Viel Poesie – und einige Ohrfeigen Beim Hamburg Ballett zeigen „Junge Choreografen“, was sie können und wollen

Junge Choreografen sind auch 2017 ein Knüller

Diese mutig-moderne Choreografie stammt von Lizhong Wang – „Relative Theory“ ist ein Knüller! Hier tanzen sie Pascal Schmidt und Yun-Su Park vom Hamburg Ballett bei den „Jungen Choreografen“ 2017. Foto: Kiran West

Zart und freundlich tritt die Ballerina Miljana Vracaric in der Opera stabile, der intimen Zweitspielstätte der Hamburgischen Staatsoper, vors Publikum. Sie choreografiert selbst seit Jahren. Und auch 2017 ist die jetzt in den Abend kurz einführende gebürtige Jugoslawin – die als Tänzerin im Hamburg Ballett oftmals mit feinen Interpretationen kleiner, aber prägnanter Solopartien besticht – wieder mit dabei: im Reigen der „Jungen Choreografen“. An diesen Abenden, die jeweils im März oder April eines Jahres angesiedelt sind, werden Werke von Tänzern des Hamburg Balletts uraufgeführt. Wegen der Tournee der Compagnie in die USA, die Ende März beginnt, finden diese Premieren heuer so früh statt. Und das gibt es zu sehen: Zwanzig Nachwuchstalente zeigen in zwei Programmen, was sie können und wollen.

Es mögen Blicke in die Zukunft des Balletts sein, die man hier erhält, oder auch welche hinter die Kulissen der großen Show. Da kann aus einem Detail, das bei der „großen“ Probenarbeit im Ballettsaal irgendwie hängen blieb und sich als bemerkenswert herausstellte, ein Stück werden. Oder es bahnt sich ein Thema, das schon länger in einer Künstlerseele brodelt, endlich seinen Weg.

Verwunderlich fand ich, dass trotz drängender Lage in der Politik – Extremisten mit Trump in den USA, mit Erdogan in der Türkei, in Polen sowieso, auch in Ungarn, bald wohl in Frankreich und mit der AfD in Deutschland – offenbar kein großer Drang vorhanden ist, sich auch mal politisch oder zeitgeistig zu formulieren. Fehlen die Utopien so ganz oder traut man sich nicht, sie zu äußern? Seit Menschengedenken haben schöpferische Künstler allerdings zwei innere Beweggründe: ihr politisches Sendungsbewusstsein, für das sie zum Beispiel im Mittelalter auch explizit ausgewählt und bezahlt wurden. Und: ihr Bedürfnis, sich selbst der Welt mitzuteilen, ihr eigenes inneres Universum bildhaft nach außen zu bringen. Was alle betrifft und was nur einen selbst was angeht – das sind die Kräfte, die Künstler in ihrem Kunstsein bewegen.

Hier fehlt vielleicht ein wenig der Mut oder auch die Lust bei den erwachsenen jungen Tänzern vom Hamburg Ballett, stärker dramaturgisch zu arbeiten. Vielleicht sollte man ihnen darum dramaturgische Partner, etwa von den Universitäten, zur Verfügung stellen. Nur eine Idee… die ich an dieser Stelle schon mal formulierte, um choreografische Ideen nicht ins Leere laufen zu lassen. Denn manchmal ist eben das passiert. Allerdings würde die Sache dann nicht weniger aufwändig – und man muss doch auch sehen, dass hier BerufstänzerInnen zusätzlich zu ihrer sonstigen, nicht eben wenigen Arbeit schöpferisch tätig sind. Dafür gebührt ihnen vorab ein großer Dank!

Junge Choreografen sind auch 2017 ein Knüller

Miljana Vracaric gehört auch zu den „Jungen Choreografen“, die 2017 ihre Arbeiten in der Opera stabile in Hamburg zeigen. Foto: Kiran West

Miljana Vracaric betont jedenfalls auch ihren Dank an John Neumeier, der diese Events überhaupt ermöglicht, und sie dankt auch den Kostümbildnern, Schneidern, Musikern und Technikern, die die kleine Spielfläche der Opera stabile zu einer veritablen Laterna magica machen. Im letzten Jahr schafften es einige der Tänzerkreationen ja sogar ins große Haus: als Gastspiel während der Hamburger Ballett-Tage.

John Neumeier, der viel verehrte Hamburger Ballettchef, ließ es sich denn auch nicht nehmen, mit versammeltem Ballettmeisterstab jetzt in die Opera stabile anzurücken – und der ersten Premiere so gespannt wie respektvoll beizuwohnen.

Das erste Stück ist gleich ein Knüller voller Poesie. Es besteht aus zwei Teilen, die aufeinander aufbauen und insgesamt eine Geschichte von Beziehungen erzählen. Vom ersten Moment an knistert es hier, ohne dass aufgesetzte Pseudo-Avantgarde oder abgegriffene Showbiz-Klischees eingesetzt würden.

Lizhong Wang, der junge Choreograf, der aus Shanghai stammt und seit 2011 im Hamburg Ballett tanzt, hat nämlich mit „Relative Theory“ ganze Arbeit geleistet – und ein intensives Konzentrat menschlicher Emotionen in wunderschöne, berührende, bewegte Formen gegossen. Bravo!

Eine stille Poesie schwillt hierin zu einem durchaus ergreifendem Energiefluss, ohne Pathos, ohne dicke Schminke. Das ist das Moderne an Wangs Tanzstück: Alle Bewegungen scheinen von innen zu kommen – und ergänzen sich, einmal ausgetragen, organisch mit dem, was folgt.

Das ist ein wichtiges Kennzeichen hochkarätiger choreografischer Arbeit, wie man es in Werken von so unterschiedlichen Künstlern wie John Neumeier, Nacho Duato, John Cranko, Jiri Kylián, Maurice Béjart und Uwe Scholz findet. Wang ist entweder ein großes Naturtalent oder er hat hier einen Glückswurf hingelegt. Zumindest aber führt er eine Tradition fort, die für das zeitgenössische Ballett unabkömmlich ist.

