Erlösung Dramatisch, poetisch, Ballett pur: „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier berückt beim Hamburg Ballett auch und gerade in der Alternativbesetzung – Madoka Sugai erhält zudem den diesjährigen Förderpreis

Illusionen - wie Schwanensee - mit Alexandr Trusch und Madoka Sugai

Alexandr Trusch als König in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier: ein Zerrissener, ein Leidender, ein Kämpfender. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Stell dir das vor: Du lebst in einem See. Du bist verzaubert. Man entführte dich und machte einen Schwan aus dir. Nur nachts erhälst du deine menschliche Gestalt zurück und schaust in Deinem federnen Gewand ganz märchenhaft aus. Du bist ja eine Prinzessin, und dein Krönchen glitzert in deinem Haar zwischen weißem Federwerk. Diese Rolle der verzauberten Schwanenprinzessin Odette tanzt du in einer königlichen Privatvorstellung im 19. Jahrhundert. Wenn Anna Laudere oder Xue Lin vom Hamburg Ballett diese Partie in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier tanzen, wird die Geschichte der schönen Schwänin nebst ihrem tragischen Hintergrund greifbar und plausibel – und das dargestellte Schwanenmädchen, das unter dem erzwungenen Identitätswechsel leidet, hat einen weitaus irdischeren, aber ebenfalls verzauberten Mann zum Komplizen: den König, der von Alexandr Trusch trotz seiner Jugend in aller Tiefe ausgelotet und mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt interpretiert wird.

Xue Lin und Alexandr Trusch im weißen Akt von „Illusionen – wie Schwanensee“: filigran und empathisch, poetisch und utopisch. Foto: Kiran West

Trusch, dieser absolut außergewöhnliche Primoballerino, ist erst 28 Jahre alt, was für diese Rolle wirklich jung ist. Aber er hat alles, um der Person Königs, die Ludwig II. von Bayern so ähnlich ist, die Anmutung eines Außenseiters und Ausnahmemenschen zu verleihen.

In jeder Pirouette, in jeder Armbewegung spiegelt sich die zerrissene Seele des Königs.

In jedem Sprung, in jedem Aufbäumen des schlanken Körpers begehrt er auf, strebt danach, ein anderer, ein glücklicherer zu sein.

Wenn er von seinen Plänen erzählt, ist er ganz bei sich. Hält die Balance lang, streckt die Beine und Arme schier ins Unendliche.

Nur wenn er dem Alltag eines Regenten entrinnen kann, fühlt er sich befreit.

Anna Laudere tanzt in der Erstbesetzung dieser Saison die Schwanenprinzessin – es war kein Debüt, sie hat die Darstellung der Darstellung, die in dieser „Schwanensee“-Version verlangt wird, vervollkommnet. Foto: Kiran West

Ein Mensch wie du und ich ist er – und doch so abgrundtief ahnungsvoll, so todessüchtig in seiner Weltflucht, so befangen in dem, was er nicht ist und doch zu werden erhofft.

Da gibt es ein Mädchen, das sich um ihn kümmern möchte.

Prinzessin Natalia – von der bravourösen Madoka Sugai getanzt, als sei ihr die Partie auf den Leib choreografiert – ist die Verlobte des Königs.

Sie findet, sie passt zu diesem entrückt-seltsamen, aber auch so gebildeten und kultivierten Mann.

Gemeinsam ergeben sie ein schönes Paar – oder doch nicht?

Der König entwischt ihr, immer wieder. Sie bietet sich an, als Frau, als Partnerin, für Gespräche, für Zärtlichkeit. Er sieht weg und geht. Immer wieder.

Alexandr Trusch als König in „Illusionen – wie Schwanensee“ umarmt das Baumodell fürs Schloss – als sei es die oder der Geliebte… Foto: Kiran West

Schließlich umarmt er das Baumodell von Schloss Neuschwanstein mit einer Inbrunst, als wäre es eine Geliebte. So viel Liebe hat er für keinen Menschen übrig. Schon gar nicht für Natalia.

Madoka Sugai begreift die Tragik dieser Frauenrolle. Fast wäre deren Leben ja perfekt. Fast hätte es für sie gelohnt, aus Polen nach Bayern zu kommen, um mit diesem versponnenen König Staat zu machen. Sie hätte ihn geliebt.

Und sie hätte ihn geerdet.

