Viele Fenster ins Glück John Neumeier und die Nijinsky-Gala XLII überraschten beim Hamburg Ballett mit zahlreichen Highlights und entsprechenden Geschichten

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Zum Abschluss der Saison vom Hamburg Ballett gab es nach der Nijinsky-Gala XLII Konfetti auf der Bühne – und Standing ovations im Zuschauerraum. Foto: Kiran West

Die Ballettwelt hat einmal jährlich ein absolutes Mega-Event: Die Nijinsky-Gala bei John Neumeier in Hamburg. Fünf bis sechs Stunden geht es darin ausschließlich um hochkarätigen Tanz: aus Hamburg, aus Deutschland, aus der ganzen Welt. Der Hausherr moderiert selbst – und weiß die Auszüge aus den verschiedensten Stücken mit Anekdoten und Geschichten zu präsentieren. So auch letzten Sonntag bei der Nijinsky-Gala XLII, mit dem Untertitel: „Portraits in Tanz und Musik“. Der Bezug zu künstlerischen Personen durch Choreografie war dabei entscheidend – ein spannendes und seltenes Beziehungsfeld, das Neumeier somit auslotete.

Der Vorhang gibt den Blick auf die Bühne frei. Der Guckkasten ist sozusagen ein Fenster ins Glück: Die Tänzerinnen und Tänzer vom Bundesjugendballett (BJB), in orange-lachsfarbenen Kostümen, tanzen paarweise mit zumeist fröhlichem Gesichtsausdruck zur erhabenen Musik von Johann Sebastian Bach – und verbreiten zugleich ein Fluidum von Glück wie von steter Suche danach.

Die „Bach-Suite 3“, 1981 von John Neumeier kreiert, vereint die Harmonie des Paartanzes mit dem Spiel von Synchronizität und Differenz.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Giorgia Giani und Pascal Schmidt vom Bundesjugendballett auf der Nijinsky-Gala XLII: in John Neumeiers „Bach-Suite 3“. Foto: Kiran West

Das Hauptpaar, auf der Gala von Giorgia Giani und Pascal Schmidt verkörpert, hat wunderschöne Hebungen und Paarpirouetten zu absolvieren, ohne dabei das Majestätische, das auch Bachs Musik ausströmt, abzulegen. Sie wirken elektrisierend, die beiden.

Die Soli von Pascal Schmidt, einst für Kevin Haigen, den Chef vom BJB, geschöpft, strotzen nur so vor sprungkräftiger Lebensfreude und artistischer Verbindlichkeit.

Aber auch die anderen – die hochbeinige Minju Kang, die elegante Larissa Machado, die frohgemute Teresa Silva Dias, der agile Kristian Lever, der markante Tilman Patzak und der elegische Joel Paulin – wechseln in rasantem Tempo von gleitenden Schritten am Boden zu geschmeidigen Figuren in der Luft.

George Balanchine scheint hier immer wieder der Vater der Gedanken zu sein: Ihm, dem ersten Neoklassiker des Balletts, huldigt Neumeier in der „Bach-Suite 3“ mit geraden Körperlinien und vielen schön proportionierten Winkeln. Tänzer sind ja, bei aller Menschlichkeit, auch immer ein Stück weit wie Skulpturen: aber eben lebendige!

Als Portrait von Bach – oder, wenn man frei interpretiert, auch von Balanchine – zeitigt dieses Ballett eine große emotionale Stärke, gerade weil keine Ausbrüche, sondern ein gewisses Ebenmaß propagiert wird. Souveränität. Zuverlässigkeit. Innerer Halt.

Man kann bei John Neumeier immer wieder fürs Leben lernen – das dürfte all den Fans, die er hat, bereits sonnenklar sein.

Als er im edelgrauen Jackett zu dunkler Hose vors Publikum tritt, ist der Jubel denn auch groß. Er erläutert, inwiefern das Thema „Portrait“ für ihn eine Rolle spielt: „Ich habe viele Personen mit meinen Werken portraitert“, so der geniale Hamburger Ballettintendant. Aber, so Neumeier weiter, neben seinen Tänzern sei die Musik das Wichtigste für ihn. Inspiration kommt demnach gerade nicht vom Reißbrett einher, sondern aus der sinnlichen Erfahrung mit den rhythmisch-melodischen Klängen.

Die „Bach-Suite 3“ hatte er damals für das Operettenhaus in St. Pauli choreografiert; diese Spielstätte sollte ein richtiges „Balletthaus“ werden.

Die Zeitläufte entschieden anders. Das Ballett blieb in der Oper. Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg mag darüber auch ganz froh sein: Akustik und Orchestergraben sind für die klassischen Musiker im Opernhaus eine runde Sache.

Simon Hewett dirigiert die Gala denn auch ohne Allüren, mit Wohlklang und Gleichmaß sowie mit feinem Spürsinn für die Finessen der verschiedenen Musiken.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Edvin Revazov und Anna Laudere in „Fenster zu Mozart“ – ein Neumeier-Stück über Wolfgang Amadeus, hier mit der Episode einer Begegnung zwischen Mann und Frau. Exquisit getanzt auf der Nijinsky-Gala XLII! Foto: Kiran West

Ein Juwel in choreografischer wie musikalischer Hinsicht ist das zweite Stück des Abends: Der Schluss-Pas-de-deux aus dem „Fenster zu Mozart“ von John Neumeier spielt sich zu einer Mozart-Fantasie von Max Reger ab. Reger, dessen Leben die Belle Époque umfasste, ist ja der Orgelmann überhaupt. Er selbst bezeichnete sich als von der Hochromantik geprägt: „Der Brahmsnebel wird bleiben – mir ist er lieber als die Gluthitze von Wagner.“

Johannes Brahms wird es später in der Nijinsky-Gala XLII zu hören geben. Regers „Variation und Fuge über ein Thema von Mozart“ (op. 132) und daraus wiederum die „Variation Nr. 8: Molto sostenuto“ verbreiten eine zarte Melancholie mit sehr modernem Gestus.

Die Choreografie spiegelt das, ohne Ton für Ton zu illustrieren. Das wäre ja auch langweilig!