Junge Choreografen sind auch 2017 ein Knüller

Miljana Vracaric kreierte für die „Jungen Choreografen“ 2017 das Stück „Life within“. Foto: Kiran West

Wirklich: Es handelt sich bei „Relative Theory“ meiner Meinung nach um ein rundum gelungenes Werk, das es verdient, weitaus mehr Beachtung zu finden, als es im Rahmen einer solchen Nachwuchsschau üblich ist.

Vorab lohnt es sich, über den Titel nachzudenken. „Relative Theory“ – der Stückname zitiert spielerisch die von Albert Einstein entdeckte Relativitätstheorie („Theory of relativity“) und ist auf die Veränderbarkeit menschlicher Verhältnisse im schnellen zeitlichen Ablauf gemünzt.

Alles ist relativ, auch die Liebe – oh, wie wichtig ist dieses Einsicht!

Aber zudem ist das Stück ein Gesamtkunstwerk fast aus einer Hand.

Denn der Choreograf Lizhong Wang war hier auch als Co-Komponist tätig. Die Klaviermusik, von Hisano Kobayashi einfühlsam zusammen mit Wang komponiert und dann auch von Kobyashi in fein getunter Abstimmung auf die Tänzer live dargeboten, pendelt zwischen Minimal music und düster-existenzialistischem, aber auch ins Romantische treibenden Impetus.

Nun aber endlich konkret hingeschaut:

Zu Beginn sind die vier Protagonisten bereits markant und originell im Raum platziert. Noch herrscht Stille.

Aleix Martínez sitzt mit gedankenverlorenem Blick und gekreuzten Beinen am Boden in der Mitte. Über ihm leuchtet kopfüber (!) das helle Gesicht von Yun-Su Park, die solchermaßen aus dem schwarzen Vorhang lugt, der die Rückwand der Bühne markiert.

Rechts steht ein Paar: Winnie Dias und Pascal Schmidt. Sie schwingen in die Stille hinein die Arme, es sieht aus wie Flughafenlotsen-Zeichen in Zeitlupe. Oder wie stilisierte Flugübungen. Intensität und Willenskraft strahlt das Tanzpaar aus.

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Greta Jörgens tanzt in Eliot Worrells Stück „Ela“ ein Solo… beim Hamburg Ballett im „Programm 1“ der „Jungen Choreografen“ 2017. Foto: Kiran West

Ein Leitmotiv der Choreografie wird jetzt schon deutlich: die in der Luft aufgestellten Unterarme bei streng gestreckten Händen.

Arme wie Hände sind dabei einwärts, zum Körper hin, gewendet.

Kraft scheinen die Tänzer aus dieser ihrer eigenen bewegten Pose zu schöpfen, die viele verschiedene Schritte und Beinarbeiten begleiten kann.

Dann setzt die Pianomusik ein. Rollend, fließend, flutend.

Aleix Martínez beginnt sein Solo. Eckig gehaltene Hände bilden ein Gegenstück zum Leitmotiv des Paares. Aber die Beinarbeit dazu ist hoch geschmeidig, bis sie in einen akkuraten, spannungsgeladenen Sprung von beiden Beinen auf beide Beine mündet wie in einen stummen, aber expressiven, körperlich geäußerten spitzen Schrei – es ist ein Genuss, all diese Widersprüche so harmonisch verbunden und blitzschnell von einem Tänzer getanzt zu sehen. Dank an Martínez!

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Lizhong Wang – der junge Chinese hat mit „Relative Theory“ hervorragende Arbeit geleistet. Foto: Kiran West

Lizhong Wang hat seine Darsteller wohl mit Bedacht ausgesucht – und eben richtig entschieden. Es sind, auch durchweg hier, wunderbare Besetzungen, die den außergewöhnlichen Tanzschritten, die noch kommen werden, Sinn verleihen.

So stellt Martínez den Einzelnen dar, der im dunkelblauen Oberhemd zur eleganten grauen Anzughose im Karottenstil für sich selbst kämpfen muss. Nicht jeder Tänzer kann ein solches modernes Single-Profil verkörpern, ohne dabei zu verkrampfen oder narzisstisch zu wirken.

Martínez kann es – mehr noch: Er zeigt hier auch, wie man sich mit Einsamkeit abfinden kann, ohne allzu sehr zu leiden.

Zumal er immer wieder Annäherungen an das Paar unternimmt. Er tanzt ja auf Socken, flutscht also ohne Bremse über den glatten Boden. Flugs ist er rechts beim Paar.

Dann aber flitzt Winnie Dias in einem seidenroten Abendkleid von hinten auf die Bühne, springt sofort Martínez auf den Arm. Wusch!

Diese geballte Frauenpower verströmt zugleich viel Poesie – und auch Emanzipationskraft. Denn: Dann springt Martínez an ihr hoch, jawohl – und wird problemlos von ihr gehalten. Sehr toll, und ganz organisch wirkt das! Es habt eben auch große Vorteile, wenn ein Mann mal nicht klotzgroß und eine Frau mal nicht superklein ist.

Die Möglichkeiten sind einfach vielfältiger.

Dieser Pas de deux ist originell, aber auch inniglich. Trotz der neuartigen Kombinationen wirkt er keineswegs oberflächlich-sportlich. Sondern man spürt, dass die spontane Zuneigung der roten, temperamentvollen Frau den blauen, nüchternen Mann begeistert und mitreißt. Ohne Worte entspinnt sich eine Lovestory, die anrührt, gerade weil sie natürlich und modern wirkt.

Vieles tanzen die Liebenden darin synchron, dann wieder hebt er sie zu edlen Formationen hoch oder sie lehnt, sehr nonchalant, ihren Rücken an seine Brust. Nicht davon wirkt kalt oder auf Effekt angelegt. Die Verbindung zwischen den Tanzenden ist da – und reißt nie ab.

