Stück als Tänzer in Hamburg sein: „Othello“. Er tanzt den Jago, also den Bösewicht und Finsterling, der Othello ins Verderben stößt. Intrigant und listig ist Ottos Jago, ein Heuchler und keiner, der den Dolch nach vorne stößt. Er hilft dem edlen Titelhelden, sich zu Tode zu bringen, wie Otto es formuliert. Das ist die Perspektive aus der Rolle.

Otto, der an sich eher ein liebliches, helles Temperament verkörpert, ist hier ganz schön gefordert – aber gerade der Gegensatz seiner Natur zu dieser dunklen, kaltblütigen Rolle ist so reizvoll.

An die Zeit der Einstudierung erinnert sich Otto noch genau: Er sah Videos mit Max Midinet, Neumeiers „Ur-Jago“, und auch sein Kollege Ivan Urban war ein Vorbild in der Partie. Dennoch musste Otto seinen ganz eigenen Weg zu diesem irdischen Höllenfürsten finden. Besonders liebt er es, das Solo des Jago zu tanzen, das ohne Musik stattfindet und also ganz vom Tänzer abhängt. „Es ist keine Improvisation, aber ich habe hier viel Spielraum und jede Vorstellung wird etwas anders“, sagt Otto Bubeníček. „Alles hängt vom Timing ab“, weiß er, denn das ersetzt die Rhythmen der Musik: „Dabei darf man aber nicht allzu viel nachdenken, denn das hemmt dann nur.“ Für Ballett, auch für modernes, sind solche Freiheiten allerhand!

EIn Ballettmann mit Flair: Otto Bubenicek.

Otto Bubenicek als Jago mit Amilcar Moret Gonzalez als „Othello“ – der hinterlistige Einflüsterer und sein heißblütiges Opfer… Shakespeare hätte es genau so als Ballett gewünscht. Foto: Holger Badekow

Wer den „Othello“ mehrfach gesehen hat, kann die abweichenden Details im großen Jago-Solo – hier ein tieferer Blick, da ein längeres Innehalten – genießen und interpretieren. Denn auch diese monströse Killer-Figur entwickelt sich während des Abends: Erst durch die Kränkung, nicht befördert zu werden, wird Jago zum Terminator. Wie ein Folterknecht richtet er da seine Gattin zum Denunzieren und Quälen ab, erteilt ihr in Form von gebrüllten Zahlen irrwitzige Befehle – die Otto guttural und auf tschechisch ausstößt.

Die Besonderheiten, die man als Tänzer bei John Neumeier hat, sind es denn auch, die Otto besonders fehlen werden. Dieses Gefühl, Teil einer Kreation zu sein. Allerdings gibt es auch Dinge, auf die er sich freut. Auf die Intensivierung der Arbeitsbeziehung mit seinem Bruder. Auf mehr Zeit mit seiner Freundin, einer Violinistin. Schließlich auf die vielen neuen Aufgaben, denn sein neues, zweites Leben erwartet ihn schon.

Bis 2017 sind die Bubeníčeks nämlich bereits ausgebucht! Im November beginnen die Proben beim Tokyo City Ballet, wo im Januar 2016 ein Ballett über die Pariser „Blaue Stunde“ premieren wird. Die Bubeníčeks kreierten es bereits vor einigen Jahren in North Carolina, es ist ein Tribut an die expressionistische Romantik der frühen Moderne, mit einer guten Portion barocker Lebenslust gewürzt. Die Musik stammt von Bach, die Kostüme haben den Charme der Opulenz – und die Stimmung der transzendierenden Stunde vor Einbruch der Dunkelheit, die immer wieder auch von Dichtern besungen wurde, wird tänzerisch zelebriert.

Berühmt sind die beiden Brüder aber vor allem für Handlungsballette. Hier ist der begabte Nachwuchs, den die zwei verkörpern, ja so wichtig! Und Otto und Jiří haben Einiges vorzuweisen. Nach dem Film „The Piano“ von Jane Campion entstand dieses Jahr beim Ballett Dortmund das gleichnamige Ballett der beiden – sie waren vorab zur Recherche nach Neuseeland gereist, Otto sammelte dort Naturgeräusche und Lieder der Maori, sie sprachen mit Campion, entwickelten eine eigene Vision des Themas, einer Liebesgeschichte in einem Clash-of-culture-Umfeld.

Wer so gründlich arbeitet, darf auch Größeres wagen: Die nächste „Ballettisierung“ eines bekannten Kinofilms steht schon an, und zwar werden die „Gebrüder B.“ dem legendären „Doktor Schiwago“ im wörtlichen Sinn auf die Sprünge helfen. Mit Musik von Dmitri Schostakowitsch – und viel Mut, den Vergleich mit dem cineastischen Original dann nicht scheuen zu müssen. Die Uraufführung ist für April 2016 in Ljubljana angesetzt – einer Stadt, die sich, wie Otto versichert, in den letzten Jahren prächtig entwickelt haben soll.

EIn Ballettmann mit Flair: Otto Bubenicek.