Ihm Halt zu geben, wäre ihre Aufgabe und ihre Freude gewesen.

Aber er will nicht. Er will entfliehen, vor ihr, vor der Welt, vor sich.

Sie wird zurückgewiesen, trotz aller Bemühungen.

Superjungstarballerina Madoka Sugai als Prinzessin Natalia auf dem Richtfest in „Illusionen – wie Schwanensee“. Ob sie ihren Verlobten für sich gewinnen kann? Foto: Kiran West

Sie tanzt für ihn, ein Solo, so majestätisch und voller Anmut, so hoffnungsfroh, rückhaltlos und mitreißend, dass man ein Herz aus Stein haben muss, um sie zurückzuweisen. Sie ist darin eine andere Tatjana, die als junges, kraftvolles Mädchen ihren Onegin nicht bekommt.

Er flüchtet ins Theater, auch in Gedanken.

Sogar, als er entmündigt und festgesetzt wird, ist nicht ein Mensch sein Fluchtpunkt, sondern seine Traumwelt.

Im Königlichen Hoftheater sah er einst „Schwanensee“, mit der bildhübschen, entzückenden Odette als zur Schwänin verzauberten Prinzessin.

Er durchlebt diese Aufführung noch einmal, wir mit ihm.

Der Corps der Schwäne – sechzehn liebliche junge Damen, darunter vier Mädchen der Ballettschule vom Hamburg Ballett – illustriert das mysteriöse Reich des bösen Zauberers Rotbart.

Voller Harmonie und Würde ertragen die weißen Schönheiten ihr Schicksal, formieren sich synchron zu Reihen und Bögen, vollführen kleine Ronds de jambe en l’air sautés.

Patricia Friza und Yun-Su Park als Große Schwäne in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Odette darf dann diese Bewegungen vergrößern, verherrlichen. Ihre Poesie beim Tanzen ist schier unbeschreiblich. Immer wieder reißt diese Figur in der Originalchoreografie von Lew Iwanow in einen Strudel aus Sentimentalität, Nachsicht, Melancholie, Güte. Ballett macht Menschen besser. Ich bin fest davon überzeugt.

Xue Lin ist eine Odette wie aus einer filigranen Spitzenarbeit. Surreal-lyrisch posiert sie, geschmeidig erzählt ihr Körper von der Entführung, der Verwandlung, der Hoffnung auf Erlösung.

Auch der männlich-melancholische Siegfried, ein Seelenverwandter des Königs, entzückt diesen. Dario Franconi tanzt Siegfried mit köstlich nostalgisch-geradliniger Anmutung.

Die Kleinen Schwäne – Mayo Arii, Florencia Chinellato, Giorgia Giani, Mengting You – sind voller Schwung, Grazie und teilen sich ihre Schritte sorgsam ein. Ihre Synchronizität in den Beinen, Füßen und auch bei den Kopfbewegungen begeistert!

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Die Großen Schwäne – Patricia Friza und Yun-Su Park – sind dagegen weniger spiegelbildlich als vielmehr individuell tanzend, mal was anderes.

Aber erst die Rahmenhandlung, die John Neumeier ersann, verleiht dieser „Schwanensee“-Tanzpartitur ihre besondere Würze.

Der König schaut nämlich nicht nur zu, er reagiert auch.

Erst bleibt er links am Bühnenrand in seinem thronartigen Theatersessel sitzen. Leidet mit, hofft mit. Dann steht er auf – und tanzt mit!

Er übernimmt Odette im Pas de deux – und diese Darbietung von Alexandr Trusch und Xue Lin gehört zum Feinsten, was ich je als weißen „Schwanensee“-Akt gesehen habe.

Sie gibt sich ganz hin, ihrer Hoffnung wie diesem Mann, und er erfüllt ihre Erwartungen beim Tanz, hält sie sicher, bringt sie in Position, schwelgt mit ihr gemeinsam zu der Musik von Peter I. Tschaikowsky, die vermutlich jede auch kommende Generation zum Träumen bringen wird.

Das hier ist der erste Pas de deux vom Mann im Schatten und dem König, der ihn halluziniert: David Rodriguez mit Alexandr Trusch in bewegender Aktion. Foto: Kiran West

Simon Hewett dirigiert das Stück aber auch, als sei es ganz frisch und eben erst für dieses Ballett komponiert worden. Die Bläser – die sonst in dieser Partitur nicht selten einen Quäkton entwickeln – hat er ebenso unter motivierender Kontrolle wie die Streicher und den Rest des Ensembles. Konradin Seitzer – die erste Violine – versteht es zudem, mit fein pointiertem Legato ganz die Feinheit des Schwanengesangs wiederzugeben.

