Mehr als vierzig Tänze „Erste Schritte“ 2018 feiert 40 Jahre Ballettschule vom Hamburg Ballett, so mit einer großen Uraufführung ihres Gründers John Neumeier

John Neumeier erhält seine Lieblingsblumen – cremeweiß, elegant und opulent – nach der Vorstellung „Erste Schritte“ in der Jubiläums-Ausgabe von 2018. Herzlichen Glückwunsch zum 40.! Foto: Kiran West

Alle zwei Jahre gibt es in der Hamburgischen Staatsoper ein für seinen Charme beliebtes Programm, das in die Zukunft sieht: Es präsentiert die Schülerinnen und Schüler, die Studentinnen und Studenten der Ballettschule vom Hamburg Ballett – John Neumeier. „Erste Schritte“ heißt dieser Abend stets, weil sich der ballettöse Nachwuchs somit meistens erstmals auf eine große Bühne traut. In diesem Jahr, 2018, kann die renommierte Institution der Schule – weltweit als eine der besten geltend – ein Jubiläum feiern: vor vierzig Jahren gründete John Neumeier, damals schon Ballettdirektor in Hamburg, diese seine eigene Künstlerschmiede. Der Weg von hier bis in die Company des Hamburg Ballett ist der ideale. Er kann zwar nicht allen zuteil werden, die hier Unterricht nehmen, aber das Hamburg Ballett hat mit der spezifisch ausgebildeten, international akquirierten Jugend ein unerschöpfliches Reservoir an Nachschub. Zu dessen Jubiläum schuf der große Meister Neumeier nun ein Beethoven-Ballett für seine Jüngsten, das die Gesamtheit der aktuell dort Lernenden umfasst. Als Vorhut für die im Juni kommende Uraufführung „Beethoven-Projekt“ beim Hamburg Ballett lässt sich das Jugend-Stück verspielt und frohsinnig an, ist den Tugenden des Balletts ebenso gewidmet wie den Fähigkeiten der einzelnen Klassenstufen.

„Rhythmischer Spaß“ von Ann Drower bei den „Ersten Schritten“ 2018 in der Hamburgischen Staatsoper. Top! Foto: Kiran West

Abgestimmt auf die Befähigungen der Kinder ist auch das erste Stück des Abends: „Rhythmischer Spaß“ von Ann Drower beweist sowohl die Vielseitigkeit der Ballettkids als auch die der bewährten Schulchoreografin.

Zunächst geht es hier nämlich noch nicht um Tanz, sondern um eine andere Form der musischen Körperbeherrschung.

Die Vorschulklassen A, B und C sitzen dazu im Schneidersitz am Boden, aufrecht und sichtlich klassisch geprägt, aber nicht mit „Ballettarmen“, sondern mit Musik in den Händen. Die vorderen und die hinteren Reihen, in knallbunte Trikots gewandet, halten je ein Schlagholz und einen kleinen Schlegel in der Hand.

Damit erzeugen sie ohne weitere Begleitung ihren kollektiven Rhythmus. Nicht etwa durcheinander, sondern so akkurat wie Orchestermusiker.

Die mittleren Reihen, in lachsfarbenen Trikots, benutzen ihre Hände als Instrumente: Sie klatschen den Rhythmus, wenn die anderen schweigen.

Es ist erstaunlich, wie takt- und rhythmussicher diese Jüngsten der Ballettschule schon sind. Und: Es scheint ihnen unbändigen Spaß zu machen, im Gleichklang und mitunter auch gekonnt synkopisch zu agieren.

Nach und nach entwickelt sich ein Wechselspiel aus Hölzchenklang und Händeklatschen, auch tänzerische Übungen werden erst am Boden, dann im Stehen und Laufen vollzogen.

Das Ganze hat soviel Esprit wie eine bunte Tüte Konfetti, der man die Freiheit schenkt, sich in alle Lüfte zu zerstreuen!

John Neumeier hatte die Stücke des Abends vorab in seinem kurzen, aber herzlichen Grußwort ans Publikum angekündigt, im seriös-schicken dunkelgrauen Anzug zum weißen, offen stehenden Hemd.

Vor allem bunt sei der Eindruck, den dieses Stück für Kinder mache – und da hat er nunmal einfach Recht. Als Interpretation einer gelungenen Kindheit besteht Ann Drowers Kreation somit allemal.