Hat keinen Stillstand im Leben: Otto Bubenicek, für wenige Tage noch Erster Solist bei John Neumeier im Hamburg Ballett – und bald freiberuflicher Partner seines choreografierenden Zwillingsbruders Jiri Bubenicek. Foto: Gisela Sonnenburg

Aber das Hamburg Ballett – das wird als prägende Lebenserfahrung bei ihm immer bleiben. Vier bis fünf Dutzend Partien und Figuren hat Otto Bubeníček bei John Neumeier getanzt. Das ist viel – auch für einen Ersten Solisten dieser Ausnahmetruppe, in der man generell mehr Auftritte absolviert als in den meisten anderen.

Ein absolutes Ausnahmeerlebnis war hingegen Ottos Auftritt mit der wunderbaren russischen Startänzerin Svetlana Zakharova. Sie kam als Gast für die Hauptrolle in „La Bayadère“ (in der Version von Natalia Makarova). Und eigentlich tanzte Svetlana das Brillanz und Tragik atmende Stück mit Jiří. Der hatte aber etwas gegessen, das nicht gut verträglich war – und für die zweite Hälfte des Ballettabends musste Otto einspringen. Ohne auch nur eine einzige Probe mit La Zakharova gehabt zu haben!

Aber wie es so ist bei hoch begabten Supertänzern: Alles lief glatt. Und im Publikum hatte scheins niemand bemerkt, dass hier der eine Zwilling den anderen ersetzte. Es war übrigens das einzige Mal, schwört Otto, dass ein Zwilling sich für den anderen ausgab. Um sein Publikum nicht zu hintergehen und auch, um die Leistung Ottos zu betonen, trat dann aber John Neumeier nach Vorstellungsende vor die Zuschauer – und klärte über die überraschende Umbesetzung auf. Das Erstaunen war schier groß! Fast ungläubig applaudierte das Publikum und wähnte sich mal wieder im besten aller denkbaren Ballett-Theater.

Jetzt schließt sich ein Kreis. Svetlana Zakharova wird auch am Sonntag zur „Nijinsky-Gala XLI“ anreisen. Um die „Kameliendame“ zu tanzen, mit dem Hamburger Edvin Revazov, mit dem sie bereits im März letzten Jahres in dieser Rolle am Bolschoi-Theater Triumphe feierte.

EIn Ballettmann mit Flair: Otto Bubenicek.

Otto Bubenicek mit dem Geigenkasten – als John Neumeiers „Orpheus“, einer poetisch-tragischen Rolle. Foto: Holger Badekow

Otto wird dieses Mal nicht Svetlanas Partner sein. Aber auch er ist für ein Highlight der Gala zuständig: Zwanzig Minuten lang wird er Vaslaw Nijinsky in „Le Pavillon d’Armide“ verkörpern, einem Ballett, das Neumeier 2009 mit Otto kreierte. Es zeigt die Konflikte des genial begabten Nijinsky, dem Tanzstar der Ballets Russes, der psychisch erkrankte und sich zunehmend in seine Verrücktheit verwickelte. Im Sanatorium löst dann das Muster eines Wandteppichs Fantasien bei ihm aus – Erinnerungen tanzen auf, als kaleidoskopartiges Panorama passionierter Einbildungskraft. Otto Bubeníček wird es wunderschön tanzen, zart und kraftvoll, geschmeidig, aber modern durchbrochen. Glücklich wird sein, wer es sehen kann – und im ballett-journal.de wird nachzulesen sein, wie es war.

Im Sommer werden die Zwillinge dann mit „Bolle & Friends on tour“ gehen: mit Roberto Bolle, dem avisierten „Orpheus“, und weiteren Kollegen mit Weltklasseprofil treten sie galamäßig in fünf verschiedenen Städten auf. Unter anderem in Pompeji – in mediterran-antikischer Atmosphäre. Es ist für Ballettleute ja so selbstverständlich, für ihre Kunst rund um den Erdball zu fliegen, hier einen Stopp einzulegen, dort einen längeren Halt, weiter zu reisen, von einem Proben- und Aufführungsort zum anderen. Das könnte stressig sein, hätte man nicht eine solide, stabile Basis in sich.

EIn Ballettmann mit Flair: Otto Bubenicek.

Gefasst, mit Neugier und Tatendrang: Otto Bubenicek beim Interview . Foto: Gisela Sonnenburg

Was Otto ganz im Innern immer bleiben wird, egal, wie weit ihn seine Wege noch bringen werden, sind die Lehren, sagt er, die ihm seine Ballettlehrer in Prag mitgaben. Diese Maximen lauten: „Immer echt sein! Nie faken! Keine Manierismen!“

Damit, so weiß Otto, hat er die Grundregel für große Kunst eingeimpft bekommen – wie ein überzeitlich gültiges Credo.
Gisela Sonnenburg

Samstagabend in der Hamburgischen Staatsoper: „Othello“

Sonntagabend dortselbst: „Nijinsky-Gala XLI“

www.hamburgballett.de

Und: www.bubenicek.eu

 

ballett journal