Die Pas de deux des Königs aber sind so mitreißend – ob im ersten oder im zweiten Teil – dass die Musik nicht mehr die erste Geige spielt – das ist das Los der Musik beim Ballett, sie ist das Standbein, aber eben nicht das Spielbein. Umso dankbarer sind wir für vollendete musikalische Interpretation, die zudem die Tänzer unterstützt!

Im weißen Akt tanzt Alexandr Trusch als König mit der von ihm angeheuerten Primaballerina Odette alias Xue Lin.

Teils ist es ein Pas de trois mit Dario Franconi, teils ein reiner Pas de deux, teils ein Szenario mit Corps.

Wenn der König dann im Gewirr der Schwäne seine Partnerin verlor und sucht, ist er ganz in seinem Element.

Die Tänzerinnen und Tänzer dienen ihm mit ihrer Kunst, und er selbst wäre doch nur zu gerne einer von ihnen. Ein Künstler!

Madoka Sugai und Alexandr Trusch als Natalia und König, einmal gemeinsam träumend – in „Illusionen – wie Schwanensee“. Foto: Kiran West

War auch Ludwig mit all seinen zeitlos edlen Schloss-Neubauten und ihrer prunkvollen Ausstattung, aber auch mit seiner ästhetischen Lebenskonzeption nicht sowieso eher ein Künstler als irgendetwas sonst?

Ein Lebenskünstler, ein Bohemien, wäre er zudem auch gern.

In seinen Träumen, auf der Bühne – da darf er es sein. Da tanzt er mit der Schwanenprinzessin, als wäre sie sein zweites Ich.

Sie ist seine heimliche Liebe. Sein heimliches Double. Sein Spiegelbild, wenn er nach innen sieht und sich entdecken will.

Natalia bemerkt das. Sie lässt sich davon nicht entmutigen. Sie ahmt den Schwan einfach nach und besorgt sich für den anstehenden Maskenball – zu welchem der König als Schwanenritter kommt – ein Schwanenfederntutu.

Süß sieht sie darin aus. Erhaben. Und so majestätisch!

Wenn Madoka Sugai als Natalia mit einem Spagatsprung die Bühne entert, dann ist sie wahrhaft eine Königin! Welche Grandezza!

Madoka Sugai und Alexandr Trusch in „Illusionen – wie Schwanensee“: Grandezza pur! Foto: Kiran West

Ihr Outfit ist weiß, aus großen Straußenfedern gefertigt, und es hat große schwarze florale Ornamente mit roten, funkelnden Steinen. Diese korrespondieren mit dem rot-schwarzen Schmuck, den Natalia trägt.

Die Ausstattung von Jürgen Rose ist ohnehin ein Nonplusultra – und seit der Uraufführung 1976 unverändert.

Sugais Natalia aber ist kein kleines Mädchen, das sich als Schwanenprinzessin verkleidet. Sie ist eine starke Frau, die anzulocken weiß!

Sie will herrschen. Sie will auch den König beherrschen. Die Natalia von Madoka Sugai ist keine zarte, passive Teenagerin. Sie ist stark und sie will siegen. Auch über die dunkle Seite des Königs.

Das schafft sie nicht. Der König lässt sie nicht an sich heran. Er tanzt zwar mit ihr, er scherzt mit ihr, er zollt ihr Bewunderung. Er lässt sich vom Kostüm hinreißen, honoriert ihr Einfühlungsvermögen. Aber er liebt sie nicht und wird es niemals tun.

Der König hat eine ganz andere Beziehung, die mit Begehren zu tun hat.

Alexandr Trusch und David Rodriguez – ergreifende Pas de deux des Manns im Schatten mit dem König in „illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Er tanzt – halb wahnsinnig vor Angst um sein Leben am Hofe – mit einem Gespenst, einer Ausgeburt seiner eigenen Fantasie.

Dieser „Mann im Schatten“ wird das zweite Ich des Königs. Es tritt an die Stelle des Schwans, es war wohl schon lange vorher da. Es ist die verrückte Macht in des Königs Kopf, der er unterliegt.

