Viele Tode, viele Leben – sehr viel Liebe „Das Lied von der Erde“ beim Hamburg Ballett: John Neumeier präsentiert sein fulminantes jüngstes Mahler-Werk in minutiös-meisterlicher Einstudierung

Neumeiers Spätwerk, MahlersSpätwerk

Alexandr Trusch auf der grünen Wiese – wie ein Mahnmal für die Gegenwart der Vergänglichkeit. So zu sehen in „Das Lied von der Erde“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Es ist, als habe die Liebe selbst diese Choreografie entworfen. Ganz inniglich, ganz schmucklos, ganz ernst, aber auch glücksverheißend, fröhlich und sympathisch kommt sie hier einher, die große Liebe, die „Leben“ heißt – und die doch so eng mit dem Tod verknüpft ist. John Neumeier schuf letztes Jahr mit dem Ballett der Pariser Oper seine jüngste Arbeit zu Musik von Gustav Mahler – und ließ diese jetzt mit seiner ureigenen Company, dem Hamburg Ballett, in ausgereifter Interpretation erblühen. Welch ein Fest für die Seele! „Das Lied von der Erde“ (im Französischen „Le Chant de la Terre“) ist mehr denn je ein Zeugnis für die Arbeit John Neumeiers als Schöpfer von großartigen Gesamtkunstwerken: Choreografie, Bühnenbild, Licht und Kostüme stammen aus seiner Hand. Seine Ballettmeister Laura Cazzaniga und Janusz Mazon halfen ihm dann bei der sehr gelungenen Einstudierung in Hamburg – und es entstand, getragen von den herausragenden Tänzern des Hamburg Balletts, ein so tiefsinniges Meisterstück, dass Begeisterung und Ergriffenheit, Begierde und Erhabenheit bei der Premiere das Publikum wie auf Wolken schweben ließen.

Alexandr Trusch in der Hauptrolle wird unterstützt von Karen Azatyan und Hélène Bouchet, sie zelebrieren im „Lied von der Erde“ imaginierte Prozesse von Leben und Vergehen, von Sterben und Wiederauferstehen. Zwischenzustände zwischen Tod und Leben, Traum und Wirklichkeit bilden hier die verschiedenen Schichten der Realität. Die Transzendenz ist dabei das A und O, denn um die jenseitig wie diesseitig ausgerichtete Hoffnung geht es in diesem Ballett.

Da sind Bilder, die sich einbrennen ins Gedächtnis.

Neumeiers Spätwerk, MahlersSpätwerk

Trusch, auf der Wahrheitssuche im Zwischenzustand zwischen Tod und Leben… in „Das Lied von der Erde“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Alexandr Trusch auf der grünen Wiese, einsam und gefasst, aufschreckend und visionierend. Sich quälend, sich windend, sich verbiegend – und dennoch die Lust am Leben auch im höchsten emotionalen Schmerz noch voll erfassend. Fantastisch.

Hélène Bouchet in Soli, Pas de deux, Pas de trois – eine bildschöne, sehr moderne Frau, die viel menschliche Kraft hat und sich dennoch mit dem Universum so stark zu vereinen sucht, dass sie zu einer Art Gottheit, zu einer Erdgottheit, avanciert. Virtuos.

Karen Azatyan, der hier seine modernen Seiten in geschmeidigen Bewegungen im Stehen voll entfaltet und dann mit eleganten Sprüngen die Luft zerteilt, ohne angeberisch oder zu klassisch zu wirken, verkörpert das Alter Ego der Hauptperson Trusch, zugleich, in erotisch angehauchten Paartänzen mit Trusch, dessen Sinnlichkeit, die im Laufe des arbeits- und konfliktreichen Lebenswegs offenkundig auf der Strecke blieb. Sehr toll.

Die Paartänze der beiden Männer strotzen denn auch nur so vor inniger Kommunikation, da tauschen sich Freunde aus, manchmal auch Feinde, Kräfte werden austariert, es ist wie ein Kampf eines Menschen mit seinem Spiegelbild. Ist es der Tod, mit dem man auf diese Art ringen kann?

Die Liebe, sie kommt hier von hinten.

Hélène Bouchet schreitet herein, streckt einen Arm vor, berührt mit der Hand von hinten die Brust von Alexandr Trusch und gibt ihm so Trost, Energie, Halt.