Aber auch das zweite Stück hat es in sich, ist alles andere als banal, obwohl und weil es für Lernende geschaffen ist.

Das Stück „To inspire… “ von Stacey Denham reißt mit: Jugendliche probieren sich aus. So zu sehen in den „Ersten Schritten“ 2018 von der Schule vom Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Es stammt von Stacey Denham, der Lehrerin für die moderne Horton-Technik in der Ballettschule vom Hamburg Ballett, und sie überrascht regelmäßig mit frischen Ideen für Jugendliche, vor allem für Teenager.

Von John Neumeier stammt das titelspendende Motto dazu: „To inspire, challenge and change a troubled world with our strength, humanity and commitment.“

Ich darf mal übersetzen: „Für die Inspiration, Herausforderung und Veränderung einer schwierigen Welt durch unsere Kraft, Menschlichkeit und Engagement.“

Worte spielen auch während des Tanzes hier eine Rolle.

„Dancers?“, Tänzer? – so kommt Denhams strenge Lehrmeisterinnenstimme vom Tonband. Und zwar mehrfach, mit verschiedenen Untertönen.

Schließlich die Frage: „What kind of piece do you want to create?“ Was für ein Stück wollt ihr kreieren? Oder ist „peace“, Friede, gemeint?

Beim Tanzen im Sinne des Balletts ist beides im Grunde dasselbe. Denn jedes Stück Bühnentanz hier versteht sich auch als ein Stück Kommunikation. Und deren Absicht ist stets eine vermittelnde!

Hier geht es um die „uniqueness“, die Einzigartigkeit der jungen Tanzenden.

Und sie erzählen, auf deutsch, englisch und vielen weiteren Sprachen, wie sie zum Tanzen kamen. Zum Beispiel, weil die Cousine tanzte und man bei einer ihrer Aufführungen zugegen war – und daraufhin auch begann zu tanzen, ohne jemals damit aufzuhören.

Auch das oben zitierte Motto von John Neumeier – das als ein ergänzendes Bonmot zu Bertolt Brecht („Ändere die Welt, sie braucht es!“) zu verstehen ist – wird von einem Schüler genannt.

„Es berührt meine Seele“, schließt er.

Auch die Jungs kommen tänzerisch zu Wort (sowie auch durchs Mikro): in „To inspire…“ von Stacey Denham mit der Ballettschule vom Hamburg Ballett – John Neumeier bei den „Ersten Schritten“ 2018. Foto: Kiran West

Das Solo eines Mädchens mit Stuhl, das im blitzschnellen Platznehmen, Aufspringen, Tanzen, Platznehmen besteht, und die Rufe nach „Competition!“ („Wettbewerb“ statt Leistungsdruck) sind weitere Höhepunkte hier.

Die lyrisch-jazzige und schließlich gospelige Musik (John Legend) konterkariert das Gesagte: „It don’t have to change“ ist ironisch gemeint, und das so deutlich, dass es eine swingende, ja drängende Note dadurch erhält.

Hisano Kobayashi und Bernd Dietz am Klavier und Percussion seien hierfür bedankt.

Ebenso die beiden Theaterklassen, also die beiden letzten Profi-Ausbildungsjahrgänge der Schule, deren Arbeit man soeben sah: Es handelt sich bei ihnen um beinahe fertig ausgebildete Tänzer.

Altersmäßig geht es dann einige Jahre zurück, musikalisch-choreografisch sogar um rund 150 Jahre: der Pas de trois aus „Der Nussknacker“ von Marius Petipa besticht mit Akkuratesse und Abwechslungsreichtum.

Caspar Sasse, jung und hoch begabt, tanzt hierin mit Angelina Jung (der Tochter des Hamburger Primoballerino Carsten Jung) und Liv Kukla, also mit zwei entzückenden, ihn gleichermaßen vereinnahmenden wie loslassenden jungen Damen.

Der Pas de trois aus dem „Nussknacker“ in der Choreografie von Marius Petipa – lyrisch und lieblich von der Ballettschule des Hamburg Ballett getanzt. Foto: Kiran West

In weißen Tutus zum schwarzem Halsband wirken sie, als seien sie soeben dem Interieur eines Ballettsaal-Bildes von Edgar Degas entsprungen. Dass sie Balance und Grazie haben, mit Präzision springen und sich galant zu biegen wissen, erhöht das Vergnügen, ihnen zuzusehen.