Anna Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett – sie im weißen Miederkleid, er in hellblauen Barockhosen – tanzen hier mit Hingabe und Leidenschaft die Geschichte einer Annäherung, die voller überraschender Momente ist. Lebensentwürfe scheinen zu zweit durchgespielt zu werden, da ist auch das Wiegen mit den Armen, als läge ein kleines Kind darin. Hier sind die Fenster ins Glück der getanzte Konjunktiv.

Letztlich aber verlässt sie ihn – und er bleibt wörtlich sitzen, allein, versonnen, von seinem künftigen Leben weiterhin träumend.

Eine Pretiose, dieses Portrait von Wolfgang Amadeus, das keinem Klischee huldigt, sondern seiner Musik.

Doch schon rollt das nächste Künstlerportrait an. In diesem Fall ist es sogar ein Selbstportrait. Denn, wie Neumeier ausführt: „Manchmal ist eine choreografische Handschrift so prägnant, dass alle Ballette des Choreografen Selbstportraits sind.“ So sei es mit August Bournonville, aus dessen „Blumenfest in Genzano“ ein neckisch-entzückendes Pas de deux getanzt wird. Und zwar von Christopher Evans, dem furiosen Schnellentwickler vom Hamburg Ballett, und seine Kollegin Madoka Sugai, deren anmutige, aber nicht zu zarte Aura immer etwas Besonderes ist.

Hier schlendern die beiden in passenden Kostümen erstmal so lässig auf die Bühne, als befänden sie sich an einem idyllischen Plätzchen irgendwo auf dem Lande. Und erst, als er die Hände über dem Kopf zur pantomimisch-ballettösen Tanzaufforderung verwirbelt, darf auch die Musik mit Walzertakten so richtig loslegen.

Ha! Madoka Sugai hat zu hübsche Cabrioles, um nicht gierig beguckt zu werden. Und seine Sprungkaft ist ohnehin sprichwörtlich – unglaublich, wie der junge Mann fast aus dem Stand heraus seine tollkühnen Sperenzien in der Luft vollführt. Christopher Evans bietet mit seinen langen, schlanken Beinen eine wirklich interessante Interpretation des dänischen Bournonville-Stils an; leichtfüßig und auch leichtlebig wird hier der getanzte Sommer zu einem erquickenden, alles andere als bedrückenden Gefühl.

Wer mal im Sommer in Dänemark war, weiß, dass das Meerblau und die Farben des bodenwüchsigen Heidekrauts im Flachland dort tatsächlich ein ganz eigenes Flair ergeben, das man im mediterranen Raum etwa umsonst suchen würde. Bournonville sah sich in dieser Landschaft, und er ließ mit den Tänzern seine eigene Seele tanzen.

Doch zum Bühnenleben gehören auch dunklere Facetten.

Ted Brandsen, der Künstlerische Leiter vom Het Nationale Ballet in Amsterdam, schuf darum ein Stück über die legendenumwobene, als Spionin hingerichtete Tänzerin Mata Hari.

„Wie viele Aspekte könnte man dazu ersinnen!“ John Neumeier wäre vielleicht selbst nicht abgeneigt, sich die schillernde Figur der Mata Hari mal für ein Ballett vorzunehmen. Die Holländerin, von der man bis heute nicht weiß, ob sie nun spionierte oder dessen falsch verdächtigt wurde, führte ein ungewöhnliches Leben, mit vielen Lieben und Aufsehen erregenden Auftritten.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

„Mata Hari“ – Thema eines Balletts von Ted Brandsen, der unter anderem Drama und Informatik studierte, bevor er Tänzer und Choreograf wurde. Foto: Kiran West

Anna Tsygankova und Matthew Golding tanzen derweil ein fast stilles Pas de deux aus Brandsens Stück, das die Hoffnung zeigt, die Liebende auch zu Zeiten des Ersten Weltkriegs miteinander entwickelten. Das Fenster ins Glück ist hier eines aus der Zeit heraus.

Technische Schwierigkeiten meistern die beiden übrigens mit Bravour, Hebungen und Fallschritte fügen sich zu einem Muster hoher Ästhetik.

Brandsen studierte übrigens Geschichte, Drama und Informatik, bevor er ganz zum Profitanz ging. Mit Scapino nennt sein Lebenslauf auch eine ungewöhnliche Ausbildungsstätte für einen Ballerino. Dennoch war er bis 1991 Tänzer beim Het Nationale Ballet – und weiß also sehr genau, was er den Bühnenkünstlern abverlangt, wenn er sie ungewöhnliche, auch nicht eben organisch anmutende Drehungen und Hebungen ausüben lässt.

Über einen Mangel an verlangtem körperlichen Einsatz können aber auch die beiden „Duse“-Interpreten Alessandra Ferri, Stargast in Hamburg, und Karen Azatyan, vom Hamburg Ballett, sich nicht beschweren. John Neumeier erzählt, dass ihm, als die heute 53-jährige Superballerina Ferri ihm anvertraute, dass sie sich einige Jahre nach dem offiziellen Bühnenabschied wieder tänzerisch betätigen wolle, sofort die Schauspielerin Eleonora Duse als Thema eingefallen war.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Alessandra Ferri und Karen Azatyan in John Neumeiers „Duse“ – mit viel Schmackes und Schmelz getanzt auf der Nijinsky-Gala XLII. Foto: Kiran West

„Eine italienische Legende verkörpert die andere“, fasst Neumeier mit fast kindlicher Freude seine Idee zu einem Bonmot zusammen. Es passt aber auch superbe: La Ferri hat eine persönliche Ausstrahlung, die weltweit für Begeisterung sorgt, ganz so, wie die Duse sie wohl hatte, denn die Schauspielerin gab internationale Gastspiele, obwohl sie stets auf der Bühne italienisch sprach.

Der Tanz hat nun nie diese etwaigen Verständigungsprobleme.

Und wenn der schöne Karen Azatyan mit einem mächtigen Hechtsprung das Podest entert, um der Ferri als Duse einen großen Strauß roter Rosen zu Füßen zu legen – gleichermaßen sich selbst mit dazu – dann ahnt man, wie die Funken bei der Kreation dieses Balletts gesprüht haben müssen.