Junge Choreografen sind auch 2017 ein Knüller

Edvin Revazov lässt Graeme Fuhrman und Priscilla Tselikova in „Closed Rooms“ tanzen. Beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Die Unterarme werden wieder in der Luft vor dem Körper aufgestellt (wie eingangs beim anderen Paar) – und jetzt darf Winnie Dias mit ihren aufgestellten Unterarmen zwischen denen ihres Mannes stehen.

In dieser Pose drehen die beiden sich langsam, vom Platz weg und zudem auseinander. Schöner und schmerzfreier kann sich eine Umarmung (und das war es!) gar nicht auflösen…

Der zweite Teil beginnt mit einem Pas de trois. Aleix Martínez, Pascal Schmidt und Yun-Su Park – die in einem weißen, langen Rock so anmutig wie edelmütig ausschaut – testen die Grenzen ihrer sanft fließenden Kommunikation. Winnie Dias derweil übt das Alleinsein in langsam zelebrierten, sehr gefühlvollen Solo.

Und mit diesen verhalten erotischen, aber sehr anziehenden Bewegungen lockt sie Martínez zurück. Ohne ihn direkt anzusehen, aber mit jener Magie, die ihr Tanz und die Choreografie an dieser Stelle vorsehen.

Zwei Paare tanzen jetzt zeitgleich, jedes in seiner speziellen Manier.

Dazu rauscht das Piano und illuminiert gleichsam akustisch den Horizont… hier steckt schon viel Romantik im Detail!

Klänge aus Michael Nymans Filmmusik zu „The Piano“ könnten bei der Ballettmusik von Wang und Kobayashi Pate gestanden haben.

Dennoch handelt es sich um einen eigenen Sound, um eigene Rhythmen.

Die aufgestellten Unterarme verbinden auch hier die kraftvolle Bereitschaft zur Umarmung – dafür stehen sie symbolisch – mit dem Ablauf der Handlung, der Paarfindungen.

Choreograf Lizhong Wang hat diese extravagante, dennoch sinnfällige Metapher als Alleinstellungsmerkmal dieser Arbeit gefunden, und er bindet sie in der richtigen Dosierung ein. Nicht zu oft, nicht zu selten.

Sie berührt und begeistert jedes Mal aufs Neue.

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Doch am Ende wickelt sich Winnie Dias allein in die weiße Stoffbahn, die im Hintergrund der Bühne nur darauf wartete, benutzt zu werden… Das ist kein trauriges Ende, aber eines, das Trennungen verteidigt. Und somit absolut in unsere Zeit passt, in der die meisten – auch wichtigen – Beziehungen zwischen Menschen, vordergründig betrachtet, kurzlebig sind.

Aber was ist Zeit eigentlich – und was ist sie wert, wenn es um das Wichtigste geht, um das Innerste, um die Beziehungen zu anderen?

„Die Menschheit hat so ein Ding aus der Zeit gemacht“, denkt Wang im Programmheft nach. „We spend time, or time spends us?“ Bestimmen wir die Zeit, die wir verbringen, oder bestimmt sie uns? Alles ist relativ… „What’s your theory of time?“

Ja, jeder darf eine eigene Theorie von Zeit entwerfen. Sie muss nur vernünftig sein. Sicher ist: Jeder Tag ist einer weniger.

Lizhong Wang hat philosophisch den Physiker Einstein bereichert, indem er ihn reduziert. Die Relativitätstheorie umfasst nämlich das Verhältnis von Zeit und Ort. Dafür kennt sie keine Liebe. Hier aber ist der Ort – typisch für das globale Empfinden im Zeitalter von social medias – nicht mehr wichtig. Dafür die Liebe. Und: Was zählt, ist was man draus macht. Mit allen Konsequenzen.

Fazit: Der Weg der Liebe, er bereichert, aber er ist nicht der einzige, der beschritten werden muss.

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Die tolle Xue Lin tanzt hier im Stück „Flash“ von Matias Oberlin bei den „Jungen Choreografen“ 2017 in Hamburg. Foto: Kiran West

Man wünscht sich von daher eine Fortsetzung dieses Balletts, etwa eine weitere Entwicklung der vier handelnden Personen, denn sowohl in den (Ex-)Liebenden des einen Paares wie auch im anderen steckt noch vieles, das man sich weiter ausgeführt vorstellen kann. Oder wäre es dann schon ein ganz neues Ballett? Mit sechs statt vier Personen? Oder sieben?

Lizhong Wang hat bewiesen, dass er keine Ressourcen vergeudet, wenn er Tänzer und Musik, Kostüme und Bühnenraum aussucht und einsetzt. Da capo!

Hätte ich Preise zu vergeben, der erste Preis würde fraglos hier überreicht!

Wenn ein Stück einen solchen starken Eindruck macht und auch den entsprechenden Nachgeschmack hinterlässt, ist es schwer, dagegen anzustinken und noch eine weitere Marke beim Zuschauer gut zu platzieren.

Insofern muss ich Leeroy Boone hier einen Bonus einräumen, denn sein Stück „(Memory) Loss“ kam direkt nach Wangs Überflieger zum Beginn.

Sein Platzvorteil: Es ist eine ganz andere Art von Ballett, es ist das Psychogramm zweier weiblicher Wesen, eingefasst in eine Rahmenhandlung, die raffinierterweise vorgibt, das eigentich Bedeutsame zu sein.

Ach, das klingt jetzt rätselhaft? Nun, es ist gar nicht so kompliziert, wie es scheint.