Der junge Mann, im Outfit eines Armand („Die Kameliendame“) mit schwarzer Strumpfhose und schwarzer Weste überm weißen Hemd bereits als Liebhaber einher tanzend, weiß diese Mädchen zu halten und zu führen, vor allem aber nimmt er ihr zartes Trippeln und Referieren mit vollendeter Grazie und Höflichkeit entgegen.

Diese drei praktizieren, was John Neumeier zu Beginn des Abends angesagt hatte: Es geht nicht nur um Technik, sondern auch um das Miteinander beim Tanzen, das man unbedingt auf dieser Schule lernen soll.

Dass Caspar Sasse auch ein Dutzend tadelloser Pas de quatre in einer Diagonale mit Vorwärtsbewegung springt – ähnlich wie Albrecht im zweiten Akt von „Giselle“ – bezaubert als solistische Leistung. Zumal dieses Bravourstück szenisch als Bewegung zwischen den beiden hübschen Damen eingebunden ist.

Tolle Stimmung, tolle Sprünge: „Erste Schritte“ begeistert mit Ausgelassenheit – wie hier in „On the Town“ – und auch mit edelmütiger Melancholie (wie in der „Bach Suite 2“). Foto: Kiran West

Mittlerweile kocht auch die Stimmung im Publikum, von Beginn an gibt es hier großzügig Applaus und Gejohle, das rasch aufbrandet und nur zu gern der Konzentration weicht, wenn es auf der Bühne mit neuen Vergnügungen weiter geht.

Der Elan der Jugend ist aber auch etwas, das sich gerade im Ballett – mit seiner schweißtreibenden Eleganz – besonders hübsch formuliert.

Dennoch ist auch Raum für Ernstes.

Die „Bach Suite 2“ wurde von John Neumeier 1980 fürs Bayerische Staatsballett in München kreiert, für jene Truppe, die John Cranko vom Stuttgarter Ballett einst zeitweise im zusätzlichen Direktorat hatte.

Die „Bach Suite 2“ von John Neumeier hat sinnliche Züge, aber auch solche der Sehnsucht. In „Erste Schritte“ wird nämlich auch die erste Liebe getanzt… Foto: Kiran West

Es gibt ja Leute, die zeitweise davon träumten, John Neumeier würde – nach diesem Vorbild – zusätzlich zur Hamburger Truppe auch das Ballett in Berlin übernehmen. Aber diese Zeiten sind längst vergangen, zu sehr hat sich die Kulturpolitik in Berlin darauf versteift, ohne Sachkenntnis etwas glanzvolles Eigenes haben zu wollen.

Chris Dercon wurde als ungeeigneter Theaterboss der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz soeben wieder abgeschafft – wie Sasha Waltz als künftige Berliner Ballettintendantin ist auch er eine Blüte der Ära von Tim Renner als maßgeblichem Kulturfunktionär in Berlin gewesen. Ob die Waltz nun ähnlich wie Dercon abgeschossen wird, bleibt abzuwarten. Immerhin kann es als so gut wie ausgeschlossen gelten, dass ihre eigenen Arbeiten langfristig Abend für Abend ganze Opernhäuser in Berlin füllen werden. Die anderen Choreografen, die getanzt werden, haben da schon bessere Karten. Das Berliner Publikum steckt nun ab der Spielzeit 2019/20 in einer Zwickmühle: Besucht es fleißig die weiteren, auch klassisch ausgerichteten Tanz- und Ballettabende vom Staatsballett Berlin, manifestiert es Waltz als dessen Chefin. Es müsste aber auf eine Menge Genuss verzichten, um – ähnlich wie bei Dercon – einen Rücktritt der Intendanz durch mangelhafte Auslastung zu erzwingen.

Solche Gedanken muss man sich in Hamburg nicht machen.

Hier sind Ballettleitung und Publikum sich einig, und die hohe Qualität, die das Hamburg Ballett regelmäßig abliefert, ist auch in seiner exzellenten Schule mit begründet.