David Rodriguez, der junge vielseitige Ensembletänzer aus Miami, der mir erstmals letztes Jahr beim Training vor einer Ballett-Werkstatt in Hamburg auffiel und der seither Soloparts in der „Matthäus-Passion“ und in „Don Quixote“ bravourös meisterte, ist hier der neue Mann im Schatten. Was für eine tolle Besetzung!

Zuerst ist er zurückhaltend, neutral im Ausdruck, er ist einfach nur da.

Schon das erschreckt den König ja völlig!

Wenn sie miteinander tanzen, so ist das eine langsame Annäherung, die sich von Szene zu Szene entwickelt und an Eigendynamik zulegt.

Alexandr Trusch und David Rodriguez am Ende von „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier: perfekte Linien, Tragik vom Feinsten. Foto: Kiran West

Als Zauberer Rotbart sowie als schwarzer Clown beim Maskenball hat der Mann im Schatten zwei weitere Rollen, er schlüpft wie ein Teufel in die dubios-makaberen, bösartigen Kreaturen, deren Parts ihm passen wie maßgeschneiderte Handschuhe.

Vor allem als schwarzer Clown, der seinen großen Auftritt als Schmetterlingsjäger hat, zeigt Rodriguez, was für ein Mephistopheles er ist!

Silvia Azzoni tanzt den fröhlich entwischenden Schmetterling mit vollendeter Leichtigkeit, sie scheint aus einem Schäferspiel ins Ballett geschwebt.

Rodriguez aber packt sie mit Herzenslust und hebt sie, als sei sie leicht wie eine Feder… und dabei spielt er den deliziösen Bösewicht so glaubhaft!

Man ist versucht, John Neumeier um ein „Urfaust“-Ballett zu bitten, nur um Rodriguez und sein diabolisches Flair weiterhin zu genießen.

Seit Max Midinet – der zu Neumeiers Antrittstruppe 1973 gehörte – hat das Ballett in Hamburg nach so einem Ballerino gesucht, scheint mir. Jedenfalls wäre Rodriguez eine fantastische Carabosse, die böse Fee in John Neumeiers Jeans-Version von „Dornröschen“, und weil Trusch und Sugai sehr schön für die Hauptrollen passen würden, hofft man, dass dieses bezaubernde Stück in Zukunft mal wieder auf den Spielplan rutscht.

Die Paartänze von Alexandr Trusch und David Rodriguez in „Illusionen – wie Schwanensee“ haben außerdem das Zeug, legendär zu werden. Lasziv und elegant, ruhig und souverän der Eine (Rodriguez): erhaben, entrückt, nervös, kämpferisch – und schließlich unterliegend – der Andere (Trusch). Was für ein Team, um den Untergang eines sensiblen Außenseiters zu illustrieren!

Der bald 22-jährige Rodriguez empfiehlt sich damit nicht nur für weitere Rollen, sondern auch für den Förderpreis der Hamburgischen Staatsoper, den Dr. Wilhelm Oberdörffer Preis 2019.

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In diesem Jahr (und zwar genau heute abend) erhält diesen Preis die bereits gebührend gelobte Jungstarballerina Madoka Sugai, die seit 2012 – seit sie den Prix de Lausanne gewann – das tänzerische Universum von John Neumeier in Hamburg bereichert.

Ihre erste Hauptrolle, bevor sie die Kitri im „Don Quixote“ wurde, tanzte sie mit „A Cinderella Story“ 2017. Ein großer Abend, an dem sich alles, was man bereits ahnte hinsichtlich ihrer Talente, deutlich zeigte (siehe hier: http://ballett-journal.de/hamburg-ballett-a-cinderella-story-2017/).

Als Prinzessin Natalia hat sie ihren Facettenreichtum erneut bewiesen und manifestiert, in den temperamentvollen Bereichen ebenso wie in den gefühlvollen.

Der König – Alexandr Trusch – und Prinzessin Natalia – Madoka Sugai – auf dem Richtfest in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Dass sie beim Schlussapplaus einen roten Blutfleck am rechten Knie hatte, zeigt, welche Tapferkeit dieser Beruf, wenn man darin stets sein Bestes und Allerbestes gibt, verlangt. Ein Extra-Bravo dafür, dass man Madoka Sugai die Verletzung und den Schmerz überhaupt nicht anmerkte!

