Die Musik zwirbelt schon festliche Klänge, dass es eine helle Freude ist, da tritt von rechts ein junger Mann vor den Vorhang. Er trägt einen Zylinder und taubenblaue Reisebekleidung des 19. Jahrhunderts: Es ist August Bournonville, der dänische Choreograf aus Kopenhagen, der sich 1842 in Neapel eine Auszeit nehmen will. Um anschließend sein Ballett „Napoli“ zu kreieren! Neu ist allerdings, dass darin die Figur Bournonville selbst auf die Bühne kommt. Lloyd Riggins, der Choreograf von „Napoli“ beim Hamburg Ballett, hat dieses Vorspiel nun neu nachinszeniert. Die Sache funktioniert fantastisch, und zwei Vorstellungen wurden bereits damit erfolgreich geleistet. Allerdings ist die Figur Bournonville noch so neu, dass sie noch nicht auf dem Besetzungszettel von „Napoli“ steht. Ihr Tänzer ist, nur Kenner sehen das sofort, Aljoscha Lenz. Und er führt mit huldvoller Miene, neugierig und elegant, den sichtlich luxuriösen Koffer mit sich. Da hat Bournonville sich wohl mal was geleistet mit dem Gepäckstück – und tatsächlich bezeichnet man in vielen Sprachen das Gepäck, das man mit sich herumträgt, als die eigene Vergangenheit…
Als sich der Vorhang dann öffnet und den Blick auf die fröhlich tanzenden Fischersleute preisgibt, tritt Bournonville wie selbstverständlich dazu – er ist angekommen in Neapel, und er bestaunt die muntere Farbenpracht, die ihn erwartet. Flugs wird er von wohlhabenden Bürgern in der Stadt (allesamt Touristen, also Reisende ihrer Zeit) begrüßt und in ihren Kreis aufgenommen, um dann, mit dem Baedeker in der Hand, sich allein links auf der Bühne als Beobachter zu etablieren. Ein reizender Einfall, ihn mit dem Reiseführer zu positionieren! Denn diesen berühmten Reiseführer Baedeker gibt es ja wirklich schon seit 1832 (also seit dem Jahr, in dem Goethe, der berühmteste Italienreisende seiner Zeit, starb und Marie Taglioni in Paris erstmals in Spitzenschuhen als „La Sylphide“ auftrat).
Es ist köstlich zu sehen, wie Bournonville nun, als von sich selbst erinnerter Anachronismus, in seinem Stück mit auf der Bühne steht! Damit holt Riggins eine moderne Perspektive in das historische Ballett, er würzt den Objektivismus der Tradition und der Traditionspflege mit dem Subjektivismus unserer Zeit. Grandios!
Und: Riggins steht damit in bester Neumeier’scher Tradition. Denn das Manöver, Bournonville als Figur leibhaftig einzuführen, erinnert natürlich an Ballette wie Neumeiers „Die kleine Meerjungfrau“, wo der Erfinder der Titelfigur, der Märchendichter Hans Christian Andersen, auch als Figur im Vorspiel auftaucht und sogar eine tragende Rolle inne hat.
Der dänische Superchoreograf Bournonville, der neben dem Stück „Napoli“ auch Ballette wie „Das Blumenfest von Genzano“ und eine eigene „La Sylphide“ schuf (die vom Pariser Original lediglich abgeschaut war), war aber zudem – ähnlich wie George Balanchine und John Neumeier – vor allem als stilbildender Schulbegründer prägend.
Bournonville hat den Stil des dänischen Balletttanzens neu ausgeformt und gefestigt – und ihn sozusagen neu erfunden.
Insofern ist es genau richtig, dass man ihn nun hier auf die Bühne holt.
By the way: John Neumeier könnte auch mal ein Ballett kreieren, in dem er als John Neumeier auftritt. Oder Lloyd Riggins könnte so ein Ballett für Neumeier mit einer Neumeier-Figur darin kreieren – das wäre vielleicht sogar die noch pikantere Version, denn Riggins wird ab 2019 als Nachfolger von Neumeier das Hamburg Ballett in seinem Sinne leiten.
Denn natürlich interessiert uns heute, da fast jeder Mensch gewillt ist, sich auch als Künstler zu verstehen, die Perspektive des schöpferischen Menschen sehr viel mehr als noch vor einigen Jahrzehnten oder gar vor einigen Jahrhunderten. Man identifiziert sich heute gerne mit einem Choreografen, auch und gerade, wenn er selbst tanzt oder als Figur dargestellt wird – und man wird als Zuschauer dadurch zugleich angeregt, sich verstärkt mit der historischen Figur dieses Tanzschöpfers auseinander zu setzen.
„Napoli!“ Das Ballett hat nun eine neue Dimension dazu gewonnen, nicht nur eine weitere Bühnenfigur. Danke, Lloyd Riggins!
In der internationalen Aufführungstradition des romantischen Klassikers steht die Hamburger Inszenierung nun noch weiter vorne im Reigen der Rekonstruktionen und tradierten Überlieferungen.