„Erste Schritte“ – und doch schon so perfekt! Eine Stimmung wie in einer Aufführung der Profis, vielfältig schillernd, sehr vereinnahmend… So in der „Bach Suite 2“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Deren Sorgfalt und Seriosität erweist sich auch anhand der „Bach Suite 2“. Zur getragenen, sakral anmutenden Musik von Johann Sebastian Bach ist ein moderner Tanz zu sehen, der viele klassische Elemente enthält und zudem das typisch Münchnerische insofern eingefangen hat, als es eine gewisse Verspieltheit, eine barocke Sinnenfreude ohne Anzüglichkeit enthält.

Dennoch ist hier alles von edelmütiger Melancholie getragen.

Ganz in Blau sind Licht, Bühnenhorizont und Kostüme. Man mag sich ein wenig an Neumeiers „Vierte Sinfonie von Gustav Mahler“ erinnern. Aber der Duktus ist hier ein anderer, nicht schwelgerisch-romantisch, sondern so geradlinig und dabei in sich verflochten wie die Partituren von Bach.

Pas de deux und Soli, Gruppenszenen und Synchronbilder wechseln einander ab, illustrieren eine Welt, in der Menschen sich umeinander kümmern und miteinander leben – statt aneinander vorbei.

Ich lasse mich mal hinreißen zu behaupten, dass dieses die Neumeier’sche Interpretion der sprichwörtlichen Münchner Herzlichkeit ist.

Die „Bach Suite 2“ besticht mit Paartanz, mit Soli, aber auch mit Gruppenszenen, die eine Welt für sich zeigen. „Erste Schritte“ von der Ballettschule vom Hamburg Ballett machten mal wieder glücklich! Foto: Kiran West

Airi Suzuki und Alessandro Frola, Madeleine Skippen, Roberto Pérez, Jimin Kwan, Diogo Rodrigues, Anna Torrequebrada und Lucas Praetorius allen voran!

Als dann ein Querflötensolo erklingt, das Neumeier auch in „Tod in Venedig“ benutzt, und zwar zur Illustration des Seelenlebens des Flöte spielenden Friedrich II., ist rasch ein zusätzlicher Bezug innerhalb des Neumeier’schen Gesamtwerks geschaffen.

In der „Bach Suite 2“ aber tanzt ein Mädchen ein spritziges Solo, angefüllt mit schnellen Sprüngen, dazu – und pariert somit die vielfachen Tours en l’air, die bereits von Jungensseite kamen.

Es ist schon hinreißend zu sehen, wie viel in Sachen Schönheit und Selbstbeherrschung schon Jugendliche leisten können, wenn sie ihr Leben auf eine Sache konzentrieren – und diese Sache heißt Ballett.

Was man so oft als Makel am professionellen Balletttanzen bezeichnen muss – weil es zwecks internationaler Wettbewerbsbefähigung den tanzenden Menschen mit totalitärem Zwang ganz für sich vereinnahmt – zeigt hier seine fruchtbaren Seiten.

Das Mädchensolo, das auch etwas von einer barocken Putte aus dem Englischen Garten hat, spitzt hier die technischen und expressiven Möglichkeiten zu, steigert sich und bildet schließlich den rasanten Höhepunkt des Stücks. Rasch kommt das Ensemble noch einmal dazu – voilà: Die Münchner-Kindl-Laune ist nachhaltig kreiert!

Paare, die die Welt erkunden… so zu sehen in „Erste Schritte“ in der Ausgabe von 2018 bei der Ballettschule des Hamburg Ballett – John Neumeier. Foto: Kiran West

Kein Wunder, dass der Applaus tost, als handle es sich um eine Premiere, was es in gewisser Weise auch ist, denn diese jungen Tänzer sind mit diesem Stück jetzt erstmals aufgetreten.

Kontrastreich, wie der Tenor des Programms ist, folgt nun noch einmal eine Prise reine Klassik. Mit „Paquita“ von Marius Petipa – dem somit auch zum 200. Geburtstag nachträglich gratuliert wird – haben Mao Hashimoto, Sengwon Lee und Francesco Cortese eine knifflige Pas-de-trois-Partie einstudiert, die mit den knallroten Tutus der Damen eine starke Lebenslust nicht nur vortäuscht, sondern wirklich vormacht.

Francesco Cortese muss insofern unbedingt extra genannt werden, als seine Cabrioles mit superber federnder Leichtigkeit sowie mit einer sonst bei Jungens sehr seltenen „hohen“ Beinfertigkeit gesprungen sind. Auch seine Balancen lassen nichts zu wünschen übrig.