Auch Karen Azatyan nähert sich der Zentralgestalt auf diese Weise. Das Herz, das unter der Brust schlägt, braucht so viel Ansprache – und die tänzerischen Umarmungen, die daraus entstehen, helfen, unlösbare Probleme zu akzeptieren.

Neumeiers Spätwerk, MahlersSpätwerk

Liebe: ganz tief und inniglich hier, gar nicht kindisch oder so. Hélène Bouchet und Alexandr Trusch in „Das Lied von der Erde“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

All das macht vor allem dann Sinn, wenn man die Entstehungsgeschichte der posthum, ein halbes Jahr nach Mahlers Tod uraufgeführten Musik berücksichtigt.

Auch wenn die biografische Interpretation im Sinne eines Tanzstücks über Gustav Mahler hier nicht alles ist: Sie gibt einen Hinweis auf Entschlüsselung des vielschichtigen, mitunter auch kryptischen Werks.

Denn obwohl das auftretende Personal auf der einen Ebene den Komponisten Gustav Mahler, sein fiktiges Alter Ego sowie seine Gattin Alma Schindler-Mahler (später Mahler-Werfel) darstellt, gibt es auf weiteren Ebenen vielfältige mögliche Ausdeutungen. So tanzen die Figuren nicht in historischen Kostümen der Belle Époque, sondern die Männer treten in Jeans und T-Shirts auf, die Damen in elegant-schlichten Tageskleidern.

Weitere Figuren – vor allem die chinesische Tänzerin Xue Lin nimmt hier eine Sonderrolle ein – bringen das jeweilige Flair von sportlicher Frische, asiatischer Ritualität oder verliebt swingender Frühlingsstimmung ein.

Allerdings ist in diesem Ballett – anders als in früheren Mahler-Arbeiten Neumeiers – nichts mehr naiv zu nehmen.

Die Hintergründigkeit der miteinander verflochtenen oder parallel ablaufenden Tanzstränge läuft stets auf Eines hinaus: Auf die unabdingbare Akzeptanz der Verbundenheit des Lebens mit dem Tode.

Macht dieses nun nicht todessüchtig, unglücklich, depressiv? Erstaunlicherweise: nein! Aber es macht nachdenklich und melancholisch, es zwingt einen, die spirituellen Poren zu öffnen und frischen Wind ins womöglich festgefahrene Weltbild einzulassen.

Neumeier, der große Erneuerer, er hat auch mit diesem Werk einen eigenen neuen Schlüssel zur Wirklichkeit gefunden, den er mit zukunftsweisender Direktheit in Tanz und Ästhetik umzusetzen weiß.

Neumeiers Spätwerk, MahlersSpätwerk

Für viele Hoffnungsmomente ist das Corps de ballet zuständig: in „Das Lied von der Erde“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Es geht dabei auch um die Brücke zwischen dem Westen und dem Osten, zwischen Europa und Asien.

Der Austausch von Lebensweisheiten und Lebensstrategien ist hier durchaus ein Thema. So ist es ein Aha-Erlebnis, als würden einem die Augen geöffnet, wenn man die sprüngwütige Jungensschar im „Lied der Erde“ mit der hehr und wie in Qi-Gong-Manier wattig einher schreitenden Xue Lin vergleicht.

Das Überreichen von Schalen und das Trinken daraus hat hier den symbolischen Wert der Wasserspende, der Gastfreundschaft, der Loyalität. Wäre so ein Bild im westlichen Symbolgefüge möglich? Wohl nur sehr schwer. Mit den asiatisch inspirierten Bewegungen aber ergibt sich diese Sinnstiftung wie von selbst.

Personifiziert werden all die Konflikte aber vor allem von den drei Hauptpersonen. Neumeier musste sich ja vom großen Vorbild des „Liedes der Erde“ von Kenneth MacMillan frei machen. Dessen euphorisch-erhabenes Werk, in Stuttgart kreiert (siehe www.ballett-journal.de/stuttgarter-ballett-hommage-a-macmillan-outlook/), wurde von Neumeier als Tänzer in Stuttgart häufig mit aufgeführt. Es war nicht leicht, sich von dem MacMillan-Stück, dessen Hauptperson (erst) am Ende stirbt, innerlich zu lösen. Darum kam Neumeiers Schöpfung zum „Lied von der Erde“ auch erst letztes Jahr, während er andere Mahler-Sinfonien zum Teil sogar bereits mehrfach choreografiert hat.

