Die tapfere Liebe der Romola Zwanzig Minuten Standing ovations und ein rundes Dutzend geworfene Blumensträuße beim Hamburg Ballett: Carolina Agüero und Alexandre Riabko im Jahrtausendballett „Nijinsky“ von John Neumeier

"Njinsky" ist ein Jahrtausendballett

Carolina Agüero, hier statt mit Marc Jubete in der Besetzung mit Marcelino Libao als Faun, in ihrer Paraderolle der Romola in „Nijinsky“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett: ein letztes Mal noch vor Verlassen der Compagnie tanzte sie diese Partie, traumhaft und expressiv. Foto: Kiran West

Als wäre es eine Premiere: Blumen über Blumen, etwa ein gutes Dutzend schön gebundener Sträuße, wurden auf die Bühne geworfen, der Chef vom Hamburg Ballett, John Neumeier, kam dazu, und zusammen mit seinen Weltklassekünstlern aus der Gilde Terpsichores und dem Spitzendirigenten Simon Hewett genoss er zwanzig Minuten Standing ovations vor dem berückend beglückten Publikum in der Hamburgischen Staatsoper. „Nijinsky“, Neumeiers Jahrhundert- oder auch Jahrtausendballett, das zur Millenniumswende 2000 kreiert und seither 144 Mal getanzt, gespielt, gebrüllt wurde – es handelt sich streng genommen um Balletttheater– und genauso oft künstlerisch wiedergeboren ist, sorgte gestern abend mal wieder für einen Superhype des Tanzerlebens. Zudem tanzte die brillante Primaballerina Carolina Agüero, die das Hamburg Ballett traurigerweise mit Saisonende verlassen wird, wohl zum letzten Mal eine Partie, die ihr auf den bildschönen Körper geschneidert scheint: die Rolle der Romola, der tapferen Kollegin und Gattin des schizophren gewordenen Ballettstars Vaslav Nijinsky. In dessen Part tobte virtuos Alexandre Riabko durch die konzise zweieinhalbstündige Collage, die die entscheidenden Jahre im Leben der Ballettlegende als fulminanten Bilderbogen vorführt.

Vorab auch etwas zum akustischen Genuss:

Ob man Musiken von Dmitri Schostakowitsch überhaupt noch besser spielen kann als das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Simon Hewett, dem Ersten Ballettdirigenten, an diesem Abend, ist zu bezweifeln. Jeder Ton sprühte vor Intensität, die Pauken boten Trommelwirbel wie aus einem Sturmland, die Streicher hingegen zarteste Süßigkeit.

Bis ins letzte Detail stimmten sich zudem die Musiker und die Tänzer ab, man wohnte einem souverän konzertierten Ereignis aus Weltkunst bei, wie es wohl nicht zu übertreffen ist.

Und das bei einem Inhalt des Stücks, das wiederum an Schwere und Tragik kaum zu toppen ist, auch wenn das seelenvolle Gegengewicht zum Grauen hierin hochpräsent ist.

"Nijinsky" von John Neumeier ist ein Jahrtausendballett

Alexandre Riabko betritt als „Nijinsky“ den Festsaal im Sanatorium: Es wird spannend… so zu sehen beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Von der letzten Vorstellung des emotional zerstörten Startänzers Nijinsky– seiner Privatvorstellung in einem Schweizer Sanatorium – über viele ineinander verschachtelte Rückblenden auf sein Leben bis wieder zurück ins Sanatorium, wo er ein atemberaubendes finales Solo tanzt, in dessen Verlauf er sich mit großen Stoffbahnen zu erwürgen droht, ist das Stück ein in sich zugleich offenes und geschlossenes Drama: ums Weltgeschehen ebenso wie über die zerklüftete Seelenlandschaft eines Großkünstlers.

Zahlreiche tänzerische Zitate aus der Ära der Ballets Russes, deren wichtigste Attraktion  Nijinsky war, sind mit Illustrationen des aufwühlenden Innenlebens des ersten ballettösen Superstars verwoben.

Die schockierende Antikraft des Ersten Weltkriegs hat daran ebenso bedeutenden Anteil wie die Liebe, die er in wechselhaften Facetten und zu verschiedenen Personen und Geschlechtern erlebte.

Sein Impresario, der begabte Macher der Ballets Russes, Serge Diaghilev (eindringlich getanzt von Ivan Urban), ist der wichtigste Mann in seinem Dasein als junger Erwachsener.

Doch ihn verliert Nijinsky, als er sich in Diaghilevs Abwesenheit während einer Tournee in die Ballettkollegin Romola verliebt.

Sie war auch schon im Fernsehen in dieser Rolle zu sehen, so auf 3sat, und im Handel ist auch die DVD „Nijinsky“ von John Neumeier mit Carolina Agüero als Romola zu haben. Was für eine Erscheinung! Faksimile von 3sat: Gisela Sonnenburg

Romola! Welch eine feinsinnige Erscheinung, welch ein heldenhaftes Glück in Frauengestalt, welch edelmütige Person und doch schier überirdische Schönheit der Seelenkraft!