Hui, Paris wird sich warm anziehen müssen bei solchem Nachwuchs!

Und dann fetzt es vor der Pause nochmal so richtig: Mit „On the Town“ kreierte John Neumeier als Musical Comedy 1991 ein Ballett zur Musik von Leonard Bernstein, das sowohl als Revue-Element als auch als symbolträchtiges Stück gesehen werden kann.

Bernstein würde dieses Jahr hundert werden – der Tanz für ihn ist ein Jubiläumsgruß von der Jubiläumsshow.

In „Erste Schritte“ 2018 gibt es eine Kuss-Szene in „On the Town“ mit authentisch jugendlicher Dramatik. Foto: Kiran West

Das Stück spielt im Matrosenmilieu – die Jungs haben Landgang, es ist sonntags, und die in süßen individuellen Sommerkleidern fein gemachten jungen Ladies geben sich mit den Seeleuten ein Stelldichein.

Thomas Krähenbühl, Chiara Ruaro, Lucas Praetorius und die beiden Theaterklassen legen hier eine derart flotte Sohle aufs Parkett, dass einem ganz schwindlig werden kann!

Ein Pas de deux voll süßer Vorahnungen von Liebe – bei dessen abschließendem Kuss das scheue Mädchen lieber erstmal wegläuft – vereinnahmt ebenso wie drei mondäne Paare in Abendgarderobe, die dem munteren Treiben auf der Hafenpromenade das Flair eines festlichen Abends verleihen.

Hot, hot, hot!

Die Jungs schieben sich mit großen Sprüngen durch die Szenerie, die Mädchen schwingen die Hüften und pirouettieren sich durchs Leben.

Das ist eine Gesellschaft at its best, sozusagen, von ihrer besten Seite: ein munterer, erotisch aufgeladener, beglückender Feiertag von tätigen, einander freundlich gesonnenen Menschen.

Diese heißen tänzerischen Flirts voller Bravour sind nicht zu vergessen!

„On the Town“ – da ist was los! Wilde Matrosen, süße Mädchen, festlich-fröhliche Laune und ein Hauch von Zärtlichkeit. So 2018 in „Erste Schritte“, mit diesem Neumeier-Ballett zu sehen und zu genießen. Foto: Kiran West

Die Eltern und Freunde dieser begabten jungen Leute müssen vor Stolz fast platzen. Auch ihnen sei gratuliert, vor allem aber den Tänzerinnen und Tänzern sowie ihren Ausbildern, allen voran der durch sein Werk tiefgreifend wirkende choreografische Tycoon John Neumeier.

Nach der Pause dann das Wichtigste: die Uraufführung von „Beethoven Dances – 40 Tänze für 40 Jahre“ von John Neumeier.

Es handelt sich um kein typisches Werk des choreografischen Genies, sondern um eine Spezialkreation für die Lernenden an der Ballettschule des Hamburg Ballett.

192 Schülerinnen und Schüler aus 25 Nationen treten zu musikalischen Petitessen von Ludwig van Beethoven auf. Ziel ist es dabei nicht, ein von den Tänzern zu illustrierendes Werk zu zeigen, sondern das Werk zu schaffen, um die Tänzer zu zeigen.

Auch in den „Beethoven Dances“ gibt es beschwingt-heitere Tänze, und auch hier hat die blaue Farbe auf der Bühne eine starke Sogkraft. „Erste Schritte“ bezaubern 2018 mit dieser Neuschöpfung von John Neumeier. Wunderschön! Foto: Kiran West

Neumeier sagt es so: „’Beethoven Dances‘ ist ein Projekt für unsere Schule. Ich empfand es als reizvoll, mit 40 Beethoven-Tänzen das 40-jährige Jubiläum zu begehen. Besonders die Kürze der Tänze hat mich fasziniert: Es ist eine Herausforderung, innerhalb von zum Teil nur 40 Sekunden die spezifische Stimmung mit einer Gruppe von Schülern einzufangen! Anders als in sinfonischen Balletten ist nicht der emotionale Inhalt einer bestehenden Komposition der Ausgangspunkt der Choreografie. Vielmehr sehe ich die 40 frei kombinierten Tänze als Material, mit dem ich jedem einzelnen Schüler die Möglichkeit gebe, sich mit den ihm eigenen Gaben und erlernten Techniken einzubringen und die Ballettschule in einem zusammenhängenden Werk zu präsentieren.“

Auf die Musik als Vorlage kam er während seiner Recherchen für seine kommende Uraufführung „Beethoven-Projekt“ mit seiner Company.