Eine bloße Auflistung aller Mahler-Arbeiten Neumeiers wäre vielleicht Faktenblendung, da längst nicht jede dieser Arbeiten für das Verständnis vom „Lied der Erde“ eine Rolle spielt. Aber manche fantastischen Herrensprünge – vor allem die mit einem seitlich gebeugten Knie, die Tatkraft und Freude ausdrücken – aus der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ von 1975 (die das Hamburg Ballett im Januar auch wieder tanzt), auch einige sehr prägnante Momente der Solo- und Paartänze aus „Lieb und Leid und Welt und Traum“ von 1980 sowie Konstellationen aus „Um Mitternacht“ (2013) sind zu entdecken und mit Raffinesse in Bezug zur neuen Schöpfung gesetzt.

Neumeiers Spätwerk, MahlersSpätwerk

Ein Planet schwebt über der Erde, mal scheint es die Sonne, mal der Mond zu sein… und immer steht er für die Schwingungen und Stimmungen in „Das Lied von der Erde“ von John Neumeier. Foto mit Christopher Evans vorne vom Hamburg Ballett: Kiran West

Das betrifft sowohl die Tänze der Solisten als auch die der Corps-Mitglieder.

Xue Lin (wie schon erwähnt und zudem wunderbar intensiv), Marcelino Libao (mit Eleganz und Eindringlichkeit), Yun-Su Park, Thomas Stuhrmann (toll in den Pas de deux), Lucia Ríos, Lizhong Wang, Georgina Hills (einfach gut), Eliot Warrell und, ganz besonders, Hayley Page mit ihrer Bühnenpräsenz, sowie Florian Pohl, Maria Tolstunova, Graeme Fuhrman (schön aufrecht in allem), Giorgia Giani (die sich seit September sichtlich entwickelt) und Konstantin Tselikov (der es immer schafft, angenehm mit Frische aufzufallen), Yaiza Coll und Aleix Martínez (der einfach bildschöne Männer-Pas de deux mit Karen Azatyan abgibt), Mayo Arii (die wie immer schwebend bezaubert), Marc Jubete (der markant, aber nicht aufdringlich tanzt), Leslie Heylmann (die die hellen Seiten dieses Stücks köstlich leicht, aber nicht oberflächlich verkörpert) und Christopher Evans (wie eigentlich immer eine nicht zu kleine Hausnummer für sich), Emilie Mazon (die man gern auch mal in der Hauptrolle sehen möchte), David Rodriguez (der noch ganz neu im Ensemble ist), Nako Hiraki (die auch noch jung ist, aber schon Einiges kann) sowie Aljoscha Lenz (ein coming star vom Potenzial her) – sie alle schaffen es, sowohl einzeln als auch als Gruppe zu überzeugen.

DER UNTERSCHIED ZU PARIS

Man muss dazu sagen, dass der große Unterschied zur Pariser Aufführung darin liegt, dass Paris zwar, dank seiner über 300 Jahre alten Schule, über hervorragend begabten Tänzernachwuchs verfügt. Aber die innere Haltung der Künstler zu wissen, dass auch der schönste, beste, exzellenteste einzelne Tänzer nichts ist im Vergleich zu einem funktionierenden Ensemble, ist nirgendwo so wohltuend zu spüren wie in Neumeiers Hauscompany. Beim Hamburg Ballett geben alle ihr Bestes, wenn sie auf der Bühne stehen. Aber niemand versucht, die anderen auszustechen und zu übertrumpfen. Keiner drängelt sich vor, und „Rampensau“-Ambitionen, die es bei unerfahrenen Tänzern immer mal geben kann, werden reguliert und kanalisiert.

Neumeiers Spätwerk, MahlersSpätwerk

Hélène Bouchet in „Das Lied von der Erde“ von John Neumeier: eine Erbauung, was für ein emanzipiertes und doch feinfühliges Frauenbild sie verkörpert. Foto: Kiran West

Dass man dennoch einige der besten Tänzer der Republik hier findet – allen voran Alexandr Trusch und Hélène Bouchet – spricht dafür, dass der Esprit, der die Neumeier-Truppe verbindet, keineswegs nur aus Diktat und Drill besteht, sondern sehr wohl gerade die künstlerische Persönlichkeit der Tänzer ausbildet und formt. Nicht umsonst wollen superbegabte Tänzer aus aller Welt, die woanders mehr verdienen und mehr auf lukrativen Galas tingeln könnten, unbedingt mit John Neumeier arbeiten. Weil er ein unvergleichlich genialer Mensch und Künstler ist, dessen Treue zur Wahrhaftigkeit sprichwörtlich ist. Wer ihn persönlich erleben darf, fühlt sich beglückt – es hat schon seinen Sinn, dass nicht nur die meisten, sondern auch die klügsten und herzenswärmsten ballettinteressierten Zeitgenossen weltweit seine Freunde sind.