Die Duse, mit offenem langen Haar von der Ferri maliziös und sehr expressiv getanzt, dennoch nachgerade realistisch – ohne aber die edelmütige, lang gestreckte Haltung des Balletts je aufzugeben – hatte ja eine heiße Affäre mit dem egozentrischen, auch exhibitionistischen Dichter Gabriele d’Annunzio.

Ihn tanzt hier Karen Azatyan, mit modern-ausdrucksstarkem Impetus, bei aller Anmut und aller männlichen Kraft.

Zum Liebesakt zwischen den beiden (auf der Recamière, in akrobatischen Posen) kommt es aber erst, nachdem er sich von einer Reporterschar, die ihn fast nackt fotografierte, hat anturnen lassen.

Portraitiert sind in diesem Ballett beide, die Duse und ihr durchgeknallter Dichterliebhaber. Und diese eine Szene genügt schon, um tiefe Einblicke in die Psychologie der Figuren zu erhalten. Natürlich möchte man dann eigentlich sofort das ganze abendfüllende Stück sehen – aber das geht auf einer Gala nun wirklich nicht.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Tamara Rojo in ihrer Paraderolle in „Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan“ in einer Aufzeichnung von 2010 auf der DVD „Frederick Ashton – Les Patineurs / Divertissements / Scènes de Ballet“, erschienen bei Opus Arte. Videostill: Gisela Sonnenburg

Eine andere Anregung erteilte John Neumeier 1975 dem britischen Choreografenkollegen Frederick Ashton. Der damals noch sehr junge, aber auch ambitionierte Hamburger Ballettdirektor bat den Altmeister um eine neue Kreation für die Nijinsky-Gala. Und Ashton schuf einen Walzer in der Stilart der Ausdruckstänzerin Isadora Duncan.

Duncan war übrigens eine enge Freundin der Duse, und die Duse wiederum konnte als Einzige die Duncan trösten, als deren zwei Kinder einen schrecklichen Wassertod starben. Auch Isadora Duncan selbst verunfallte später tödlich, auf grausam-skurrile Weise, als ihr langer Sommerschal sich in den Speichen ihres Fahrrads verfing und sie erdrosselte. Das war 1927.

Einige Jahre zuvor, 1921, hatte Ashton sie tanzen gesehen. Die Duncan war damals Ende vierzig, übergewichtig und nicht mehr wirklich ansehnlich. Aber ihre Ausdruckskraft und ihre Befähigung, die Stimmungen auf der Bühne blitzschnell zu wechseln – von kindhaft über stolz bis traurig – beeindruckten Frederick Ashton maßgeblich.

Er hatte ja als ganz junger Mensch bereits eine Initialzündung erlebt, als er Anna Pawlowa auftreten sah. Ohne dieses Erlebnis wäre er nie Ballettprofi geworden, behauptete er. Als Schüler von Léonide Massine und Marie Rambert prägte Ashton als Choreograf den Stil und das Repertoire vom Royal Ballet in London.

Neumeiers Anregung fiel jedenfalls auf fruchtbaren Boden. Er war also schon damals ein begabter Impresario!

Für die Nijinsky-Gala damals schöpfte Ashton einen Tanz zu einem Walzer von Johannes Brahms (dem gebürtigen Hamburger, dem mit dem „Brahmsnebel“ in den Akkorden, wie Max Reger es nannte). Die Ashton-Muse Lynn Seymour tanzte das Stück. Und es war so beglückend für alle Beteiligten, dass Ashton später noch vier weitere Brahms-Walzer in der Spielart der Isadora Duncan choreografierte.

Als „Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan“ gingen sie in die Ballettgeschichte ein und waren auch in voller Länge jetzt in Hamburg zu sehen. Tatsächlich wird hier nicht nur vom Kostüm und der Atmosphäre her, sondern auch rein materiell-choreografisch der Tanz der Duncan imitiert. Auf höchst künstlerische Weise!

Es gibt aber auch, im dritten Walzer, eine Replik auf Loie Fuller – das war jene Ausdruckstänzerin, die mit großen Tüchern auftrat, die sie zu luftgefüllten, wogenden Segeln vor sich hertrieb.

Bei der Nijinsky-Gala XLII tanzte keine Geringere als Tamara Rojo dieses Stück: Rojo ist Ballettchefin vom English National Theatre und als Tänzerin eine Legende, auch und gerade in diesem Ashton-Stück. Es ist sozusagen ihre Paradenummer.

Ach, und sie kann es! Für Ballerinen ist es ja ungewöhnlich schwer, auf die ballettösen Streckungen zu verzichten, um Ausdruckstanz aus dem frühen 20. Jahrhundert zu tanzen. Aber die Rojo hat damit gar kein Problem.

Zu Beginn scheint sie an einem Fluss zu erwachen, ihre Hände spielen mit dem durchlaufenden Wasser. Später entzückt der Frühsommer sie. Mit den Tüchern agiert sie vegetativ, wie ein lebendes Pflanzenmotiv.

Aber dann kommt ein Moment der Verzweiflung auf sie zu. Sie zögert. Sie scheint zu trauern. Die Vergänglichkeit des Schönen wird ihr offenbar in all seiner krassen Disharmonie bewusst.

Doch sie findet zurück zu ihrem hohen Mut – indem sie Blütenblätter aufhebt und daran riecht.

Der letzte Walzer schließlich ist ein Fest der Sinne, das die Kraft des Lebens über die Ängste stellt. Großartig.

Und natürlich auch: ein Fenster ins Glück!

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Isadora Duncan, getanzt von Tamara Rojo auf der DVD „Frederick Ashton – Les Patineurs / Divertissements / Scènes de Ballet“, erschienen bei Opus Arte. Videostill: Gisela Sonnenburg

Es gibt eine DVD, auf der Tamara Rojo eben dieses Stück auch tanzt (in einer Aufzeichnung aus dem Covent Garden in London von 2010). Aber sie life damit zu sehen, ist einfach unvergesslich! Es ist, als habe der Sommer des Lebens gerade erst begonnen und zudem ein schönes weibliches Gesicht erhalten. Wow.