Da entdeckte er, so Neumeier, dass Beethoven in seinen ersten Wiener Jahren – ab 1792 – viele Stücke für gesellschaftliche Anlässe, für Bälle etwa, komponierte.

Aus den Sammlungen „Zwölf Menuette“, „Zwölf Kontretänze“, „Elf Wiener Tänze“, „Sechs Menuette“ und „Zwölf deutsche Tänze“ schmiedete Neumeier 39 Stücke zusammen, die er tänzerisch wie musikalisch nahtlos ineinander übergehen lässt.

Auch jüngere Kids machen mit: „Erste Schritte“ von der Ballettschule des Hamburg Ballett 2018. Foto: Kiran West

Das ist ja ein Prinzip, das Hamburger Fans auch schon von Neumeiers Bundesjugendballett her kennen.Vorangestellt ist dieser Collage der Militär-Marsch in D-Dur, ebenfalls von Beethoven, zu dem nach und nach alle Schülerinnen und Schüler auf der Bühne aufmarschieren, laufen und tanzen.

Die Zahl der 40 Tänze ist somit auch vollzählig – insgesamt ist es fast ein mathematisches Kunststück, das John Neumeier hier als Tanz umgesetzt hat.

Zu Beginn sind verschiebbare Kulissen, auf denen vermerkt ist, dass es sich um „40 Tänze für 40 Jahre“ handelt, noch mit auf der Bühne, bis diese dann ganz der Körperkunst gehört.

Ein sanftes Orange ist das Grundlicht, die Farben der schlichten Kostüme sind dann die der Jahrgangsstufen: Weiß, Hellblau, Dunkelblau, Rosa, Dunkelrot, Schwarzweiß.

Stück für Stück steigt der Schwierigkeitsgrad des Tanzes.

Leichten Synchronschritten gesellen sich geometrische Formationen und schließlich Paartänze hinzu.

So jung und doch so inniglich mit komplizierten Hebungen und Posen dabei: Paare in „Beethoven Dances“ von John Neumeier, Höhepunkt vom Programm „Erste Schritte“ von der Ballettschule des Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Die Jungs führen die Damen – und schließlich gibt es auch Hebungen, immer raffiniertere, immer schwierigere.

Vieles hier zitiert andere Neumeier-Ballette, zum Beispiel die „Matthäus-Passion“ und ihren weit geöffneten, seitlich mit den Handflächen nach oben gehaltenen Arme.

Aber auch neckische „On the Town“-Sprünge der Damen auf dem Platz mit angezogenen Knien, an den Händen der Herren vollführt, greifen Verbindungen auf.

Erwartungsfreude und Konzentration, Geradlinigkeit und Schnelligkeit feiern das Fest des Schuljubiläums!

Mal sind es drei Paare, mal acht, die vorführen, mit welcher Grandezza die jungen Damen schon ihre Beine beherrschen. Zum Beispiel, wenn sie, auf Zehenspitzen stehend, das Spielbein vor und zurück bewegen, um es schließlich scheinbar ohne Schwung zu holen weit nach oben zu bewegen und dort zu halten.

Aber auch die Jüngsten kommen hier zu ihrem Tanzrecht.

Zünftig: Jungs und Mädchen der Ballettschule des Hamburg Ballett in den „Beethoven Dances“: „Erste Schritte“ zeigt traditionell auch solche Anklänge an Folklore. Foto: Kiran West

Hand in Hand geben sie folkloristische Grüppchen ab, auf einen Jungen kommen zwei Mädels, aber irgendwie scheint diese Formation ganz besonders Spaß zu machen.

Die Jungs tragen schwarze Shorts (also keine „unmännlichen“ Strumpfhosen) und die Mädchen rotweiß-karierte Röcke – munter und leger, aber dennoch ein bisschen feingemacht wirken sie hier.

Wenn dann fünf junge Damen die Bühne für sich haben, beginnt der Ernst des Lebens: das tänzerische Heranreifen.