Ergänzt wird dieses durch den zweiten Akt, den Riggins mit sanften Grünblaunuancen und Schnurvorhängen in einer vornehm-modernen Liebesgrotte angesiedelt hat.
Der erotomane Herr des Wassers und über die Frauen dort ist Golfo (sein Name leitet sich wohl vom „heißen“ Golfstrom ab).
Er trägt Dreadlocks und ein Stirnband, eine Streifenhose und eine Jacke drüber. Dieser Mann hat zugleich was von einem erotischen Hausmann, denn außer seinem Genuss zu folgen, hat er offenbar nichts im Sinn.
Kreiert wurde diese Figur mit großer Könnerschaft von Riggins mit Otto Bubenicek als Golfo. Marc Jubete, der junge Saisonüberflieger, der – man kann es kaum glauben – vom Rang her noch immer Ensembletänzer und nicht Solist ist, tanzt nun auch den Golfo: Mit überraschender Strenge und Autorität. Dieser Golfo ist ein patriarchaler Teufel, kein smarter Womanizer!
Er ist nicht der sanfte Schmeichler wie Bubenicek und auch nicht der temperamentvolle Tangotänzer wie Dario Franconi. Jubete verleiht der Rolle des Golfo vielmehr etwas Herrschsüchtiges, fast Gewalttätiges, und das passt außerordentlich gut in diese betanzte Unterwasserwelt, in der es kein wirkliches Glück, sondern nur eine Menge Benebelung für die auserkorenen Frauen gibt.
Das muss man ja erstmal nachvollziehbar zeigen können: Dass Frauen sich von einem potenten Haremseigner dermaßen hypnotisieren und manipulieren, aber auch unter Druck setzen lassen, dass sie auf eigene Anrechte komplett verzichten und ihre Freiheiten wie auch ihre Identität dem scheinbaren Frieden einer Odaliske opfern.
Riggins hat es geschafft, die Choreografie so zu gestalten, dass man die Frauen versteht, denn sie haben es behaglich und schön, ruhig und geordnet im Harem des Golfo – und sie müssen nicht kämpfen, sie müssen nicht die Einsamkeit oder die Ächtung fürchten. Im Gegenzug müssen sie sexuell verfügbar sein, ohne eigenen Anspruch und ohne das Recht, nein zu sagen. Sie folgen der Unterdrückung, um sich ganz der sexuellen Willigkeit zu ergeben.
Wenn diese Najaden außer Haus gehen, könnten sie glatt einen Schador tragen.
Denn auch wenn das Haremsprinzip historisch gesehen deutlich älter ist als der Islam, so erinnert die Reduzierung der Frau auf biologische Aufgaben doch auch an fundamentalistische Gesellschaften. In einigen islamisch geprägten Ländern gibt es denn auch nach wie vor die Traditionen der Poly- und Bigamie, auch dann, wenn die Gesetze dort dieses eigentlich nicht mehr vorsehen.
Auch die blutigen Beschneidungen an jungen Frauen, die sie grausam verstümmeln und später ihrer Lust berauben, werden vor allem in islamischen afrikanischen und asiatischen Staaten praktiziert – und nicht etwa, wie viele glauben, nur bei manchen Naturvölkern. Ursprünglich diente die brutale Circumsion übrigens vor allem der heimlichen Geburtenkontrolle. Denn ein gewisser Prozentsatz an Mädchen und Frauen starb durch das hohe Infektionsrisiko – und konnte sich nicht weiter vermehren. (Was nun ganz sicher kein Grund ist, AfD zu wählen!)
In „Napoli“ spielt all das natürlich keine direkte Rolle. Aber vom Prinzip her ist der Harem nun mal keine Idylle, und das wird auch auf der Bühne im zweiten Akt sichtbar.
Allerdings tanzen Madoka Sugai und Mayo Arii, die bei der kürzlichen Neuaufnahme des Stücks hier noch leichte Schwierigkeiten hatten, die beiden Hauptnajaden jetzt so harmonisch und ästhetisch, so stark im Einklang mit der Musik und so anmutig in der Ausgestaltung, dass man fast – aber nur fast – vergisst, wo man sich handlungstechnisch befindet.
Balletthistorisch sind diese von Lloyd Riggins kreierten Figuren eine Antwort auf Zulma und Moyna, die beiden Novizinnen der Myrtha im zweiten Akt von „Giselle“. Herausgehoben sind in der „Napoli“-Grotte aber eben nicht die Anfängerinnen, sondern, im Gegenteil, die beiden besonderen Könnerinnen. Eine Myrtha, also eine Königin, gibt es natürlich nicht im Harem – dort sind alle, auch die Meisterinnen ihres Liebesfachs, gleichermaßen Sklavinnen des Mannes.
Die Riege der Najaden macht das denn auch deutlich. Widerstand ist hier zwecklos – sie bemühen sich, ihrem Wassergott zur Ehre zu gereichen.