Und dann kommt eine Seltenheit. Anna Laudere tanzt den „Sterbenden Schwan“ von Mikhail Fokine, aber eben nicht in einer der allseits bekannten Varianten mit „schwebendem“ Hereintrippeln zu Beginn und Armhochheben kurz vor dem Tod am Ende, sondern in der Version von Ninette de Valois, die von deren Schülerin Margaret Porter gelehrt wird.

Das Tutu ist hier nicht kurz, sondern lang, und nicht nur Schwanenfedern, sondern auch eine funkelnde Krone schmücken die Ballerina.

Sie beginnt hinten links und steht, während die ersten Takte von Camille Saint-Saens’ rührend schmachtender Musik erschallen, still in einer Tendu-Pose, das rechte Bein vorgestreckt.

Als sie anhebt zu tanzen, ist der Effekt des Schwanenmädchens sehr groß!

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Anna Laudere in „Der sterbende Schwan“ von Mikhail Fokine in der Version von Ninette de Valois. Mal ganz was anderes – und eben nicht der ballettös übliche Schwanentod! Foto: Kiran West

Anna Laudere macht das einzigartig elegant und geradlinig, sie reizt nicht das Maximum an Lyrismus aus, wie sonst in dieser Partie üblich (in den russischen Versionen), sondern sie orientiert sich am scheinbar Animalischen dieser Rolle.

Das ist ja im Grunde auch Sinn und Zweck dieser Choreografie, wird aber bei allen Bemühungen, das Publikum möglichst heftig zu rühren, oftmals von anderen Tänzerinnen darüber vergessen.

La Laudere aber ist Schwan total. Und zwar ein gebrochener Schwan, wie John Neumeier in seiner Anmoderation auch betonte – darum ist das Stück, so der kundige Ballettintendant, für 1905 so revolutionär.

In der Tat war es wohl ein Wagnis, im zaristischen St. Petersburg kein zum Schwan verzaubertes Mädchen auf die Bühne zu stellen, sondern das Publikum imaginieren zu lassen, die Ballerina sei wirklich ein Schwan.

Dieser hier ist zudem krank, frustriert, tödlich getroffen. Angeschossen. Mit einem Blutfleck, einem Einschussloch unterhalb des Brustbeins. Die Königin der Schwäne wurde abgeschossen und wird sterben.

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Das sterbende Schwanenwunder, hier von Maja Plisetzkaja als Silhouette getanzt – die Megaballerina tanzte den „Sterbenden Schwan“ viele Jahrzehnte lang in verschiedenen russischen Versionen, aber niemals in der von Ninette de Valois. Quelle / Videostill: Youtube / Gisela Sonnenburg

Metaphorisch kommt das dem Ende des Balletts überhaupt nahe, denn die tanzenden Schwäne stehen ja symbolhaft auch für Ballett an sich. Es ist, wegen des Krönchens, als stürbe Odette, die Prinzessin vom   Schwanensee – und mit ihr die ganze Kunst. (Tatsächlich gibt es ja im klassischen Schwanensee jenen Moment, in dem Prinz Siegfried und sein Freund auf der Jagd auf die Schwäne zielen. Daran erinnert nun die Valois-Version wie nebenbei.)

Insofern ist dieser Tanz eine Anklage. Es geht die unausgesprochene Frage ans Publikum, an die Gesellschaft: Was habt ihr getan? Ihr tötet die schönen Künste!

Das darf man auch als Ermahnung nehmen, sich für Werte wie das Ballett konkret zu engagieren – und die Hochkultur nicht einfach nur zu konsumieren.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Die Pose zeigt den hoch gestreckten Arm als Schwanenhals. Der Kopf der Ballerina wird da leicht angelehnt. So zu sehen in vielen „Schwanenseen“, hier aber auch im „Sterbenden Schwan“ als Silhouettentanz von Maja Plisetzkaja. Quelle / Videostill: Gisela Sonnenburg

Aber auch wütend und trotzig ist dieses Tier hier, sogar bitter, denn der nahende Tod bedeutet ja keinesfalls Vergnügen. Dieses Aufbegehren des sterbenden Schwans gegen sein Schicksal ist in all den anderen Versionen vom sterbenden Schwan nicht oder nicht so stark enthalten, es verleiht der Darbietung den Geschmack des Realen.

Dieser Schwan stirbt nicht hingebungsvoll und ergeben, auch nicht rundum versöhnt mit der Welt. Dieses Tier hier fühlt sich zu früh abberufen – und ist keineswegs von Beginn des Stücks an schon poetisch entrückt.

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Diese Bewegung würde für Ninette de Valois‘ Version gar nicht typisch sein: Maja Plisetzkaja noch einmal als tanzender Schatten im „Sterbenden Schwan“. Quelle / Videostill: youtube / Gisela Sonnenburg

Das typisch Schwanenhafte der Bewegungen – vor allem das Trippeln mit den langsam flatternden (sich also wellenförmig bewegenden Armen) – ist aber schon Kernbestandteil aller Schwanenversionen.

Maja Plisetzkaja ging übrigens in den Zoo, bevor sie erstmals einen Schwan tanzte – damals gab es noch keine überall verfügbaren bewegten Bilder auf Monitoren, man musste raus ins echte Leben, um sich zu informieren, wie etwas, das man nicht jeden Tag vor Augen hat, eigentlich aussieht.

„Die Beine scheinen angespannt wie die Saiten einer Harfe“, textete der Feuilletonist André Levinson zur Zeit der Ballets Russes über die tanzende sterbenden Schwänin.

Die Porter-Laudere-Version verlangt aber zudem von Beginn an einen vorgebeugten, wie geknickt wirkenden Oberkörper, was zum Trippeln der Füße sehr modern anmutet.

Die Arme, lang und mit sensorisch geübten Fingern bestückt, gleichen dann abwechselnd Flügeln und dem langen Hals des Schwans.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Maja Plisetzkaya tanzt hier den „Sterbenden Schwan“ mit voller Ausleuchtung ihres Körpers – auch das ist auf youtube zu sehen. Videostill: Gisela Sonnenburg

Das Flattern soll Flugversuche darstellen – doch der angeschlagene Schwan zittert mit den langen Flügelschwingen auch um sein Leben.