Er sei „ein Schatz, ein Hamburger Schatz“, wurde auf der Premierenfeier denn auch begeistert von einigen Hanseaten gemunkelt, und in der Tat ist Hamburg um dieses Juwel unendlich zu beneiden.

Bescheiden wies Neumeier bei seiner Rede dann darauf hin, dass die Tänzer und die Ballettmeister, die Bühnenwerkstätten und die Techniker alle auch ihren Anteil am Erfolg der Produktion haben. Die Werkstätten, die das symbolträchtige Bühnenbild und die geschmackvollen Gewänder fertigten, hätten zudem noch bessere Arbeit geleistet als die in Paris.

Auch die Mäzenin Else Schnabel, die zu den erwähnten klugen und herzenswarmen Freunden von Neumeier gehört, sei ebenfalls bedankt, denn sie ermöglichte mit einer großzügigen Spende die Realisierung des gesamten Vorhabens. Neumeier betonte, dass es Freude mache, wenn Freunde (und nicht nur kühle Sponsorenkalkulation) die finanziellen Hilfen geben.

Es ist aber auch immer wieder ein Ereignis, John Neumeier und seine Arbeit live zu erleben! Neumeier ist derjenige Ballettkünstler, dem die Tanzkunst in Deutschland zweifelsohne am meisten zu verdanken hat. Nicht nur an genialen Werken, sondern auch an Akzeptanz. Ohne Neumeier, so wage ich zu behaupten, gäbe es nicht mal mehr in Stuttgart noch genügend Ballettfreunde, um diese Kunst als gleichrangig zur Oper im Kanon der schönen Künste in Deutschland zu behaupten.

Alles, was sich nach und zeitgleich mit Neumeier auf diesem Sektor in Europa aufgebaut hat, basiert auf seinem erfolgreichen Streben, die klassisch-moderne Tanzkunst aus der angestaubten Ecke rauszuholen und mit Vitalität direkt im Zentrum unseres Kulturinteresses zu platzieren.

Seine Kraft zu inspirieren und zu vereinen, ist einzigartig.

Neumeiers Spätwerk, MahlersSpätwerk

John Neumeier bei seiner bejubelten Rede auf der Premierenfeier in der Hamburgischen Staatsoper, am 4.12.16, nach „Das Lied von der Erde“: Der Meister dankt auch den „kleinen“ Geistern etwa von der Technik. Sehr demokratisch! Foto: Gisela Sonnenburg

Die Ausstrahlung eines Magiers kommt bei John Neumeier aber dennoch ganz unspektakulär einher, etwa wenn er im Ballettsaal steht und mit seinen Tänzern arbeitet. Da zählen nur der Sinn des Handelns, die Absicht der Kunst, ihre lautere Bedeutung – und keine Eitelkeit und keine Selbstdarstellung stören die kreativen Probenprozesse. Bei der Überarbeitung vom „Lied von der Erde“ für die Hamburger Truppe wurde Maß angelegt wie von einem Schneider, der einen Deluxe-Anzug passgenau auf die Haut anlegt.

Die Geschmeidigkeit, mit der das Ensemble vom Hamburg Ballett auch „eckige“ oder kantige Bewegungsmuster vollführen kann, ist vielleicht sogar ein formales Kennzeichen seiner Ästhetik. Da stecken viel Training und Proben dahinter, auch wenn es dann so selbstverständlich aussieht.

Die Sprünge und viele bückende Bewegungen sind oftmals synchron dargeboten – in Perfektion synchron!

Das Corps scheint es zu lieben, im Gleichklang auch zu sehr schwer zu zählender Musik regelrecht zu triumphieren… ohne sich darauf sichtlich etwas einzubilden.

Aber auch der Handlungsablauf erhält eine besondere Note durch die Interpretation.

