Mit liebenden Blicken Die „Matthäus-Passion“ von John Neumeier mit Marc Jubete bei den 42. Hamburger Ballett-Tagen

John Neumeier weiß zu rühren.

Die „Matthäus-Passion“ ist ein sakrales, aber auch intellektuell anspruchsvolles Stück von John Neumeier. Das Programmheft vom Hamburg Ballett gibt da weitere Hinweise. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Es war die 199. Vorstellung dieses außergewöhnlichen Stücks, das seit seiner Uraufführung 1981 die Herzen von anspruchsvollen Ballettfreunden zum Schmelzen bringt wie kaum ein anderes. Die „Matthäus-Passion“ von John Neumeier nach der Musik von Johann Sebastian Bach evozierte auch bei den 42. Hamburger Ballett-Tagen 2016 viele Tränen der Rührung, unabhängig von der Religion, welcher man angehört oder auch nicht.

Es geht um gruppendynamische Prozesse, um menschliche Eigenschaften im Extrem, um Schuld und Aussöhnung.

Die Besonderheit eines Balletts, das ein christliches Thema aufgreift, um dann vier Stunden lang daraus einen Kosmos urmenschlicher Vorgänge zu entwerfen, liegt auf der Hand.

John Neumeier konzipierte und kreierte das Stück 1980 /81 ursprünglich zweifach, und zwar einerseits für die Aufführung in der Oper, andererseits aber auch für die Aufführung in einer Kirche. Der „Michel“ in Hamburg, also die St.-Michaelis-Kirche, wurde so zum Schauplatz der Rückkehr der Kunst an ihren sakralen Ort.

Die Hamburgische Staatsoper hat allerdings genügend hohe Qualität als Kunstraum, um hier ebenfalls die stark sakrale Note des Stücks vollumfänglich zu realisieren. Zumal die „Matthäus-Passion“ auch von der Verbindung zwischen Bühnengeschehen und Zuschauerraum lebt.

John Neumeier weiß zu rühren.

Marc Jubete, der seit diesem Jahr (2016) die Hauptrolle in der „Matthäus-Passion“ tanzt, kniet auf dem Cover vom unbedingt lesenswerten Programmheft beim Hamburg Ballett. Faksimile: Gisela Sonnenburg (Foto von Marc Jubete: Kiran West)

Die Tänzerinnen und Tänzer als Zuschauer: In keinem anderen Stück von Neumeier schauen die Bühnenkünstler sich gegenseitig so häufig beim Tanzen und Darstellen zu. Sie sind hier immer auch das Volk, die Masse, der Chor. Sie sitzen dann auf Bänken im Hintergrund der Bühne oder seitlich – und sehen gespannt an, was die jeweils Tanzenden machen.

Manchmal begeben sich einige von ihnen auch in den Zuschauerraum, sie nutzen hier die Treppenstufen. Im zweiten Teil nehmen sie sogar auf leer gebliebenen Stühlen im Parkett Platz, um für einige Minuten aus unserer Zuschauer-Perspektive auf die Bühne zu schauen.

Der Künstler als Teil des Publikums – damit wiederholt sich das Motiv des Herabsteigens, das im Neuen Testament ohnehin omnipräsent ist. Der Sohn Gottes steigt herab und wird Mensch, der Künstler steigt von der Bühne herab und wird Zuschauer.

Zu Beginn stimmt ein stummes Vorspiel auf diese ungewöhnlichen Vorgänge ein: ein weißes Hemd wird am Boden langsam gefaltet, mit einer Intensität, als handle es sich um ein Ikebana-Gesteck. Wenn die Musik beginnt, kommt ein Tänzer nach vorne, fällt auf die Knie – und es ist, als würde die ganze Leidensgeschichte des Verrats und der Kreuzigung dann als Rückschau erzählt.

Marc Jubete beweist in der Hauptrolle, dass Jesus hier keine Klischeefigur ist, sondern eine zwar führungsstarke, aber auch äußerst sensitive menschliche Persönlichkeit. Mit beklemmend einfachen, dennoch ausdrucksstarken Gesten gibt er sich der Berufung hin, Menschen zu führen und zu schützen – bis sie, aufgehetzt und irre gemacht, ihn verraten, foltern und umbringen.