Diese Todesangst ist durch den Tanz auf ein vergeistigtes Niveau angehoben, wenn es sich auch nicht um einen ätherischen Superlativ, wie bei Sylphiden und Wilis, handelt.

Es obliegt der Ballerina, diese Emotion glaubwürdig zu machen und eben nicht zu übertreiben.

Anna Laudere ist eine Meisterin in diesem Understatement, das sich vehement dem Kitsch-Vorwurf ans Ballett entgegen stellt.

Übrigens tanzte eine andere Anna, nämlich Anna Pawlowa (die, die Ashton zum Ballett getrieben hat), die Rolle jahrzehntelang auf Tourneen durch die ganze Welt. Und Maja Plisetzkaja, Pawlowas wohl bedeutendste Nachfahrin im russischen Ballerinenadel, tanzte den Schwan noch mit über 60 Jahren – eine Ausnahme.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Noch einmal Maja Plisetzkaja in einer „herkömmlichen“ Art, als Schwan zu sterben…. Quelle: youtube / Videostill: Gisela Sonnenburg

Die Harfe, von Clara Bellegarde gespielt, betont auch auf der Nijinsky-Gala den Ausdruck des Überirdischen, des Jenseitigen.

Dennoch bleibt der Tanz in dieser Interpretation erkennbar „tierisch“ – die Seele, die von der Primaballerina Anna Laudere dem Stück eingehaucht wird, ist die der leidenden Kreatur.

Insgesamt bewegt sich der sterbende Vogel von hinten links über die Bühne nach vorne rechts. Dort verharrt er, dreht sich, rafft sich noch einmal auf, um gen Bühnenmitte zu trippeln.

Am Ende gleitet das verendende Tier sanft mit einen Bein vor, um sich mit dem Podex aufs gebeugte andere Knie zu setzen. Die letzten Lebenssekunden des Schwans beginnen abzulaufen.

In der Plisetzkaja-Version geht dann ein Arm nochmal sehr hoch, in die Senkrechte fast, um dort abzuknicken und so den Tod sichtlich einzuläuten.

In der Valois-Version von Laudere aber unterbleibt diese „Hals-Bewegung“ des Arms am Ende. Statt dessen strecken sich beide Arme, an den Handgelenken gekreuzt, weit vor, parallel zum ausgestreckten Bein, in Richtung des gestreckten Fußes – und ein wellenartiges Zittern geht durch die Finger. Dann wird der Kopf auf die Arme gelegt – das Tier ist verschieden.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Hier geht der Arm noch einmal hoch, am Ende vom „Sterbenden Schwan“, so zu sehen bei Maja Plisetzkaja auf youtube. Videostill: Gisela Sonnenburg

Welche Version die ursprüngliche ist, bleibt wohl Glaubenssache. Natürlich behauptet Margaret Porter, nur ihre Variante sei die echte, während man in Russland sicher Zeuginnen der Gegenseite finden kann.

Jedenfalls ist es hoch spannend, dass auch ein so populäres Stück noch für Entdeckungsfreude sorgen kann!

Ebenfalls entdeckt, und zwar neu, wird eine Neumeier-Choreografie zu Musik von George Gershwin.

„Shall we dance?“ So fragt der Titel des Stücks, von dem es einen schmissigen Auszug zu sehen gibt. Die Variationen des melodischen Themas „I Got Rhythm“ wirken hier derweil fast atonal, sie werden in jeder Hinsicht musikalisch stark verändert, um dann ab und an als erkennbarer „Ohrwurm“ wieder anzuklingen.

„Wenn ich George Gershwin höre, werde ich richtig amerikanisch“, sagt Neumeier: „Trotz all der Jahre in Deutschland.“ Oh ja, und er hat Recht: Der lässige Rhythmus reißt einen mit und raus aus der deutschen Gemütlichkeit.

Die Komikerin Georgette Dee erklärte übrigens mal, die Amerikaner würden anders mitklatschen als die Deutschen, nämlich synkopisch – sozusagen Gospel-gemäß (oh, yeah!) – während man in Deutschland immer auf die erste Note eines Taktes klatscht, was marschmäßig ist (humtata!).

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Die anmutige Silvia Azzoni und der furiose Alexandre Riabko: „Shall we dance?“ So munter fragt John Neumeiers Gershwin-Stück, das uns den amerikanischen Anteil der Seele des Meisterchoreografen verstehen lässt. Foto: Kiran West

Entsprechend ändert Gershwins Musik die Stimmung. Und Silvia Azzoni und Alexandre Riabko vom Hamburg Ballett sind genau die richtigen international verständlichen Künstler, um hierzu das volle Temperament und dennoch die höchste Präzision zu zeigen.

Und sie sind nicht allein: Knapp 20 Paare stehen da zeitweise in Frack und mit Zylinder (auch die Damen, die zudem Spitzenschuhe tragen), auf der Bühne. Eine tolle Menschenmacht ist es, wenn sie alle so gute Laune verströmen, dass man mit den Schultern mitzuckt oder mit dem Kopf mitnickt oder mit den Fingern im Rhythmus trommelt!

Solchermaßen geflasht, geht es dann in die erste Pause, um dann erneut die amerikanische Ader von John Neumeier zu genießen. Und das kann man 2018 verschärft!

Denn Neumeiers „Bernstein Dances“, die Leonard Bernstein gewidmet sind, werden im September 2018 wieder aufgenommen. Anlass ist der dann hundertjährige Geburtstag von Bernstein, der zwar bereits verstarb, der aber als Ingenius der ernsthaften US-Musik ewig lebt.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Wow! Lloyd Riggins (rechts) und Alexandr Trusch (links) im Pas de deux – eine Seltenheit beim Hamburg Ballett, in der neuen Spielzeit aber öfters zu sehen: in den „Bernstein Dances“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

So sitzt Lloyd Riggins vom Hamburg Ballett als Bernstein am Piano auf der Bühne, schlafend. Als er aufwacht, ist ein Traum, eine Musik, bereits vorbei – und er „klimpert“ scheinbar unaufgeregt auf dem Flügel herum. Aber dann – dann kriecht unter dem langgestreckten Teil des Musikinstruments Alexandr Trusch hervor. Er steht für das musikalische Genie Bernsteins, für dessen musikalische Fantasie und Kreativität. Die beiden Männer finden tänzerisch zueinander, während die Musik voll und satt erklingt.