Aber Tänzer wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie eine Profession ergreifen, die nahezu jede Zelle ihres Körpers umfasst und ihnen diesbezüglich immer wieder alles abverlangt. Fluch und Segen liegen selbstverständlich nah beieinander. Damit können die Profis umgehen – Achtung zollt man ihnen bitte umso mehr dafür.

John Neumeier über seine jüngste Muse mit Superstarpotenzial:

Madoka Sugai ist eine junge, außergewöhnliche Tänzerin des Hamburg Ballett. Im vergangenen Dezember tanzte sie – wenige Monate nach ihrer Beförderung zur Solistin des Hamburg Ballett – als Premierenbesetzung die sehr anspruchsvolle Kitri in Rudolf Nurejews Don Quixote. Es war offensichtlich, dass sie im Hinblick auf technische Virtuosität Herausragendes leisten kann. Dass sie als Tänzerin zusätzlich über eine einzigartige Ausstrahlung und Musikalität verfügt, führe ich nicht zuletzt auf ihre Zeit beim Bundesjugendballett zurück. Hier konnte sie die kreative und menschliche Seite ihres Charakters weiterentwickeln – und damit als Künstlerin in einer Weise wachsen, von der sie bis heute profitiert.“

Mit 8000 Euro ist der Preis dotiert, er ist also keine Kleinigkeit, zumal Preisgelder nicht versteuert werden.

Herzlichen Glückwunsch, Madoka! Sehr verdient! Bitte weiter so!

Aber auch die anderen Tänzer, die in der Erst- und Alternativ-Besetzung von „Illusionen – wie Schwanensee“ auffallen und als herausragend in diesem Text genannt wurden, waren schon Preisträger des Dr. Wilhelm Oberdörffer Preises:

Anna Laudere erhielt ihn 2008, Alexandr Trusch 2010, Emilie Mazon 2013 und Xue Lin 2014.

Und Jacopo Bellussi, der hier den Grafen Alexander – der ein anderer Lenski ist, ein glücklicherer Lenski – tanzt, wurde 2016 mit dem Premio Danza & Danza zum „Besten italienischen Tänzer im Ausland“ gekürt. Er ist ein sehr sinnlicher Alexander, hat das Zeug zum Lebemann (eher als zum Militär) und zeigt weniger die korrekte Seite dieser Figur als vielmehr deren temperamentvolle.

Jacopo Bellussi als Graf Alexander hält Emilie Mazon als Prinzessin Claire in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier: temperamentvoll wie im Flamenco interpretiert. Foto: Kiran West

Emilie Mazon tanzt Prinzessin Claire, die Verlobte von Graf Alexander in dieser Besetzung, und sie verleiht der Rolle eine eigenwillig-mitreißende Nuance.

Temperamentvoll wie eine Spanierin und fast dominant nimmt sie es mit ihrem Partner auf, die Pas de deux des höchsten Glücks – der glücklichen Verliebtheit – zu meistern.

Ein wenig erinnert der Tanz der beiden an ein spanisches Flamencopärchen, so machohaft-standfest agiert Bellussi, so passioniert seine Partnerin Mazon.

Das ist überaus sehenswert und zudem eine absolute Novität, werden diese beiden Rollen – Alexander und Claire – traditionellerweise doch eher mit stark lyrischem Akzent dargeboten.

Auch jenes Paar, das dem König halb entgegen steht, halb zu ihm gehört, verlangt besonderes Augenmerk: Dario Franconi als Prinz Leopold (jetzt nicht als Bühnen-Siegfried, sondern als echter Adliger) und Carolina Agüero als Königinmutter flankieren das Richtfest und den Maskenball als Vertreter der herkömmlichen, konventionellen Monarchie.

Da gibt es auf dem Richtfest einen Pas de deux des Königs mit seiner Mutter, der vor gegenseitiger Ehrerbietung nur so strotzt. Agüero versteht es, die Repräsentanz ihrer Figur mit deren zweifelnden Gedanken zu verflechten. Schließlich ist die Frau Mama ihrem königlichen Sohn gegenüber nicht blind.

Wenn sie dann mit Leopold tanzt, ist dennoch eine ganz andere, viel einfachere Ebene der Verständigung möglich. Man merkt es sofort.