Sie ist doppelt und dreifach innerlich stark, und sie muss es auch sein, denn die Ehe mit diesem in sich zerrissenen und dennoch äußerst triebstarken Mannsbild Nijinsky verlangt einem Mädchen viel mehr ab, als normalerweise in einer Beziehung zu geben ist.

Die Ikone starker Frauenbilder auf der Bühne Carolina Agüero ist da genau die richtige Besetzung!

Auf dem Programmzettel steht noch die alternativ avisierte Hélène Bouchet als Romola.

Aber es ist – Hélène möge das verzeihen – ein Segen, dass dieses eine Mal noch die glamouröse Argentinierin Carolina Agüero die Partie tanzen darf.

Und sie macht es, und wie sie es macht!

Es ist wie ein Traum, ihr zuzusehen, wenn sie sich um Vaslav kümmert, ihm hinterherräumt, ihn umsorgt, ihn bewacht, ihn bewundert, für ihn hofft, ihn stützt, ihn präsentiert, ihn hält.

Im langen roten Samtkleid und mit brav gescheiteltem, glänzendem Haar ist sie die eleganteste und doch niedlichste Kindfrau, die man sich nur denken kann. Wie sie ihren Mann, diesen bereits durchgeknallten Megastar, liebt!

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Sie kommt an die Rampe, sie schaut sanft fragend, ja auffordernd ins Publikum – und ihre Rehaugen machen uns zu gläubigen Anhängern der Liebeskraft.

Sie nimmt uns mit auf ihre Reise in die Vergangenheit…

Auf das Deck des großen Schiffs auf hoher See. Sonnig war es und eine leichte Brise wehte wohl. Da saß sie auf dem Liegestuhl und begann zu tanzen. Mit Armen, die sich wie jene indischer Gottheiten durch die Luft schlängeln, um dabei seltsame Zeichen von sich zu geben.

Was für schöne moderne Ports de bras!

Erwartungsfroh und offen ist dieses Mädel hier, und Carolina Agüero lebt so intensiv in der Gegenwart auf der Bühne, dass diese zweifelsohne auch unsere gedanklich heimatliche Sphäre ist.

Der Faun erscheint, getanzt von Marc Jubete. Er umwirbt sie, sie tanzen, und es ist ihr lebendiger Traum, ihre Erscheinung, ihr Vaslav!

Der Pas de deux wird zu einem Pas de trois mit Alexandre Riabko als Nijinsky– die verliebte Erotik entfaltet sich und erblüht zu ehelicher Liebe, als Nijinsky und Romola ihren glücklichsten Paartanz absolvieren.

Ja, da läuten bald die Hochzeitsglocken! Strahlend vor guter Laune flattert die Braut in weißer Seide herein, auf dem Kopf eine weiße Pelzmütze, im Arm weiße Blumen, am anderen Arm den Gatten, der nicht wirklich weiß, wohin er wohl gehört.

Als würde er ahnen, was er alles durch diese überstürzte Eheschließung mitten in einer Tournee der Ballets Russes verlieren wird.

Denn natürlich lässt Diaghilev seinen Superstar fallen. Sie hatten eine sexuelle Beziehung, und diese war vonseiten des Impresarios von Besitzdenken und Dominanz geprägt.

Ehe als Verrat am Dritten.

"Nijinsky" von John Neumeier ist ein Jahrtausendballett

Intensive Männerbeziehung: Alexandre Riabko (Nijinsky) und Ivan Urban (Diaghilew). Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Der Rauswurf aus der erfolgreichen Balletttruppe entwurzelt Nijinsky genauso wie der Verlust der Mannesliebe seines Chefs. Hatte er überhaupt nachgedacht, was das für Folgen haben wird, als er sich mit Romola verband?

Er hat wohl eine Art von Stärke gesucht, die ihm fehlte. Und Romola suchte einen Mann, dem sie all die innere Kraft, die sie im Überfluss hatte, zugute kommen lassen konnte.

Die Prüfungen ihrer Liebe werden hart.

Der große Schlitten-Pas-de-deux zeigt es. Romola zieht ihren traurigen, in sich lethargischen Tänzermann auf einem Rodelschlitten diagonal über die Bühne. Es ist die Mühsal, die Plage einer solchen Ehe, die sie hier ergreifend zeigt. Ihr Mann sinkt zusammen, sie richtet ihn auf. Unglaublich, wieviel Energie in dieser zarten Frau steckt.

Ach, sie leidet! Und ach, auch er leidet!

Seine Soli sind Ausraster auf höchstem künstlerischen Niveau. Die Seelenpein quillt ihm aus jeder Bewegung.