Song auf Song reiht sich dann getanzte Lebenslust an getanzte Lebenslust! Die Fenster ins Glück sind hier zahlreich und scheinen sich mitunter alle zugleich zu öffnen.

Die Tänzer geben alles! Es ist einfach super. Riggins, Trusch, Mayo Arii, Leslie Heylmann, Xue Lin, Madoka Sugai, Konstantin Tselikov und Marcelino Libao, aber auch Dario Franconi, Marc Jubete, Aleix Martínez, Thomas Stuhrmann und – als für die verletzte Florencia Chinellato (gute Besserung!) eingesprungener Stargast – Alina Cojocaru entzücken mit raffinierten, niemals zu sportlichen, aber oft stark dynamischen Pas Seul, Pas de deux, Pas de trois und Gruppentanz.

Überhaupt le corps de ballet! Am Ende Gala wird Neumeier seinen Gruppentänzern ganz besonders danken, und damit sollte er dem Publikum aus dem Herzen sprechen. Denn ohne sie läuft nichts im Ballett, das allerschönste Solo wäre wohl fade, wenn es nicht auch als Kontrast die Macht der Gruppe auf der Bühne geben würde.

Die Songs des tänzerischen Bernstein-Portraits, zum Teil vor Kulissen getanzt, die noch das gute alte New York mit den Twin Towers des World Trade Center zeigen, haben alle Nuancen hohen klassischen Balletts und sind doch vor allem anschmiegsam an den Blick.

Es ist eine Wonne, diese Interpretation des American way of life zu sehen – mit der dumpfbackigen Werbeideologie, die man damit mitunter zu verwechseln neigt, hat Neumeiers Amerika einfach nichts zu tun.

Er hat übrigens in „Songfest“ und „The Age of Anxiety“ 1979 auch die dunklen Seiten der USA ins Ballettbild gefasst. Heute allerdings müssen die Probleme wie Diskriminierung und Einsamkeit keineswegs mehr als typisch amerikanisch gelten.

Es geht denn auch um historisch wissenschaftliches Denken, wenn man Kunst interpretiert – und in den Songs hier geht es um einen ganz bestimmten Zeitgeist, den ihrer Entstehungszeit.

„So pretty“ heißt denn auch das entzückende Solo von Alina Cojocaru, und die rumänischstämmige, in London beheimatete Startänzerin zeigt die Zartheit ihrer Seele im Verein mit der Flinkheit ihrer Beine. Toll.

Bei „Something’s comin’“ muss man als langjähriger Neumeier-Fan dann natürlich an die „Westside Story“ denken, an jenes Musical von Bernstein, das Neumeier zu Lebzeiten des großen Komponisten und Dirigenten mit ihm zusammen in Hamburg auf die Tänzerbeine gestellt hatte.

Übrigens kommt hier die Musik vom Band, damit man sozusagen O-Ton Bernstein im Ohr hat, es werden also Einspielungen genutzt, um seine Selbstinterpretation als dirigierender Komponist zu zeigen.

Das Finale-artige „Candide“ zeigt dann einen modernen Pas de Six, voller Witz und Esprit.

Und das Ensemble, man muss es immer wieder sagen: ist einfach top beim Hamburg Ballett!

Nach der zweiten Pause geht es dann mit einer fantastischen Erinnerung los: „Désir“ entstand 1973, und zwar für die amerikanische Balanchine-Ballerina Violette Verdy.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

„Désir“, auf der Nijinsky-Gala XLII von Silvia Azzoni und Carsten Jung getanzt. Wirklich was zum Wünschen! Foto: Kiran West

Verdy hatte in den 60er Jahren Kevin Haigen, den heutigen BJB-Leiter und Ersten Ballettmeister Neumeiers, in Miami entdeckt und an Balanchines Ausbildungsstätte nach New York geholt. Er musste damals, mangels eines Internatsplatzes, bei Verdys Mutter wohnen – und war davon nicht nur begeistert.

Freunde blieben er und Verdy aber lebenslang, bis sie im Februar 2016 starb. Neumeier kannte und verehrte sie ebenfalls aus den USA – und ließ sie später auch als Gasttrainerin das Hamburg Ballett trainieren.

Erstmals war Neumeier Violette Verdy in Winnipeg beim Ballett begegnet. 1973 bat sie ihn, für ihren Tanzpartner und sich ein Pas de deux zu kreieren, das sie bei einer Gala in Italien zeigen wollte. „Für V.V.“ – der Untertitel von „Désir“ – heißt also: „Für Violette Verdy“.

Damals, als „Désir“ kreiert wurde, verletzte sich Verdy allerdings und konnte das Stück darum nie tanzen.

Aber als Bestandteil des Repertoires ist es beim Hamburg Ballett unverzichtbar: eine poetische Referenz an eine außergewöhnlich sensible Ballerina, die später übrigens auch mit Indianern arbeitete.

„Désir“ ist aber nicht nur ein Solo, sondern auch ein Pas de deux.

Silvia Azzoni tanzt diese Partie exzellent, mit ihrer schwebenden Art und ihrer gefühligen, hier absichtlich verhaltenen Freude. Sie tanzte das Stück ja auch schon mit Alexandre Riabko, aber ihre Bühnenbeziehung zu Carsten Jung ist auch immer wieder überraschend interessant.

Neumeier sah in Violette Verdy aber nicht nur die herumzuwirbelnde Tanzpartnerin für einen smarten Tänzer. Sondern auch die sogar monolithisch äußerst kommunikativ wirkende Ballerina. Ihre Aura, so sagt er, habe es ihm ganz besonders angetan. Ja, sie hatte viel Seele!