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Leeroy Boone kreierte in „(Memory) Loss“ einen echt swingenden Hausfrauentanz. Yeah! Yaiza Coll tanzt das gute Stück… beim Hamburg Ballett in „Junge Choreografen“ 2017. Foto: Kiran West

Yaiza Coll tanzt in eleganter weißer Hose, altrosa Bluse und passenden Schnallenschuhen eine typische amerikanische Hausfrau, die sich als emanzipiert empfindet, weil sie keine Schürze trägt. Giorgia Giani, die Wunderbare, tanzt ihr Kind, ihr Schulmädchen: Zu Beginn setzt sie eine neckische rosa Schleife auf den Pferdeschwanz von Giani, die ansonsten im knielangen Sommerrock und mit nostalgisch ledernem Schulranzen mordsfidel und gut aufgelegt scheint.

Kaum ist das Kind aus dem Haus, lässt die Mom die Sau raus. Swing erscheint, von Dinah Washington gesungen, „I remember you“, noch mehr Schwung und Schnulze in eins ist kaum vorstellbar. Und die Mami rockt und geht ab wie die Luzi!

Es ist schon hübsch gemacht, so eine Petitesse von einer Frau, die einer großen Liebe und auch ihrer Jugend nachhängt, indem sie Home Dancing mit viel Eleganz und geraden Linien in den Ausfallschritten praktiziert. Da schnippst sie mit den Fingern, da zeigt sie in die Luft: Damals und damals und damals war sie ja soooooooooo glücklich!

Aber die Erinnerung übermannt sie, wortwörtlich. Ein gerahmtes Foto und sein Anblick im richtigen oder besser falschen Moment können ja einen wahren Tränenfluss auslösen. „Boy! What Love has done to Me!“ Der Gershwin-Sound floriert, die Notgeilheit springt der tanzenden Hausfrau fast aus der ach-so-schicken, blendend weißen, völlig unbefleckten Stoffhose.

Traurig erregten Blickes kriegt sich Dancing Mum kaum noch ein.

Yaiza Coll macht das wirklich gut, sie übertreibt nicht, aber der sentimentgeladene Moment, in dem man daheim endlich mal ungestört seinen Erinnerungen nachhängen kann, wird voller Emotion von ihr dargestellt. Mit Developpés und Gleitschritten, mit einer tollen Armarbeit und einer schönen, passenden Mimik. Yeah!

Doch dann kommt die Erinnerung an den Streit, an die Trennung im Bösen, an die Ohrfeige – Coll erstarrt, in ihrem Bick liegt all die Zerrüttung dieser Beziehung, von der sie bis dahin dachte, dass sie friedlich sei.

Ihre Gestik zeigt, dass sie den prügelnden Kerl sofort rausschmiss. Richtig so, Madam!

Aber der gute Sex, nun ja, er fehlt ihr… Und als gäbe es keine anderen Jungs auf der Welt, jault Ella Fitzgerald weiter und weiter immer nur dem einen hinterher… Yaiza Coll zeichnet immer wieder mit ihren Fingern einen Rahmen in die Luft, immer in Richtung der linken Seitengasse (die es hier so nicht gibt)… ach, wie unreif frau doch ist, wenn sie mal nur auf ihren Unterleib hört! Es hat köstliche Brisanz und tragikomischen Humor, wie Leeroy Boone hier die American Mum (die hoffentlich keine Trump-Wählerin ist) leiden lässt.

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Leeory Boone: jung und begabt – und Tänzer beim Hamburg Ballett mit choreografischer Ambition. Foto: Kiran West

Boone ist übrigens Franzose und kam, bevor die Hamburger ihm den letzten Schliff auf ihrer Schule verpassten, direkt von der Ballettschule der Pariser Oper an die Alster. Seit einem dreiviertel Jahr tanzt er in der Compagnie. Inwieweit seine Beobachtungen autobiografischer Natur sind oder nicht, sei mal dahin gestellt. Aber die Sehnsucht einer Frau nach der Vergangenheit hat er in jedem Fall gut getroffen.

Auch das kuschelige Miteinander von Mutter und Tochter, als diese nach Schulschluss nachhause kommt, fasst er in trefflich verständlich getanzte Walzer. Da schmusen die zwei Frauen, sich gegenseitig bewundernd und beschützend. Mutter und Tochter, ein Herz und eine Seele, vermutlich gerade weil der Vater fehlt. Doch die Symbiose täuscht nicht über den Trennungsschmerz der Mutter hinweg, und auch das Kind leidet, selbstredend, unter der nicht nur optimalen familiären Situation.

Aber so ein junges Mädchen schöpft ganz schnell wieder volle Kraft. Dann hat Giani ein Solo, zum Sound von „Reach for tomorrow“ von Fitzgerald – und da hat der junge Choreograf Boone sich etwas verzettelt. Die Beine werden da flugs hoch geworfen, der ganze Körper geht dann aber gen Boden, das Himmelhochjauchzende, das Zutodebetrübtsein der Jugend, wenn sie ans große Morgen denkt, sollen so ausgedrückt werden.

Aber es wirkt etwas flach und konstruiert, was Boone sich da ausdachte – und das liegt wirklich nicht an Giorgia Giani, die sich voller Elan in die Tanzschritte wirft und diese so charmant wie irgend möglich präsentiert. Bis es zur erinnerten Ohrfeige kommt, die auch die Zukunft des Kindes sichtlich negativ beeinflusst…

Das Problem liegt eindeutig an der Choreografie, die hier nicht so stimmig und facettenreich ist wie beim Solo von Dancing Mum. Hoffen und Bangen sind künstlerisch schwieriger darzustellen als erotische Erinnerung… sogar für einen so jungen Mann wie den 1995 geborenen Leeroy Boone. Ob da ein Tanzwissenschaftler hätte helfen können? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Dennoch: Boone hat Talent, und mit seinem kleinen Plot beweist er Mut zum Mini-Handlungsballett, auch mal jenseits der beliebten Boy-meets-girl-Situation. Sehr gut!

Dann eine weibliche Stimme im Choreografenreigen.

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Hayley Page choreografierte „De Voir“: eine überraschende Dreiecksbeziehung. Zu sehen beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Hayley Page aus Australien legt mit „De Voir“ (was ich mal frei mit „Vom Sehen“ aus dem Fanzösischen übersetzen darf) eine äußerst feine und differenziert funktionierende Dreierkiste voller Überraschungen vor.