Carolina Agüero und Alexandr Trusch als Königinmutter und König in „Illusionen – wie Schwanensee“: eine diffizile Beziehung… wunderschön getanzt! Foto: Kiran West

Und man freut sich außerdem, das private Paar Agüero-Franconi mal miteinander zu sehen, was aufgrund der unterschiedlichen Rollenprofile der beiden sehr selten ist.

Beim Maskenball gibt es dann einen „Salon-Csárdás“ voller Temperament, der die Folklorekunst ebenso emanzipiert wie der „Bolero“ und der „Khorovod“ auf diesem Ball.

Die Interaktionen der Figuren hier, vor allem des schwarzen Clowns, sogar während des Grand pas de deux – der fulminant von Alexandr Trusch und Madoka Sugai geleistet wird – reißen außerdem völlig mit.

Aber John Neumeier ändert und erweitert auch die Interpretationsmöglichkeiten seiner Figuren.

So ist jeder König ein anderer.

Die erhoffte Erlösung gibt es jedoch nie – nicht mal im Theater im Theater.

Weder wird die Schwanenprinzessin erlöst noch ihr Gefolge.

Und weder der König noch Natalia finden einen Ausweg aus der emotionalen Beklemmung.

Natalia will Trost spenden, aber der König kommt über bildschöne Hebungen nicht mit ihr hinaus… Madoka Sugai und Alexandr Trusch in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Da helfen auch die Aufmunterungen durch die entfesselten Kräfte der Handwerker, die die Schlösser bauen, nicht. Obwohl sie – Aleix Martínez mit einer Brillanz in den Sprüngen und Posen voran, die ihresgleichen sucht – alles tun, um die Utopien des Königs wahr werden zu lassen.

Im ersten Akt, beim Richtfest, hat der König einen inszenierten Aussetzer, indem er hinfällt. Er liegt dann für einige Sekunden wie aufgebahrt da, auf dem Rücken, reglos – und seine Höflinge scharen sich um ihn, Alexander allen voran, um ihm aufzuhelfen.

Dann läuft ein kleines Mädchen auf den König zu und lässt sich mit einem Bauchklatscher vor ihm hinfallen, damit der König ihm aufhilft. Die kindliche spielerische Rechnung, offenbar angeregt vom Fall des Königs, geht auf: Der König hilft dem Kind freundlich auf, und dieses bedankt sich mit einem formvollendeten Hofknicks.

Solche Details sind immer wieder schön anzusehen, sie bereichern das Libretto, die dramatische Handlung und auch die Virtuosität der Choreografie.

Und sie haben Symbolwert: Tatsächlich geht es hier ja um den Fall, den Sturz des Märchenkönigs, und dass ein Kind gar nicht versteht, von welcher Tragik das ist, sich aber trotzdem inspirieren lässt, kann man auf das gesamte Ballett übertragen.

Es eignet sich trotz seiner anspruchsvollen Verquickung der Handlungsfäden auch für kleine Kinder.

Die Kinder der Ballettschule haben ohnehin einen Spaßtag, wenn dieses Stück auf dem Programm steht. Denn beim Richtfest sind sie, mit Blumenkränzen geschmückt, stets dabei und ein wichtiger Bestandteil der lebendigen Szenerie.

Madoka Sugai und Alexandr Trusch in der Schlusspose des Grand pas de deux in „Illusionen – wie Schwanensee“, den sie mit so viel Grandezza tanzen, dass es einem ganz warm ums Herz wird. Beide Stars wurden übrigens bei John Neumeier ausgebildet: Trusch auf der Schule, Sugai im Bundesjugendballett. Foto: Kiran West

Was schon Appetit macht auf die diesjährige Vorstellung der „Ersten Schritte“ am 26. April 2018, für die John Neumeier ein Beethoven-Ballett für alle Jahrgangsstufen seiner Schule neu kreiert hat. Somit sind die Kinder den Erwachsenen einen Schritt und zwei Monate voraus, denn erst am 24. Juni 2018 wird Neumeiers großes „Beethoven-Projekt“ mit dem Hamburg Ballett uraufgeführt.

Kennern des Hamburg Balletts macht es unendlich viel Freude zu sehen, wie der Kosmos dieser Truppe seit Jahren und Jahrzehnten kontinuierlich wächst und wächst und wächst…
Gisela Sonnenburg

Zur Erstbesetzung von „Illusionen – wie Schwanensee“ in dieser Saison hier bitte klicken!

www.hamburgballett.de

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