Silvia Azzoni spiegelt das in ihrem ersten Solo hier. Sie steht zu Beginn versonnen am Piano, während ihr Kollege Carsten Jung ausgestreckt am Boden liegt. Er wirkt wie der Faun aus „Nachmittag eines Fauns“ von Jerome Robbins, und zwar an einem anderen Tag.

Die Musik von Alexander Skrjabin – von Michal Bialk vorzüglich gespielt – betört und macht gleichermaßen nachdenklich.

Akkorde und einzeln tropfelnde Töne schaffen die Atmosphäre leichter Erschöpfung, aus der heraus sich neuer Antrieb und neue Lebendigkeit entwickelt. Auch das ist wie ein Fenster ins Glück.

Nach dem Solo, das Carsten Jung sich dann bald stehend ansah, passiert es: Man gefällt einander und tanzt zusammen, als wolle man die Zeit nicht ungenutzt lassen.

„Désir“, Wunsch, Verlangen, Begehren, Sehnsucht – die Assoziationen können über den Wunsch nach Liebe hinaus gehen, können sich aber auch daran halten.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Alina Cojocaru und Herman Cornejo in „Le Corsaire“ – mit einer kultreifen Direktheit und Schönheit, Foto: Kiran West

Liebe oder Liebe – diese Frage stellt sich ebenfalls nicht, wenn man „Le Corsaire“ anschaut. Das typische Glanzstück von Galas, nämlich das Grand Pas de deux daraus (das eigentlich ein Pas de trois ist), steht hier als Selbstportrait von Marius Petipa, der es 1856 kreierte. Naja, als echter Ballettfan muss man zugeben, dass man dieses Stückchen Hochkartat schrecklich gern hat, obwohl es natürlich auch rasch zu einer Zirkusnummer werden kann.

Rudolf Nurejew hat das Stück in den Westen mitgebracht – und es von Herman Cornejo, dem New Yorker Star, mit Alina Cojocaru zu erleben, ist ein Höhepunkt im Leben jedes Ballettomanen.

Mit Sprüngen und Posen wie aus dem Bilderbuch bezaubert Cornejo, während Alina mit exakten Pirouetten und lieblichen Ports de bras betört. Ach. Man ist einfach hin und weg und applaudiert und applaudiert und applaudiert…

Ganz anders, nämlich dramatisch und psychologisch, kommt dagegen der Paartanz des Königs aus „Illusisonen – wie Schwanensee“ von John Neumeier mit Prinzessin Natalia einher.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Einfach kompliziert, in aller Eleganz: Carolina Agüero und Ivan Urban im Pas de deux aus „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Der König ist hier, wie Neumeier erklärt, ein zweifaches Portrait: sowohl von Ludwig II von Bayern als auch von dem „Schwanensee“-Komponisten Peter I. Tschaikowsky. Es geht um (auch unterdrückte) Homosexualität und um Nervenstress bis zum Wahnsinn.

Ende des zweiten Aktes lässt Neumeier den König von einer Festivität in einen Rückzugsort flüchten, wo ihn seine Verlobte aufsucht. Der anschließende Dialog mündet jedoch ins Auseinandergehen – und der König gibt sich seiner Fantasiefigur hin, dem „Mann im Schatten“.

Carolina Agüero tanzt die polnische Prinzessin Natalia (die als Figur von Neumeier frei erfunden ist, wie er sagt) mit einer delikaten, sehr vornehmen Haltung. Ihr Partner hier, Ivan Urban, hält sie in den Penchés und Attitüden, lässt sie langsam beschwichtigend schönen Tanz entwickeln.

Die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen wird ihr langsam bewusst – und der König flieht vor ihr, wann immer die Beziehung gerade intensiv beginnen könnte. Neumeier hat sehr genau den Punkt getroffen, an dem ein ungleiches Paar sich trennen sollte.

Als Dario Franconi als „Mann im Schatten“ auftaucht, hat er ein leichtes Spiel, um den König zu verführen. Der Pas de deux der beiden Männer trägt aber auch Züge eines Zweikampfes – und am Ende zwingt der Schattenmann den König zu Boden. Es ist eine Antizipation von dessen Tod im See.

Man bekommt Gänsehaut, auch dank der drei First-Class-Tänzer!

Ähnlich tiefsinnig, wenn auch ganz anders der Körpersprache nach, ist dann der Beitrag „Bells“ („Glocken“) aus dem Trendland für Ballett, Russland. Nach Musik von Sergej Rachmaninow choreografierte Yuri Possokhov ein Pas de deux, das Victoria Jaiani und Temur Suluashvili mit Verve interpretieren.

Hoch akrobatisch geht es darin zu – die Russen lieben derzeit die technische Entwicklung der Körper.

Aber auch süßliche Posen sind zu finden, etwa. wenn die Dame ihre Arme in Wellen ausbreitet.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

„Bells“ heißt dieses Stück von Yuri Possokhov, der eine typisch russische Art zu tanzen wählt. Foto: Kiran West

In einem Affentempo wechseln hier die Figuren. Aber die beiden Liebhaber kommen trotz der zahlreichen Berührungen irgendwie nicht zusammen, und genau darum geht es hier. Schließlich kommt es zu einem Kuss – aber die gespreizte Hand des Mannes trennt die Münder der zwei.

Das Fenster zum Glück, es hat sich nur kurz geöffnet.

Es handelt sich also um eine ähnliche Problematik wie beim eben gesehenen Paartanz aus „Illusionen – wie Schwanensee“. Da läuten die Glocken aus dem Titel, sozusagen, wenn einem dieser Gedanke kommt und man also erst rückwirkend das ganzen Pas de deux verstehen kann.

In Russland, wo das öffentliche Zeigen von Homosexualität verboten wurde, ist dieses Thema indes so brisant wie in Deutschland Mitte letzten Jahrhunderts. Viele schwule Männer suchen von daher Verlobte oder Ehefrauen zum Vorzeigen – auch Tschaikowsky im 19. Jahrhundert lebte zwar sein Schwulsein aus, versuchte aber dennoch, sich in einer Hetero-Ehe wohlzufühlen. Was total schief ging.