In der Tat tanzt das Damencorps so entzückend, dass man schon wegen ihnen die Vorstellung besucht hätte. Bravo!
Und dann taucht auch noch die Primaballerina Silvia Azzoni mit ihrer unvergleichbaren lyrischen Stilart auf und verströmt einen Bühnenzauber, der sich – im übertragenen Sinn – gewaschen hat.
Als Teresina verkörpert sie jenes Mädchen, das Golfo sich bei einem Unwetter aus dem kenternden Boot eines neapolitanischen Fischers geholt hat. Sie ist also neu im Harem – und fügt sich in die Ideologie der absoluten Willensaufgabe ein.
Als Gennaro, ihr Verlobter, getanzt vom fulminanten Alexandre Riabko, in der Grotte eintrifft, um sie zu suchen, erkennt sie ihn nicht gleich als ihre Lebensliebe. Sie verharrt im traumwandlerischen Habitus, solange, bis die Inbrunst seines Gebets sie zurück in die Realität, zurück zu sich selbst holt.
Golfo hat dann verloren, trotz seiner patriarchalen Autorität und von Marc Jubete ebenfalls getanzten Souveränität.
Das Liebespaar schlendert zum Boot – auf geht es zurück nach Neapel!
Dort bzw. in der Pilgerstätte Monte Vergine bei Neapel, ist August Bournonville jetzt der erste Bühnenzuschauer, der auf die Brücke vor dem Vesuv kommt, um dem völkischen Treiben vor und unter sich zuzusehen.
Bournonville, jetzt ein Aufklärer, steht da oben und freut sich über die Entwirrung einiger Handlungsfäden auf der Bühne. Denn da hatten doch Einige angesichts der Rückkehr der verloren geglaubten Teresina tatsächlich geglaubt, böser Zauber sei im Spiel, der einen Exorzismus nötig machen würde!
Doch es ist der Mönch Fra Ambrosio (in dieser Besetzung interessant tatkräftig: Braulio Álvarez), der selbst darüber aufklärt, nur positive Kräfte hätten das Liebespaar zurück finden lassen.
Das beruhigt auch Niurka Moredo als Mutter von Teresina, die hier mit viel Verve eine temperamentvolle Neapolitanerin und ein regelrechtes Muttertier verkörpert.
Also darf gefeiert und gefetet werden, was das Tambourin aushält!
Yaiza Coll, Futaba Ishizaki, Xue Lin, Lucia Ríos, Lennart Radtke und Matias Oberlin tanzen in dieser Besetzung den Pas de six ganz entzückend! Gerade Lennart Radtke kommt endlich mal aus der Reserve – und begeistert mit eleganten Ports de bras und einer exzellenten Fußarbeit. Prima!
Und mit einem Extra-Solo voller Sprungkraft reißt Aleix Martínez wohl jede und jeden mit! Bravissimo!
Als Tarantella-Paar brillierten Patricia Friza und der offenbar kurzfristig für Thomas Stuhrmann eingesprungene Christopher Evans.
Im Finale drehen dann wieder alle auf, sodass man sich in einem Paradies der dänischen Ballettkunst wähnt – Madoga Sugai, Silvia Azzoni, Miljana Vracaric und Alexandre Riabko allen voran.
Das Fest der Freude mündet in einen Konfettiregen, der das auch nach über zweieinhalb Stunden noch immer viel zu frühe Ende dieses tollen Ballettabends einläutet.
Dank aber auch an Markus Lehtinen und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg, das seit Amtsantritt von Kent Nagano als Chef seine früheren gelegentlichen Schwächen – wie ganz leicht schleppende Bläser oder ein bisschen trantütige Streicher – bereits ganz abgelegt hat. Und Thomas C. Wolf, an der Ersten Geige mit vielen Soli beschäftigt, absolviert diese mit besonders delikatem Strich!
Bournonville, jetzt haste also endlich ein Ballett über dich!
Es zeigt dich und deine Reise nach Italien, aber es zeigt – und das ist auch wichtig – zudem deine eigene Choreografie mit ihren vielen verzwickten kleinen Sprüngen und den rasanten mehrfachen Pirouetten im ersten und dritten Akt, und zwar technisch und vom Ausdruck her hervorragend getanzt, original verstanden und herzerfrischend belebt.
Es ist zu schade, dass man keine Séance zwischen Lloyd Riggins und August Bournonville inszenieren kann. Es wäre schon interessant, die beiden im Austausch zu belauschen!
Der echte alte Bournonville jedenfalls wäre, soviel steht fest, ganz sicher begeistert von dieser neuen Version, in der er nun selbst eine stumm beredte, aber sehr bühnenwirksame direkte Teilnehmerschaft hat.
Das Publikum sah das genauso – und applaudierte wie bei einer Premiere!
Gisela Sonnenburg
Termine: siehe „Spielplan“
Weitere Texte zu „Napoli“ bitte hier im ballett-journal.de!