Pirouetten und Sprünge, da Miteinander bis zum Davontragen der Damen durch die Herren in Mats-Ek-Manier (also in seitlichem Huckepack) lockern immer wieder feinherzig oder auch humoristisch die Strenge der eigentlichen Richtung auf.

Zwei Paare üben dann demonstrativ das Miteinander – und in Soli erkennt man dann auch kommende Neumeier-Tänzer, wie sie hervorragend auf bestimmte, jeweilige Partien passen würden.

Da ist ein Puck, ein Joseph, ein Armand – und dort ein „Lied-der-Erde“-Protagonist oder ein Kostja aus der „Möwe“.

Auch bei den Damen lassen sich bestimmte Typen erkennen. Die Eine wäre eine perfekte Aurora aus „Dornröschen“, die Andere eine entzückende Claire, Natalia oder Odette aus „Illusionen – wie Schwanensee“.

Die Rolle der Marie im „Nussknacker“ würde man hingegen am liebsten allen Mädels zugestehen – wohl wissend, dass das in der Realität nun mal absolut nicht möglich ist.

Aber auch, wie ein Ensemble entsteht, ist zu sehen: Wenn mehrere junge Menschen zueinander finden und mit strahlendem Lächeln den Gleichklang praktizieren.

Später wird Alessandro Frola ein viel beachtetes Solo haben, aber auch andere Nachwuchstalente bleiben unbedingt durch ihren Tanz im Gedächtnis haften.

Das Kollektiv, die nachwachsende Gruppe, hat dennoch die Oberhand: Ein Ballettensemble besteht zunächst mal aus einer starken Gruppe, aus der sich dann Einzelne als solistische Kräfte herauskristallisieren. Tolle Solisten und eine schwache Gruppe – das wäre niemals in einer First-Class-Troup möglich, schon gar nicht bei John Neumeier in Hamburg.

Beim Schlussapplaus nach „Erste Schritte“ 2018 in der Hamburgischen Staatsoper: Schuldirektor John Neumeier (mittig rechts) und Schulleiterin Gigi Hyatt (mittig links), beide mit Blumen, sowie ihre Mitarbeiter und all die Schützlinge! Foto: Kiran West

Ich muss an dieser Stelle sagen, dass ich leider nicht ganz bis zum Ende der Jubiläumsshow bleiben konnte, da an diesem Tag kein Spätzug mehr Hamburg und Berlin verband und ich nicht in der Lage war, ein Hotelzimmer zu buchen.

Aber die hervorragenden Fotos, die Kiran West fürs Hamburg Ballett von der Veranstaltung anfertigte, sprechen Bände:

Am Ende stehen glückliche Tanzwillige sowohl im Steppke- als auch im jungen-Erwachsenen-Alter auf der Bühne, und mit ihnen freut sich der Patron John Neumeier so, wie wir ihn kennen:

Ungekünstelt, auratisch, charmant, mit starker Menschlichkeit und herzlicher Gestik. Na, und wir sehen ihn mit seinem berühmten Lächeln, für das schon Generationen von Tänzerinnen und Tänzern schier übermenschliche Höchstleistungen erbracht haben.

Er ist nun mal so motivierend wie kein zweiter Künstler und Pädagoge, John Neumeier hat so viel vom positiven Flair einer Führungsfigur, dass man die Hamburger immerzu darum beneidet, ihn in der Stadt zu haben.

Dass die Ovationen ihm und „seinen“ Kindern zuliebe, aber auch für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dann nahezu Orkanstärken erreichen, ist sicher keine Legende.

40 Jahre Ballettschule des Hamburg Ballett! Da jubeln Neumeiers Jungs! So in „Erste Schritte“ 2018 in der Hamburgischen Staatsoper. Auf die nächsten 40 Jahre! Foto: Kiran West

Legendär aber sind Abende wie dieser in der Hamburgischen Staatsoper, wo die Belange des Balletts und auch des Ballettnachwuchses so ernst genommen und doch so froh gefeiert werden. Herzlichen Glückwunsch allen Beteiligten!

Und wer wissen will, wie die 40 „Beethoven Dances“ enden, dem sei die zweite Vorstellung dieser Schau am 25. Juni 2018 ans Herz gelegt. Es soll noch Karten geben, habe ich gehört!
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

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