Da ist respektvolle Trennung sicher die beste Lösung – auch wenn die Lebensumstände ein anderes Drehbuch der Liebe begünstigen würden.

Und dann kommt bei der Nijinsky-Gala noch ein Paar auf uns zu, das sich vielleicht zu eng beieinander befindet, um sich wirklich wohl zu fühlen: „Entwine“ („Umschlingen“) nach Musik von Philip Glass, die man in Hamburg auch bei den „Aspekten der Kreativität“ hören konnte („Metamophosis No. 2) stammt von Russell Maliphant. Der Kanadier, der am Royal Ballet ausgebildet wurde, hat ein ganz bestimmtes choreografisches Vokabular geprägt, das eine abstrahierende und entpsychologisierende Wirkung hat.

Seit Sylvie Guillem mit ihm gearbeitet hat, gilt er ja als Kultchoreograf. Allerdings ähneln sich viele seiner Stücke in Licht- und Choreografiegestaltung so sehr, dass ich mich frage, ob Maliphant damit sich selbst oder seinem Publikum einen Gefallen tun will. Die Sorge, damit zu langweilen, hat er offenbar nicht.

Alessandra Ferri und Herman Cornejo sind jedenfalls zunächst kaum zu erkennen, weil die Bühne – typisch für Maliphant – so dunkel ist. Schließlich hellt sich das tiefblaue Licht ein wenig auf, aber die schwarzen Kostüme schlucken weiterhin Energie aus dem Lichtkegel. Langsam bewegen sich die Körper, in minimalistischer Manier, passend zur Musik.

Eng kleben die beiden Spitzentänzer aneinander und jede Freisetzung voneinander scheint ein Aufatmen. Manche Bewegungen sind zeitlupenzahm.

Schließlich beginnt ein sich drehendes Lichtschattenspiel im Lichtkegel (auch das typisch für Maliphant). Das Pas de deux ist vielleicht eines von Untoten – oder von Menschen, die irgendeine höhlenartige Existenz für das wahre Dasein halten. Man möchte ihnen gegen die Blutarmut Eisen verschreiben lassen – aber die Tänzer können natürlich nichts dafür.

Immerhin ist es interessant, auch solchen Bühnentanz mal auf einer Gala zu sehen. Was nicht heißt, dass man nun plötzlich Maliphant-Fan werden muss.

Ein anderes Stück, von John Neumeier, ist allerdings sehr geeignet, einen zum Fan zu machen, falls man es noch nicht ist: „Nijinsky“, vom Großmeister der Handlungsballette im Jahr 2000 kreiert und in der geschlossenen Collageform so stichhaltig wie ein Roman strukturiert. Die Szenenfolge um den Startänzer Vaslaw Nijinsky, der schizophren wurde, bietet mit ihren dramatischen, getanzten Panoramen immer wieder Anlass zum Stöhnen vor Begeisterung.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Alexandre Riabko als „Nijinsky“ – sehr ergreifend zu sehen! Demnächst mehr davon beim Hamburg Ballett… Foto: Kiran West

Alexandre Riabko tanzt furios und ergreifend den verrückt werdenden Tänzer mit leidenschaftlichem Impetus: drängend und stürmend und mit sich selbst ringend. Hélène Bouchet bietet eine Interpretation höchster Güte: Sie tanzt Nijinskys Frau Romola, die die Tobsuchtsanfälle und Verrücktheiten ihres Mannes aus Liebe und mit Liebe erträgt.

Sie zieht ihn im Schlitten wie eine schwere Last über die Bühne, aber er steigt ab – und lässt sie immer wieder mit all den Problemen allein.

Ein tolles Symbolbild für die Ehe der beiden.

Schließlich erinnert sich Nijinsky an den Ersten Weltkrieg und an „Le sacre du printemps“, das er 1913 kreierte. Wie bei der Uraufführung steigt er auf einen Stuhl und zählt laut rufend den Takt mit.

Das Ensemble, darunter Lloyd Riggins im „Petruschka“-Kostüm und Patricia Friza in Neumeiers „Le sacre“-Kostüm, stampfen zu den Rhythmen. Ein Heer von Soldaten, darunter Ballettschüler, formieren hier eine aufgebrachte, kriegerische Meute – es ist so typisch für Ballett, dass man, um so etwas zu zeigen, keine ganze Filmkulisse braucht, sondern eigentlich nur den Tanz.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Lauter Clownsnasen, lauter nette Leute – „Vivaldi oder Was ihr wollt“ von John Neumeier bildete das Finale der Nijinsky-Gala im Jahr 2016. Foto: Kiran West

Patricia Friza schafft es in phänomenaler Weise, mit Zitaten aus dem Schluss-Solo von Neumeiers „Sacre“ gleichsam das ganze „Frühlingsopfer“ mit auf die Bühne zu bringen. Absolut toll.

Ab 24. September ist „Nijinsky“ wieder ganz beim Hamburg Ballett zu sehen – und nach dieser Kostprobe, diesem „Trailer“, wie Neumeier witzelt, kann man da wohl nie und nimmer widerstehen. (Also ran an die Karten!)

Das Finale der Gala mit einem munteren Clownsauftanzen aus „Vivaldi oder Was ihr wollt“ von Neumeier reißt indes aus allzu tiefen Gedanken heraus – und nimmt noch einmal mit auf einen Trip ins Wunderland des kunterbunten Tanzes. Das ist Glück pur!

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Noch ein Blick aufs Hamburg Ballett in der Zusammensetzung der Spielzeit 2015/2016. Bald gibt es eine neue Saison – Start ist am 10. September mit der Hamburger Theaternacht. Foto: Kiran West

Silvia Azzoni und Carsten Jung verzaubern da noch einmal mit ihrem Charme und ihrer Grandezza – und dann heißt es schon – nach fünf Stunden berauschenden Tanzes – den Danksagungen und Abschiedsworten John Neumeiers für diese Saison zu lauschen: Schöne Ferien!
Gisela Sonnenburg

Die DVD „Frederick Ashton – Les Patineurs / Divertissements / Scènes de Ballet“ – mit den fünf Isadoa-Walzern – erschien bei Opus Arte

www.hamburgballett.de

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