Es gibt übrigens im Stück einen wichtigen Pas de deux zwischen Marc Jubete und Xue Lin, die unter anderem hier langsam, aber sicher in die Rollen von Primaballerina Silvia Azzoni hineinwächst.

Danach weiß man, was Menschen außer Sex so tief verbinden kann, dass man von Liebe sprechen muss. Einfach bravourös, wie diese zwei jungen Newcoming Stars ihre Partien hier bewältigen! Da ist der Tanz innere Handlung, Verwandlung, auch Erleuchtung.

John Neumeier weiß zu rühren.

Mayo Arii und Marc Jubete nach der fantastischen Vorstellung der „Matthäus-Passion“ am 10. Juli 2016: glücklich und verbunden, von Mensch zu Mensch, von Künstlerin zu Künstler, auch als sich liebendes Paar. Foto: Gisela Sonnenburg

Die engsten Gefährten des Jesus, von Aleix Martínez und Alexandr Trusch getanzt, beschwören hingegen mit jeder Bewegung, dass sie ihrer Mission treu sind, egal, was geschieht.

Sie haben einen Paartanz im ersten Teil der „Matthäus-Passion“, in dem sie synchron tanzen und mit den gleichen Schritten, aber individuell ganz anders im Ausdruck, mitteilen, auf welche Art sie ihrer Berufung folgen wollen. Es ist eines der Highlights des Abends, diese Passage zu sehen – die zwei künstlerischen Hochkaräter (beide übrigens noch blutjung) ergänzen sich im lyrisch-dynamischen Temperament auf das Feinste.

Das Besondere an diesen Weggefährten eines Herrn: Sie sind nicht von ihm gekauft und auch nicht mit ihm verwandt. Sie folgen nur der Stimme der Liebe zu einem Ausnahmemenschen.

Die liebenden Blicke, die sich die Tänzerinnen und Tänzer hier gegenseitig zuwerfen, sind denn auch etwas, das vielleicht noch nicht einmal beabsichtigt ist. Oder das nicht die Hauptsache ist an einer Choreografie, die vielschichtig und oft auch simultan mehrstimmig ist.

Aber die Blick-Besonderheit hat sicher damit zu tun, dass sich hier viel gegenseitig zugeschaut wird.

Und die innere Verbindung der Menschen zueinander ist es, die vor allem bezaubert und dennoch auch zugleich alarmiert:

Welche Bedingungen brauchen Menschen, um sich so zu verhalten – und warum verfallen sie dann in bestialische Rachegelüste?

John Neumeier weiß zu rühren.

Carsten Jung am Bühneneingang, nach der fulminanten „Matthäus-Passion“ während der Hamburger Ballett-Tage 2016. Jung ist ein Könner, gerade von Rollen, die auch plastisch-pantomimisches Handeln erfordern. Foto: Gisela Sonnenburg

Pontius Pilatus, vom exzessiv-expressiven Carsten Jung so sinnlich-plastisch dargestellt, dass seine getanzten Gesten so deutlich wie ein gesprochener Text wirken, wäscht seine Hände in Unschuld. Aber sind die Juristen unschuldig an Miseren und Krisen und Ungerechtigkeit?

Man kann darüber debattieren, man kann es nach der „Matthäus-Passion“ tun oder auch in Vorbereitung eines weiteren Kulturevents.

Aber man vergisst nach diesem Stück niemals die Spannung zwischen dem moralischen Anspruch einer Gesellschaft und der Mangelhaftigkeit, mit der sie diesen umsetzt.

Die Ballerinen und Ballerini denken womöglich nicht daran, wenn sie tanzen. Für sie ist die jeweilige Figurengestaltung der Moment der Konzentration. „Figurengestaltung“ ist hier im doppelten Wortsinn gemeint: als Ausarbeitung einer Rolle und als Posierung mit der eigenen Gestalt.

Einige Tänzer werden das Hamburg Ballett im Sommer verlassen und neue Wege beschreiten. Lennart Radtke gehört dazu – bei ihm, der gerade in den letzten Monaten künstlerisch so richtig erblühte, hat es sich ganz kurzfristig entschieden, dass er in die Truppe von Jean-Christophe Maillot (einem ehemaligen Hamburger Tänzer) nach Monaco wechselt.

John Neumeier weiß zu rühren.