Die Hauptfigur, verkörpert vom schönen Alexandr Trusch, liegt da zu Beginn auf einem stilisierten grünen Hügel, ein Bein aufgestellt, im Ausdruck entspannt, tagträumend, aber auch melancholisch zurückgezogen. Man glaubt, anders als in Paris, noch nicht an die jenseitigen Sphären, die sich im Laufe des Balletts enthüllen werden.

Neumeiers Spätwerk, MahlersSpätwerk

Die Erde als weibliches Prinzip nach Dienstschluss: Hélène Bouchet und Partner Carsten Jung auf der Premierenfeier von „Das Lied von der Erde“ in der Hamburgischen Staatsoper. Ein nettes Paar! Foto: Gisela Sonnenburg

Die Erde steht hier für das Göttlich-Lebendige, für das Sinnliche, für den Kreislauf aus Leben und Tod. In den asiatischen Philosophien spielen die Zusammengehörigkeit der Gegensätze ja eine große Rolle, und dieser Geist erfüllt sowohl die Musik Mahlers als auch das Ballett von Neumeier. Das ist etwas, das Kenneth MacMillan nicht ganz gelang, wohl auch nicht von ihm angestrebt war.

Erde und Himmel – wie nah sind sie sich, manchmal muss man erkennen: wie entsetzlich nah!

Auch Karen Azatyan und Hélène Bouchet wirken bei ihrem ersten Auftritt zwar wie „erträumt“, aber noch längst nicht so eigenweltlich, wie ihre Entwicklung es ihnen dann erlaubt. Man hält sie zunächst noch für somnambule Traumfiguren, die einen Ausnahmezustand illustrieren.

Aber dann: Nach einer Zeit der Stille setzt auch Musik ein, und zwar nicht etwa der typisch schwelgerische Sinfonie-Sound von Gustav Mahler, sondern hartes modernes Klavier, als Einspielung.

Als dann endlich Mahlers Sinfonik einsetzt, von Simon Hewett am Dirigentenpult wirklich mit sehr feinem Fingerspitzengefühl intoniert und weder zu verschwallt noch zu trocken serviert, ist man bereits tief drinnen im Neumeier’schen Universum der ewigen Wahrhaftigkeit, so möchte ich mal, nicht zu hoch gegriffen, formulieren.

Der Startenor Klaus Florian Vogt, der im Wechsel mit dem passend mysteriös-dunklen Bariton Michael Kupfer-Radecky singt, hat aber auch alle Nuancen von Vitalität und Lust und Schmerz und Sterben in der Stimme. Eine sehr gute Wahl, diese beiden Sänger!

Das gesungene Wort, hier nicht, wie bei Opern in Hamburg üblich, zum Mitlesen über die Bühne projeziert, wirkt dabei vor allem durch seine Schlaglichtkraft.

Neumeiers Spätwerk, MahlersSpätwerk

Natur, ein winterlicher Sonnenuntergang, Sehnsucht im Herzen – ein Spaziergang in Planten un Blomen nahe der Oper in Hamburg ist vor der Vorstellung empfehlenswert. Foto: Gisela Sonnenburg

„Sehnsucht“! „Herz“! „Frühling“!

Doch am Ende steht ein absichtliches sprachliches Desaster… die Grammatik wird bewusst im Stich gelassen, von blauem Licht und von Entrückten ist da der Sinn…

Nicht umsonst heißt hier ja das letzte gesungene Wort „ewig“ – und es wiederholt sich sogar.

Man muss sich fragen, ob all die Springinsfeld-Jungs und die süßen Mädchen in Flatterkleidchen, die zwischendurch die Lebenslust bezeugen, nur Erinnerungen und Träume darstellten oder zeitgleich mit Mahlers langsamem Sterben seine Sphäre durchkreuzten.

Vor allem aber ist ihr Symbolwert von tragender Bedeutung.

Auch sie – obwohl sie so munter hüpfen und Paartänze bilden und auch das Paar Trusch-Bouchet zu einem entzückenden Lauf Hand in Hand über die Bühne mit seligem Freiheitsgefühl im Blick inspirieren – sind im Grunde dem Tode Geweihte.

Man muss das Ganze stets im Blick haben, so der Wille des Choreografen. Sieh die ganze Welt an, nicht nur deinen eigenen Bauchnabel, lieber Theaterbesucher!

Es handelt sich bei Neumeiers Werk um ein sehr bewusstes Spätwerk über ein Spätwerk – der Choreograf lässt sich ein auf die letzten Probleme des Komponisten Gustav Mahler und erfüllt den Raum der Auseinandersetzung mit seiner eigenen Lebenserfahrung sowie deren künstlerischer Umsetzung.