"Nijinsky" von John Neumeier ist ein Jahrtausendballett

Alexandre Riabko und Ivan Urban als „Nijinsky“ und sein Impresario und Liebhaber Diaghilew: keine sachliche Beziehung… so zu bewundern in „Nijinsky“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Schon sein großes Anfangssolo gab dafür den Auftakt: Abwechselnd tanzte Alexandre Riabko da hart und weich, einwärts und auswärts, stakkato und legato, so zappelig und geschmeidig, dass einem die Augen übergingen.

Das ist die tänzerische Tonart dieses Stücks, in dem auch das Ensemble – neben vielen hervorragenden Solisten – eine tragende Rolle spielt.

Über dreißig männliche Tänzer stellen den Krieg dar. Sie bilden ein Heer aus gruselig zappelnder Meute, mal mehr steifnackig und marschierend, mal so anmutig wie es eigentlich nur Geister sein können.

Sie mischen sich mit schön gemachten Mädchen, sie tanzen in Reihen und Reigen und schieben sich so mächtig in wechselnden Formationen über die Bühne, dass man die kraftvolle russische Revolution ganz ohne Fahnengewedel erkennt.

Wie eine stumme Dampflokomotive rollt und walzt und rollt und walzt sie sich über die Bühne.

Aber da ist noch ein Blickpunkt: Silvia Azzoni als Tamara Karsavina im Sylphidenkostüm. Die Leichtigkeit und Puppenhaftigkeit in Person. Die Grazie ist eine Frau!

Ah, da fällt noch jemand auf:

Jacopo Bellussi, der herrliche Shooting Star vom Hamburg Ballett. Er verkörpert hier Leonid Massine, den späteren Choreografen, der als blutjunger Kerl in der „Josephs Legende“ bei den Ballets Russes reüssierte. Hier zeigt er eine typische Handbewegung aus der Josephs-Version von John Neumeier, die 1977 mit dem jungen Kevin Haigen in Wien uraufgeführt wurde und selbstredend unvergessen ist. Und all der Liebeszirkus von Diaghilev geht erneut los.

Während Massine im Licht des frühen Erfolgs charmieren kann, senkt sich hingegen der Lebensstern für den Bruder von Vaslav, der den Namen Stanislaw trägt. Ach und oje, das ist noch so ein schweres und doch auch fast alltägliches Schicksal: Er wurde verrückt, noch vor Vaslav, versank unter heftigen Kämpfen mit sich selbst in der geistigen Schwärze.

"Nijinsky" von John Neumeier ist ein Jahrtausendballett

Aleix Martinéz findet im rasanten Wahn kopfüber Halt in der Familie. In „Nijinsky“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Aleix Martínez hat hier eine seiner Paraderollen, unerbittlich martert er sich in krampfhaften Umherwälzungen, in furioser Raserei, in polternder Machtlosigkeit.

Nur Eines ist da Hoffen: Die Mitglieder seine Familie –  Mutter, Vater, Bruder, Schwester – halten zu ihm. Niemand wird bei den Nijinskys verstoßen. Nicht mal die schwer Kranken.

Und mit Vaslav Nijinsky bleibt hier bis zum bitteren Ende die getanzte Erinnerung an seine schönsten Bühnenabbilder.

Etwa mit Alexandr Trusch als „Spectre de la Rose“, der hier unaufhörlich kreuz und quer und absolut virtuos durch das Geschehen tänzelt, mit Spiralsprüngen und hochnoblen Armposen.

Oder mit Marc Jubete als Goldenem Sklaven. Lasziv räkelt er sich in jeder tänzerischen Einlassung, ob allein oder ob im Paartanz mit Romola, deren sinnliches Begehren ein schönes ergänzendes Pendant zu ihm ergibt.

"Nijinsky" von John Neumeier ist ein Jahrtausendballett"

Auf dem Foto tanzt Thomas Stuhrmann den Petruschka, in der Vorstellung während der 45. Hamburger Ballett-Tage war es Borja Bermudez. Auf jeden Fall in „Nijinsky“, dem Meisterwerk von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Aber auch Borja Bermudez als trauriger russischer Clown Petruschka und Christopher Evans wie auch Alexandr Trusch im Harlequin-Outfit vermögen zu rühren und dem Stück weitere Tiefe zu verleihen.

Der Wahnsinn, er kreuzt sich hier mit der Schönheit.

Und das Harmonische blitzt auf wie ein Batzen Gold in einem Trümmerhaufen.

John Neumeier zeigt in diesem Jahrtausendballett, wie nah der normale Wahnsinn der Menschheit am pathologischen Einzelfall ist, aber auch, wie heilsam die energetisch befreite Liebe zu wirken weiß.

Das ist dermaßen erschütternd und dennoch nicht „erschlagend“, dass Neumeier schon allein für dieses Gesamtkunstwerk, für das er auch das Licht und die Ausstattung schuf, alles Lob der Welt verdient. Was für eine Leistung!
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

 

 

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