Viele Tänzerinnen und Tänzer freuten sich am 10. Juli 2016 über die Blumensträuße, die ihnen von Fans spendiert wurden. So auch Braulio Álvarez, der mit Ende der Spielzeit nach Tokio wechselt. Er ist dem Publikum nicht nur als Tänzer, sondern auch als begabter Choreograf ein Begriff. Foto vom Bühneneingang: Gisela Sonnenburg

Braulio Álvarez, der Herzlich-Geradlinige mit dem Latin Flair, geht auch, und zwar von Hamburg nach Japan: zum hoch renommierten Tokyo Ballet. Von ihm werden wir hier noch hören.

Und auch der britische Ensemble-Tänzer Dale Rhodes, der mit seinem hübschen Gesicht und seinen hellblonden Haaren stets ein Blickfang auf der Bühne war, wird zusammen mit Minju Kang vom Bundesjugendballett Hamburg verlassen und zum Northern Ballet nach England gehen.

Wir wünschen ihnen allen selbstredend alles Gute!

Bei der „Matthäus-Passion“ merkte man diesen Tänzern aber an, dass sie gerade dieses Stück sehr gerne und mit hoher innerer Beteiligung tanzen – und sie gaben ihr Bestes. Dale Rhodes zuckte da gar so wild und leidenschaftlich, sprang so hoch und sauber, dass man ihn in England schon als Solist sieht. Zumal er auch die pantomimischen Partien mit Passion gestaltet.

Und Braulio Álvarez stand gerade wie eine Eins, in jeder tänzerischen Pose, in der dieses erforderlich war. Seine vibrierende Ausstrahlung ließ ihn unvergesslich werden – und, das sei erlaubt anzumerken, auch das Weiß der Kostüme, der John Neumeier kreierte, passt zu Álvarez’ Teint ganz besonders gut.

John Neumeier weiß zu rühren.

Lennart Radtke nach der großartigen „Matthäus-Passion“ am 10. Juli 2016 am Bühneneingang der Hamburgischen Staatsoper: Er wechselt, zum Leidwesen so manchen Zuschauers, nach Monaco ins Ballett von Jean-Christophe Maillot, der ein ehemaliger Tänzer von Neumeier in Hamburg ist. Foto: Gisela Sonnenburg

Lennart Radtke schließlich traute sich, zusätzlich zu seinen schönen Ports de bras, auch die Kopf- und Beinarbeit vehementer einzusetzen als etwa noch letzte Spielzeit. Bravo!

Apropos Schönheit der Armarbeit:

John Neumeier weiß zu rühren.

Edvin Revazov hat die schönsten Ports de bras (Armbewegungen im Ballett) weit und breit – und er wusste die Zuschauer der „Matthäus-Passion“ am 10. Juli 2016 gleichermaßen zu rühren und zu begeistern. Foto vom Bühneneingang: Gisela Sonnenburg

Unübertrefflich hierin ist mittlerweile Edvin Revazov. Der „blonde Riese“ vom Hamburg Ballett hat sich endlich von einer schweren Verletzung richtig erholt, und in der Zeit, in der er nicht voll trainieren konnte, hat er, so sieht es deutlich aus, sehr viel auf anderen Gebieten an sich gearbeitet.

Seine Ports de bras sind mittlerweile das Beste, was ich seit Vladimir Malakhovs Bühnenabschied in Berlin gesehen habe.

Edvin Revazov weiß offenbar auch genau, seine immensen Kräfte zu dosieren – und es ist Kunst, wenn er auch nur einen Zentimeter weit einen seiner muskulösen Arme anhebt.

Wenn er sein großes Solo in der „Matthäus-Passion“ tanzt, dann ist das, als werde die Welt aus der Skepsis und der Reflexion heraus neu erfunden.

Die Armbewegungen stehen symbolisch für das Nachdenken, für das Empfinden, während man an etwas denkt, etwas erinnert, sich entscheidet, was man in Zukunft tun wird.

Denn wie kann etwas existieren, das sich nicht ab und an selbst auf den Prüfstand stellt?

So etwas zu tanzen, ist vermutlich ganz schwer, und ich kann mich nicht erinnern, dass dieses Solo intensiver und authentischer getanzt worden wäre.

Die Beinarbeit, die schöne Attitude ecarté oder nach vorn, sie ergänzt diesen Stil der Geschmeidigkeit und der körperlichen Macht in eins, und ich habe Edvin Revazov hier eingebrannt im Gedächtnis parat wie nur ganz wenige Kunstmomente überhaupt.