Neumeiers Spätwerk, MahlersSpätwerk

Kein Stein des Anstoßes, sondern eine Inspiration aus Planten un Blomen. Passend zur Stimmung in „Das Lied von der Erde“. Foto: Gisela Sonnenburg

Ich weiß nicht genau, ob mir das ganz junge Publikum hier auch folgen kann. Möglicherweise verlasse ich mich momentan sehr auf die Miterfahrung von ebenfalls nicht mehr ganz jugendlicher Lebenskraft.

Aber zu sehen, wie die elegant-lyrische „Madonna“ Hélène Bouchet die leidende Gestalt, von Alexandr Trusch hauchzart und dennoch so stark verkörpert, zu einem Penché verhilft, also zu jener vertikalen Spagatbildung, die zumeist von Tänzerinnen gezeigt wird, ist nachgerade revolutionär, wenn man bedenkt, dass es hier um einen Kontext von Sterben, Leben und Neuanfang mit der Liebe geht.

Die Chinesen bestehen ja in ihrer Philosophie darauf, dass der Mensch mehrere Tode hat und mehrere Leben.

Wann ein Tiefpunkt der Lebenskraft endgültig ist, kann man vorher nicht wissen – aber was man weiß, ist, dass alle Phasen des Aufs und Abs und des Verschwimmens der metaphysischen Zonen einander ergänzen und bekräftigen.

Hieraus entwickelt sich auch das Naturverständnis, das John Neumeier in diesem Stück aufrollt. Die innere Natur, die sich von der äußeren locken lässt, wird erweckt von der Musik, ebenso wie von der eigenen Vorstellungskraft.

Es ist ein Sieg der Transzendenz über die Begierde, wie ich anlässlich der Uraufführung in Paris schrieb – und es ist ein Sieg der eigenen Mächtigkeit über die Kontrolle von außen.

Wenn man so will: Es ist ein Sieg des Subjekts über das Objektive.

Das ist ein definitives Statement des Werks, ein implizites Statement von John Neumeier.

Das Stück „Das Lied von der Erde“ bezeichnet denn auch in dialektischer und symbolhafter Manier das letzte Halbjahr eines Menschen, etwa das von Gustav Mahler.

Im Frühling starb Mahler, kurz vor Mitternacht des 18. Mai 1911.

Neumeiers Spätwerk, MahlersSpätwerk

Lebenswege – manchmal steinig, manchmal rutschig, manchmal schön… hier eine Treppe aus Planten un Blomen in Hamburg. Foto: Gisela Sonnenburg

Der Spätsommer 1910 geht da zu Beginn des Balletts in den Herbst über.

Dem Prolog folgt also „Das Trinklied vom Jammer der Erde“, wie Mahler textete. Flucht in den Rausch vor dem irdischen Jammertal – so einfach macht es sich der Choreograf Neumeier allerdings nicht.

Aber der grüne Hügel ist noch eine ganze Weile das treffliche Sinnbild für den locus amoenus, den Ort der Entspannung wie der Konfrontation.

Nach dem träumenden Trusch tritt hier Karen Azatyan mit akrobatischem Hochtief des Körpers über die Kante des Rasens auf die Bühne.

Später steht er am Abgrund der Wiese, als wolle er springen. Trusch rast dann auf ihn zu, umarmt ihn, hält ihn.

Der grüne Hügel! Dieses Naturzitat einer sommerlichen Idylle steht für das träumende Innere sowohl als für das erträumte Äußere im Ablauf eines menschlichen Lebens. Die starke Reduktion der Bewegungen lässt aber keinen Zweifel daran, dass es hier aufs Ganze geht: Gustav Mahler, der hier auf der Wiese in seinen Gedanken vor uns liegt, schrieb „Das Lied von der Erde“ in einem Zustand tiefer Erschütterung und dämmernder Depression. Seine fünfjährige Tochter war im Sommer 1907 an Diphterie erkrankt und gestorben. Seine Frau Alma war zwar um ihren Mann bemüht, aber eine ungetrübte Ehe führten die beiden nicht – Alma war für die Avancen anderer Männer sehr empfänglich. Neumeier hat auch darüber ein Ballett geschaffen, 2011, „Purgatorio“, mit Hélène Bouchet in der Rolle der Alma.