Rechts steht allerdings erstmal die Parkbank, diese Holzbank aus so vielen Film-, Theater-, Musical- und Tanzabenden… diese Parkbank verfolgt uns ja geradezu, denn wann immer man ein Stück Außenwelt als Sitz der Gefühle zeigen will, muss sie dafür herreichen. Von John Crankos „The Lady and the Fool“ bis zu John Neumeiers „Liliom“…

Hier wird sie immerhin originell genutzt. Nicolas Gläsmann liegt schlafend auf ihr, im Schlaglicht, aber einsam und verlassen, während sich hinter ihm ein geisterhaft erträumtes Paar findet: Florian Pohl, der in schwerem Mantel von rechts kommt, und Winnie Dias, die, ebenfalls bemäntelt, von links erscheint.

Gläsmann schreckt hoch – und wirft sich gen Boden, wild zuckend, es ist der Liebeskummer, der ihn hier förmlich zerreißt.

Feingliedrig tanzt Winnie Dias auf Spitzenschuhen, unter dem Mantel trägt sie unschuldiges Weiß, und der starke schöne Florian Pohl weiß, wie er sie halten und heben muss, um mir ihr glücklich zu sein.

Aber ist es unbelastetes Liebesglück, das die beiden verbindet? Es scheint, dass sie Liebenden hier vielmehr eine Vernunftehe führen, sie haben sich zueinander zwar gerettet, aus wilden Zeiten vielleicht, aus einer Ära der überbordenden Stürme vielleicht, aber sind sie wirklich beieinander?

Dias vollführt die Vogel-Arme des modernen Tanzes, wenn sie sich vorbeugt, wie ein Klagelied – und eine Schwere scheint sie zu drücken.

Ja, etwas fehlt ihr… und ihr Mann sieht es und leidet mit…

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In Hayley Pages vorzüglichem „De Voir“ tanzen Winnie Dias, Nicolas Gläsmann und Florian Pohl. Foto: Kiran West

Es wird ein Pas de trois. Pohl in der Mitte, trennt er zugleich mit seinem Körper die sich vielleicht vormals Liebenden, Dias und Gläsmann.

Ein verwickeltes Dreiecksverhältnis haben wir hier! Zumal nicht eindeutig klar ist, ob es nur erträumt ist…

Die Musik, die von Kirsten Milenko eigens für diesen Tanz komponiert wurde – sie spielt „De Voir“ auch selbst am Klavier – unterstützt den gefühlsgeladenen Eindruck. Es handelt sich um eine innere Handlung, und inwieweit sie objektiv real ist, muss der Zuschauer wohl selbst entscheiden.

Nicolas Gläsmann oder besser dem jungen Mann, den er tanzt, bleibt derweil nichts, als allein zu tanzen – und die Arme rund zu einem Kreis vor dem Körper zu formen, seine Hände fassen dabei einander an. Er muss sich so in sich selbst zurückziehen, sich allein trösten, zusehen, wie er ohne die begehrte Frau zurecht kommt.

Gläsmann tanzt das sehr eindringlich, er bleibt auch hier der Rolle gemäß ein emotional Verletzter, ein Verschmähter, Verstoßener – und der Schmerz, der ihn fest im Griff hat, spiegelt sich seinerseits noch in der Überlebensgeste des Sich-selbst-an-der-Hand-halten. Wirklich sehr ergreifend getanzt.

Polyamorie, also das Zusammenleben mehrerer Personen in einem Liebesverband, ist das hier zwar mitnichten – auch wenn dieser Trend in Kalifornien gerade die junge Bevölkerung erreicht hat. Aber vielleicht wäre das eine Lösung für die drei hier?

Doch die Konvention erstickt solche Gedanken. Hier haben sich zwei zu einem Paar gefunden – und der Dritte leidet.

Am Ende versucht er, wieder auf der Parkbank, einen liebevollen Kuss von Mund zu Mund mit der geliebten Frau, und es sprüht erotische Funken – aber sie löst sich von ihm, sie ist ja vergeben und will daran auch nichts ändern. Allein bleibt Gläsmann zurück, ohne Hoffnung, ohne Furcht. Schluchz.

Das Klavier (ein schöner Flügel!) spielt dann noch einen dunklen Ton… der bleibt lange im Ohr, fasst er das Gesehene doch zusammen, bringt den Liebesschmerz auf eine Note.

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Die Kooperation von Musik und Tanz ist bei „De Voir“ ganz sicher sehr zu loben. Und auch Einzelteile der Choreografie gehen stark unter die Haut. Nur an ihrer Verbindung könnte vielleicht noch gefeilt werden. Da gibt es manchmal Brüche, die nicht einsichtig sind.

Insgesamt aber wäre hier mein zweiter Preis zu vergeben: Der Herzschmerz als Überlebenskonzept hat mit Pages Arbeit eine vehemente tänzerische Huldigung mehr. Man kann außerdem vermuten, dass sich hier segensreich ein thematischer Einfluss von John Neumeiers „Die Möwe“ ergeben hat. Sehr schön.

Ganz anders dann „Reflective Nonsense“ von Jemina Bowring. Die Johannesburgerin, die nach ihrer Zeit im Bundesjugendballett seit 2014 im Hamburg Ballett tanzt, hat ebenfalls hiermit uraufgeführte, ganz neue Musik zu bieten: Nathan Van Rooyen schuf ein Stück nach Erik Saties „Gnossiennes“ (da findet sich ein Tippfehler im Programmheft). Wenn man Satie im Original anhört, hat seine schwebende Stimmung mit der grotesken Geisterbahn der Musik von Van Rooyen aber nicht mehr viel zu tun.