Er gleicht einem Bild von Fernand Léger, vielleicht auch einem von Ludwig Kirchner, auf jeden Fall aber einem von Karl Schmidt-Rottluff.

John Neumeier hat diesen Auftritt vor langer Zeit konzipiert und choreografiert, aber wie er sich heute erfüllt, ist so gegenwärtig, als seien die Schritte gerade gestern im Ballettsaal wie eine Botschaft des Himmels empfangen worden.

Bei den weiblichen Darstellern hat Neumeier sogar so viele spezielle Details eingeflochten, dass sie mal in einem anderen Artikel berichtet werden.

John Neumeier weiß zu rühren.

Hélène Bouchet, die superbe französische Primaballerina vom Hamburg Ballett, stellte einmal mehr ihre Befähigung zur Spitzenleistung unter Beweis – auch und gerade in künstlerischer Hinsicht. Wobei die Technik der Bouchet über alle Zweifel erhaben ist… Foto vom Bühneneingang: Gisela Sonnenburg

Aber: Die schon erwähnte Mayo Arii und die Primaballerina Hélène Bouchet vermochten es, dass man die eigene Identität als Zuschauer glattweg vergessen konnte und sich als Teil des Ganzen fühlte. Und zwar ohne Berührung oder ähnlichen Ringelpiez im Parkett, sondern nur qua Anschauen und Mitatmen. Toll, toll, toll!

Aber auch Alexandr Trusch hat so ein Solo, das mit Selbstzweifeln und Selbstvorwürfen zu tun hat und gerade darum die positiv denkende Botschaft des Balletts mustergültig transportiert.

John Neumeier, das ist eben auch immer Dialektik des Seins.

Und auch Trusch schlägt in den Bann, nimmt mit auf einen Kurztrip ins Ego, das sich selbst zerfleischt und doch nur dadurch zu sich selber finden kann.

Wenn er am Ende seines Solos mit verschränkten Armen auf dem Boden liegt, den Kopf nach rechts ausgerichtet, ansonsten parallel zur Rampe, hat er einen Kampf gegen sich selbst gewonnen – und uns uneingeschränkt daran teilhaben lassen.

Ach, das wünscht sich doch jeder, auch um den hohen Preis emotionaler Pein.

John Neumeier weiß zu rühren.

Das Programmheft zur „Matthäus-Passion“ beim Hamburg Ballett zeigt auch Dokumente von vergangenen Aufführungen, etwa von Gastspielen mit dem Stück  im Ausland. Überall wurden die Tänzer und ihr Choreograf John Neumeier frenetisch gefeiert. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Von dieser ist viel die tänzerische Rede im Stück, fast ist es, als müsse Jesus daran vergehen, nicht etwa an der Kreuzigung.

Ganz am Schluss des Stücks, wenn alle Passionsleiden ausgestanden sind und die Menschheit sich besinnt, um den Glauben an das Wahre gemeinsam zu verbreiten, denkt man aber auch wieder an die beiden beschriebenen Männersoli, die so unerhört unter die Haut gehen, als hätte man noch nie ein modernes Ballett vorher gesehen.

Die Masse, das Ensemble, das steht dann da, über die Bühne in regelmäßigen Abständen verteilt: auf einem Bein, das linke Bein handlungsbereit in einer modernen seitlichen Attitude erhoben.

Sie stehen und stehen und stehen und wackeln keinen Deut. Sie sind standfest. Auch in so einer nachgerade artistischen Pose. Alle.

Was für ein Ende für ein Ballett!

Und was für Menschen! Geläutert, ja kathartisch gereinigt sind sie – ähnlich wie wir, die Zuschauer nach vier Stunden Bach und Neumeier – und diese Hamburger Tänzerinnen und Tänzer halten die Balance, als sei das das einfachste von der Welt und als es ein innerlich notwendiges Bedürfnis, diese Schlusspose einzunehmen.

Selten fühlt man sich als Publikum den Weltkünstlern vom Ballett so nahe wie nach diesem außergewöhnlichen Meisterwerk.
Gisela Sonnenburg

Eine weitere Interpretation des Stücks sowie Hinweise auf die als DVD im Handel erhältliche Aufzeichnung vom Hamburg Ballett finden Sie hier:

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-matthaeus-passion/

www.hamburgballett.de

 

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