Mahler, geboren 1860 und also nicht mehr jung, hatte sich selbst in dieser Zeit des Zusammenbruchs seiner Familie eine Infektion des Herzens eingehandelt, die ihn stetig schwächte. Zudem schwappte auch noch eine Welle antisemitischer Schmähungen in Form einer Schmutzcampagne auch vonseiten der Presse über ihn herein. Er musste seinen Posten als Hofoperndirektor in Wien aufgeben.

Neumeiers Spätwerk, MahlersSpätwerk

Das Fremde fasziniert: Japanische Elemente in Planten un Blomen in Hamburg. Foto: Gisela Sonnenburg

Mahler war nicht mittelllos, aber wirklich glücklich war er in seinen letzten Lebensmonaten wohl kaum. Sein Schaffenstrieb drängte ihn indes zu einem weiteren Werk, und als ihm ein Buch mit chinesischer Lyrik in die Hände fiel, inspirierte ihn dieses zu Nachdichtungen und zur Vertonung dieser Texte im „Lied von der Erde“.

Nun konnten weder Mahler noch sein Vorlagenlieferant Hans Bethge chinesisch. Die Nachdichtungen basierten daher auf anderen Übersetzungen, teils aus dem Französischen, teils aus dem Deutschen stammend.

Ein damals noch übliches Vorgehen – die Begründer der Germanistik, die Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm, hatten sich gemeinsam mit anderen Romantikern ebenfalls geschichtsträchtig im Übersetzen auf der Grundlage von Übersetzungen bewiesen.

Für Mahler war es hingegen wichtig, Metrik und Rhythmus für seine Musik passend zu haben, zudem dramatisierte er, indem er Fragen und Ausschmückungen einfügte.

So heißt es bei Hans Bethge, Mahlers Vorlage, im letzten von Mahler verwendeten Gedicht: „Ich werde nie mehr in die Ferne schweifen, – / Müd ist mein Fuß, und müd ist meine Seele, – / Die Erde ist die gleiche überall, / Und ewig, ewig sind die weißen Wolken…“

Bei Mahler heißt es dann: „Wohin ich geh? Ich geh’, ich wand’re in die Berge. / Ich suche Ruhe für mein einsam’ Herz. / Ich wandle nach der Heimat, meiner Stätte! / Ich werde niemals in die Ferne schweifen. / Still ist mein Herz und harret seiner Stunde. / Die liebe Erde allüberall / blüht auf im Lenz und grünt aufs neu’! / Allüberall und ewig blauen licht die Fernen. / Ewig… Ewig…“

Die mangelhafte, fetzenhafte Grammatik des letzten Satzes steht für das langsame Absterben – dass es im Frühjahr angesiedelt ist, betont seine metaphorische Bedeutung.

So endet das Musikwerk, so endet auch Neumeiers Ballett, mit der Benennung einer Ewigkeit, die nicht nur gefühlt ist.

Und nachdem der grüne Hügel erst von rechts nach links gewandert war und dann ganz von der Bühne verschwand, zucken und tummeln sich am Ende Menschen als dunkle Silhouetten am Boden, wie eine Urhorde, wie eine Menschenmasse, die erst noch werden will und keinesfalls bereits Vergangenheit ist.

Hat Neumeier hier die Hoffnung der gesamten Menschheit formuliert?

Langsam, ganz langsam senkt sich, nach eineinhalb pausenlosen Stunden, der Vorhang. Das Schlussbild bleibt bewegt, die am Boden liegende Menschheit wartet auf ihre Chance für einen Neubeginn.

Neumeiers Spätwerk, MahlersSpätwerk

Alexandr Trusch und Karen Azatyan im Einklang der Synchronizität – ist der Freund nur Freund oder auch Feind? Gar der Tod? Man darf auch mal die Dinge auf den Kopf stellen, so in „Das Lied von der Erde“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Man muss das Stück mehrfach sehen, um es weiter zu enträtseln, was ja für ein Neumeier-Stück auch nur normal ist. Denn mal wieder schuf John Neumeier ein Meisterwerk mit einem eigenen Verständnisschlüssel. Die Standing Ovations für ihn waren von großer Liebe zu ihm getragen – und das nicht von ungefähr.

Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

Zur Pariser Uraufführung 2015:

www.ballett-journal.de/der-sieg-der-transzendenz-ueber-die-begierde/

www.hamburgballett.de

 

 

 

ballett journal