Als weitere Inspiration nahm sich die Choreografin dann auch noch „Alice in Wonderland“ vor: ein Stück skurril-bizarrer Fantasy-Literatur, an dem schon Christopher Wheeldon bei all seiner Begabung für kürzere und abstraktere Themenballette meiner Meinung nach deutlich scheiterte. Schon Wheeldon verflachte die psycho-logisch abgründigen Absurditäten von Lewis Carroll zu äußerlichen Knalleffekten.

So does Bowring. Schade, denn sie steckte offenbar eine Menge Energie und Aufwand in diese Arbeit, und ihren Tänzern verlangt sie Einiges ab.

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Hat sich entweder vertan oder einen definitiv anderen Geschmack als ich: Jemina Bowring vom Hamburg Ballett, deren „Reflective Nonsense“ mir nicht Nonsense genug ist. Foto: Kiran West

Da wird als Zwillingspaar in Hosenträgern herumgealbert, herumgetollt, herumgetobt. Alice gibt es hier nicht, dafür diese zwei Jungs, die es ernsthaft akrobatisch miteinander meinen. Putzig, munter, klamaukig ist ihr Ausdruck – so weit, so gut. Aber Nonsense als Programm heißt ja nicht Beliebigkeit. Und wenn dann auch noch ein Flüstern aus den Lautsprechern kommt, um überhaupt irgend etwas an Reizvollem hinzuzufügen – dann fragt man sich schon, ob man sich dieses hirnlose Kindertheater eigentlich weiter antun muss.

Auch androgyne Tutu-Spiele ermuntern nicht wirklich, zumal sie hier grob und nahezu ganz ohne Geschmeidigkeit vorgetragen werden.

Billige Kostümeffekte, unter anderem Greta Jörgens in einem weißen Fell-Bolero als „White Rabbit“, mögen Menschen gefallen, die sich an den Humor vom Ringelpiez in ihrem Kindergarten bereits vollends gewöhnt haben und ihn mit wirklichem Witz verwechseln.

Wer aber noch ein bisschen Anspruch an Tanzkultur hat, würde seine Lebenszeit lieber anders zubringen als mit dieser Darbietung.

Klamotte und Operette sind nun mal sehr schwer gut zu machen, das weiß an sich auch jede und jeder am Theater. Wer sich aber als choreografischer Anfänger schon so sehr mit Sport in pseudokarnevalesken Kostümen statt mit glaubhaftem Tanz aufbläht wie Jemina Bowring, muss sich nicht wundern, wenn zurückgetrötet wird.

Ein Tanzwissenschaftler hätte hier vielleicht gut zu einer anderen Szenencollage raten können – und vor allem rechtzeitig gewarnt, vorausgesetzt, die Künstlerin hätte das gewollt.

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Jemina Bowring („Reflective Nonsense“) choreografierte ziemlich wild, ihre Tänzer machten das Beste draus. Foto: Kiran West

Dagegen ist „Melancholy“ von Illia Zakrevskyi eine richtige Wohltat!

Madoka Sugai und Christopher Evans tanzen hier einen elegischen Migranten-Paartanz, der mit einfachen Mitteln auskommt, um sehr viel mitzuteilen. Hand in Hand kommen sie herein, Evans hat einen Koffer in der Hand, den er abstellt. Angekommen. Und zwar dort, wo man nie wirklich ankommen kann – diese Melancholie durchzieht das Pas de deux, ebenso wie die Liebe, die unter dem Druck der fiesen sozialen Verhältnisse hier langsam, aber stetig bröckelt…

Auch das ist ein echt schwieriges Thema. Aber es wird vorzüglich und sehr feinfühig umgesetzt! Zakrevskyi, Ukrainer und über den Umweg vom Theater in Hof nach Hamburg zurückgekehrt (wo er auch ausgebildet wurde), nahm sich zudem gut umsetzbare Musik aus dem Soundtrack des Kinofilms „Only Lovers left alive“, einem Vampirfilm von Jim Jarmusch.

Schräg-romantisch also ist hier der Klangteppich, vor dem sich deann allerhand Diffiziles abspielt…

Starke Hebungen sowie ein enges Körperspiel erinnern mich an John Neumeiers „Prélude CV“.

Evans trägt einen dunklen Anzug, Sugai ein weißes Kleid. Oft biegt sie sich mit aller Kraft von ihm weg, er hält sie fest – und würde er nicht ihre Hand halten, so könnte sie nicht so weit von ihm fortstreben.

Diese Paradoxie benennt recht gut körperlich, in welcher emotionalen Zwangslage sich Menschen befinden, die aufeinander sozial angewiesen sind.

Tadellos hebt er sie in den Herrenspagat, mehrfach und verschiedenen Ausführungen. Absolut originell, diese Hebungen! Madoka Sugai ist aber auch genau die richtige Ballerina hierfür, ihr Herrenspagat wirkt nämlich wie eine Freiheitsgeste und nicht wie ein gymnastisches Angeben.

Ich muss da mal ins Detail gehen:

Eine Tänzerin auf den eigenen gebeugten Knien im Stehen diesen Spagat machen zu lassen und sie dann auch noch hochzuheben, ist ganz sicher keine Kleinigkeit. Christopher Evans leistet das, als sei es eine Leichtigkeit – und zugleich drückt dieses Pas aus, wie sehr der Mann hier um sie, seine Frau, kämpft.

Er ist bereit, viel für sie zu tun!

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Illia Zakrevskyi – ihm gelang mit „Melancholy“ ein veritables Werk! Foto: Kiran West

Sie sind ja auch zusammen in der Fremde gelandet, haben überlebt. Ohne sie hätte er dazu wohl nicht die Power gehabt. Aber jetzt? Sie wollen sich eigentlich etwas Neues aufbauen. Doch irgendetwas stimmt nicht mehr zwischen ihnen, es fehlt an der Chemie zwischen ihnen, es fehlt der Drive – zumal von ihrer Seite aus. Ihre Beziehung zu ihm ist einfach erschöpft, sie sehnt sich gerade durch die soziale Situation nach Neuem.

All diese Konflikte vermag Zakrevskyis Choreografie auszudrücken. Fantastisch! Und hätte ich Preise zu vergeben – hierhin ginge ein weiterer.

Das ist allerhand für einen so jungen Mann (Jahrgang 1993) – und vielleicht ist da auch vieles unbewusst entstanden. Fakt ist: Dieser Paartanz berührt und verführt, sich in Menschen einzudenken, die es nicht immer nur leicht haben, auch miteinander nicht.

Immer wieder scheint dem Mann denn auch eine innige Verschmelzung mit seiner Geliebten zu gelingen. Aber ebenso zuverlässig entzieht sie sich ihm, sanft, ohne Aufhebens, ohne Drama – es ist einfach nicht mehr genug Liebe zwischen ihnen.

Und das, obwohl sie mit allen Sinnen scheinbar brennt vor Verlangen!

Schließlich ist er es, der die Konsequenzen zieht und geht.

Während sie, schwach und willig und vielleicht nachgerade kopflos vor Lust am Boden liegt, sich räkelnd und sogar den schönen Körper in eine Brücke biegend, die nichts vom Turnen an sich hat, eher was vom Kamasutra, lässt er ab von ihr…

… und er entschwindet, rückwärts gehend, langsam in die Dunkelheit, während sie allein vor sich hin orgasmiert, vermutlich von einem anderen oder einer anderen träumend…

Welch delikates Pas de deux – und zum Glück überhaupt nicht wie die übliche Sozialarbeitersoße, die man zum Thema „Migrantenehepaar“ sonst in jüngerer Zeit zu hören oder zu sehen bekommt.

Hier ist die Großfamilie mal nicht die Erfüllung der Frau und all ihrer guten und negativen Eigenschaften!

Junge Choreografen sind auch 2017 ein Knüller

Illia Zakrevskyi schuf „Melancholy“, und Christopher Evans und Madoka Sugai setzen dieses Pas de deux furios um. Hier Madokas Herrenspagat mit Cambré auf den gebeugten Knien des stehenden Christopher. Fast einen Eintrag ins Kamasutra wert! Foto: Kiran West

Hier ist die Frau (auch die, die aus dem Ausland kommt) endlich mal als Mensch mit eigener Liebeskraft präsent und wertvoll, sogar ohne die verordnete Dauerliebe zum Immergleichen, und auch die Trennung eines Paares ist hier keine Katastrophe, sondern ein menschlicher Vorgang, den man verkraften muss.

All dies ist sehr zum Wohle der Menschheit so gezeigt, denn die ist in ihren Konventionen häufig so gefangen, dass sie völlig gedankenlos weltweit für Überbevölkerung sorgt. Sodass ökologische Nachhaltigkeit ohne drastische Geburtenreduzierung nur wieder ein Geschäft für bestimmte Dienstleister und Industrien bedeutet.

„Wenn der letzte Baum gefällt ist, werdet ihr merken, dass ihr Geld nicht essen könnt!“ Dieser Schlachtruf der grünen Szene in den 80er Jahren ist komischerweise nie aus der Mode gekommen.

Aber ich schweife ab. Zurück also zur Kunst von Zakrevskyi:

Toll. Wirklich eine tolle Arbeit, und man freut sich schon aufs nächste Jahr, wenn Illia Zakrevskyi hoffentlich wieder ein Ballett schöpft.

Vorher muss man noch den Understatement-Overkill in „Flash“ von Matias Oberlin verkraften. Oberlin ist ein prima Tänzer, aber was er hier als Choreograf anrichtet, das geht auf keine Kuhhaut!

John Adams Sinfonie-Musik macht es auch nicht besser.

Madoka Sugai (für die erkrankte Nako Hiraki – gute Besserung!), Xue Lin, Mengting You und, als einziger Junge, Marià Huguet üben hier auf Oberlins Geheiß ein bedauernswertes, belächelnswertes Stückchen Oberflächlichkeit, in die Länge gezogen und mit allerlei Frachtgut wie kitschigen Kostümen und Requisiten versehen.

Oberlin kommt aus Argentinien, war mal unverdientermaßen glücklos für Neumeiers Schule beim Prix de Lausanne (wo er im Modernen durchaus sehr gut war), und er tanzt seit zwei Jahren im Hamburg Ballett. Wo er immer mal wieder durch besonders schöne moderne Tanzdarbietung auffällt. Man mag ihn außerdem, er ist ein sympathischer Typ.

Junge Choreografen sind auch 2017 ein Knüller

Als Tänzer sieht man ihn sehr gern – aber seine Kreation „Flash“… nun ja. Matias Oberlin vom Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Aber, aber, aber: Dass Choreografie als Kunst etwas anderes ist als das Arrangement von hampelnden Stereotypen nach Art der Werbeclips, das hat sich noch nicht bis zu ihm herumgesprochen.

Und so leidet das Kritikerherz… ach. Wie schon bei Bowring muss ich konstatieren, dass das allgemeine Niveau der „Jungen Choreografen“ in 2017 auch massiven Abstürze kennt.

Nichts für ballettöse Feinschmecker.

Zur Sache:

Drei Kaffeehausstühle stehen mit dem Rücken zu uns vor einer Ecke. Aha. Warum nicht. Konstantin Tselikov hat 2016 ein entzückendes Stück mit zwei Stühlen und einem Tanzpaar kreiert.

Mit dem Aufzeigen von Beziehungen hat Oberlins kindliches Tanztheater allerdings nichts zu tun.

Da darf ein Girl hüpfend den Star spielen, einen Musicalstar vielleicht, und ein Fotograf hetzt rein, knipst, hetzt wieder raus – und das Mädchen bewundert sich selbst in den Augen ihrer Mitstreiterinnen.

Am Ende knien die Mädels, nach kurzem Synchrontanz, wie in einer Broadway-Show, offenbar vom ganz großen Erfolg, vom WELTRUHM träumend – na, da war „Fame“, der Kinofilm, künstlerisch schon ein ganzes Stück weiter.

Noch ärger wird die Kritikerin dieses Jahr allerdings von Marcelino Libao gebeutelt. Ich mag ihn als Tänzer so sehr – aber noch eine Choreografie von ihm werde ich mir nicht ansehen, denke ich.

Letztes Jahr war er mit einem Stück über zwei befreundete Paare, von denen eines starb und dann als Geist den Überlebenden erschien, sehr gut an den Start gegangen… aber dieses Jahr, mit „Paloma Muerta“, setzt er dem Übel eine federnreiche Krone auf.

Außer einem tollen pinkfarbenen Tuturock mit Schlitz vorne bleibt mir da nichts als angenehm in Erinnerung.

Für die Kostüme zeichnet übrigens Claudio Pohle verantwortlich. Diese Farben hätten Einiges retten können, denn die Kledagen sind schön und ausgefallen – aber wenn der Choreograf nichts mit den so kreierten Figuren anfangen kann, dann verpufft auch ihre Wirkung im Niemandsland der Gedankenleere.

Da muss also der Hintern rausgestreckt werden, sich auf drei Kissen ausgeruht werden, da wird ein bisschen Akrobatik vollführt und etwas Gehoppel. Ein Zusammenhang ist nicht ersichtlich. Hier hätte ein Dramaturg den intendierten Inhalt sicher besser mit vermitteln können.

Schließlich wird eines der Federkissen unmerklich aufgerissen, damit dessen Innenleben hervor tröpfelt, Daune für Daune. Weiße Federn verteilen sich im Bühnenraum. War ein Fuchs im Hühnerstall?

Irgendeinen Sinn außer vielleicht einen Hinweis auf Schlafstörungen kann ich beim besten Willen darin nicht erkennen.

Camille Saint-Saens’ „Karneval der Tiere“ ist musikalisch zudem auch nicht mehr ganz neu im Ballett, das „Humtata“ schien Libao daran auch noch besonders zu gefallen.

Die Kitscharie „This bitter Earth“ von Max Richter macht es dann noch schlimmer, weil sie einfach nicht dazu passt.

Mayo Arii, Yaiza Coll, Jacopo Bellussi, David Rodriguez und Pascal Schmidt mühen sich derweil redlich um tänzerisches Format.

Die Hoffnung, die Marcelino Libao in seinem Statement zum Stück beschwört, bleibt indes unsichtbar…

Am Ende spendet ein Tänzer einer Tänzerin auf der Bühne Applaus.

Wenn da nur vorher was gewesen wäre, irgend etwas! Schluchz, seufz, schluchz. Mich ärgert solche choreografische Wichtigtuerei. Dabei hatte Libao letztes Jahr im April mit „Beautiful Soul“ eine ganz andere, gut strukturierte und feinnervige Arbeit mit sinnvollem Inhalt vorlegt (www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-junge-choreografen-2016/).

Mit einem anderen Stück, das er im Sommer 2016 während der Hamburger Ballett-Tage zeigte, schlug er allerdings schon den Pfad der Sinnlosigkeit und der Effektehascherei ein (www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-aspekte-der-kreativitaet/). Merkwürdig, wie sich ein schöpfender Künstler so negativ verändern kann und dann bei dieser Richtung bleibt. Das gibt es nicht oft.

Marcelino, I like you, but please, please, please, don’t do it again like this year, do it like in spring 2016!

Junge Choreografen sind auch 2017 ein Knüller

Marcelino Libao aus Manila – er tanzt sehr schön im Hamburg Ballett, aber als Choreograf trifft er mich dieses Jahr nicht gut. Foto: Kiran West

Es geht in die Pause…

Diese sieben Stücke bilden den Auftakt und zugleich sieben Zwanzigstel der diesjährigen „Jungen Choreografen“-Werke – exemplarisch wurden sie hier ausführlich behandelt.

Weiter geht es nach der Pause im „Programm 1“ mit einem Stück von Edvin Revazov („Closed Rooms“), das – in Anlehnung an seine Arbeit von 2016 geschätzt – vermutlich toll intensiv ist, dann folgt „Ela“ von Eliot Worrell, das sich als Frauensolo für Greta Jörgens recht interessant anhört, und abschließend wird „Life within“ von Miljana Vracaric getanzt, das ich so gern gesehen hätte. Nur fuhr der letzte Zug nach Berlin an diesem Abend viel zu früh – und vielleicht sind sieben verschiedene Choreografien von sieben verschiedenen Choreografen an einem Abend auch schon mehr als genug, wenn man sie denn ernst nimmt und sich nicht nur berieseln lässt.

Junge Choreografen sind auch 2017 ein Knüller

Marcelino Libao stellt in „Paloma Muerta“ ein Quintett an TänzerInnen auf die Bühne. Foto: Kiran West

Noch eine kleine Anregung für 2018: Teamwork kann auch beglücken – und die Gemeinschaftschoreografien, wie sie vom Bundesjugendballett schon zu sehen waren, hatten alle Vorzüge der Jugend, aber nicht ihre Nachteile. Vorspeise, Hauptgang und Dessert passen dann vielleicht auch besser zusammen als zehn verschiedene Gänge in einem Menü. Guten Appetit derweil auf die weiteren Acts – insgesamt sind sie die Aufmerksamkeit unbedingt wert!
Gisela Sonnenburg

P.S. Der Fotograf vom Hamburg Ballett, Kiran West, ist auch nur ein Mensch. Er hatte einige Bilder falsch beschriftet, nicht, was die Stücke angeht, sondern die Tänzernamen. Das ist aber kein Grund, auf Facebook gegen mich oder Kiran West oder sonstwen zu pöbeln. Sachliche Korrekturen sind viel besser! 

Termine: siehe „Spielplan“ (An den ersten beiden Abenden „Programm 1“ , dann „Programm 2“ )

www.hamburgballett.de

 

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