Ein Vollweib in zwei Welten Alessandra Ferri als Schauspiellegende „Duse“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett - mit Dario Franconi, Alexandr Trusch, Carsten Jung und Marc Jubete

Duse von John Neumeier knüpft an Giselle an

Die fantastische Alessandra Ferri in Aktion, hier auf der Probe mit Karen Azatyan für „Duse“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow

Zirpende moderne Melodien erklingen, mit zarten Streichern instrumentiert. Die „Variationen über ein Thema des Frank Bridge“ schrieb Benjamin Britten 1937 – keine zehn Jahre, nachdem die Schauspiellegende Eleonora Duse 1924 verstorben war. Im Ballett von John Neumeier, das er ihrem Leben und Lieben widmete und schlicht „Duse“ nannte (was vielleicht ein zu knapper Titel ist, zumal der Untertitel „Choreographische Phantasien über Eleonora Duse“ dann wieder sehr lang ist), kreierte die Jahrhundertballerina Alessandra Ferri die Titelpartie. Ferri, die ihre Karriere bereits abgeschlossen hatte, dann aber wieder zu tanzen begann, ist heute, mit 54 Jahren, auch in Spitzenschuhen auf dem Höhepunkt ihrer tänzerischen Schönheit und Intensität. Mit Partnern wie Dario Franconi vom Hamburg Ballett brilliert die italienische Gast-Startänzerin – und ist weltweites Vorbild für Frauen, die sich nicht von männlichen Allerweltsmaßstäben unterkriegen lassen. Hier wagt eine Femme fatale alles – und gewinnt! Und das gleich in zwei völlig verschiedenen Welten, denn die „Phantasien über Eleonora Duse“ greifen eine gute alte Tradition im klassisch-romantischen Ballett auf, indem sie gleich zwei diametral entgegen gesetzte Weltentwürfe anbieten.

Da ist, im ersten Teil, der ganz mit Brittens Musik erfüllt ist, die Entwicklung der drei großen Lieben zu Männern, die Eleonora als reife Frau erlebte.

Der jünglingshafte Soldat Luciano Nicastro, hinreißend getanzt von Hamburgs Mega-Primoballerino Alexandr Trusch, verkörpert mit Ferri hier die sinnlich-verliebte Liebe: die heitere Verknalltheit, die Menschen verbindet, damit sie eine gewisse Strecke ihrer Wege gemeinsam beschreiten können.

Köstlich sind ihre Pas de deux, voll von Sensitivität und gegenseitiger Rücksicht. Dass Nicastro hier im Kostüm des Romeo in ihr Leben tritt, hat Hintersinn: Eleonoras erste große Erfolgsrolle war die der Julia, für die sie sich weiße Rosen besorgte, um diese als Leitmotiv während der Vorstellung effektvoll ihrem Spiel hinzuzufügen.

Da auch John Neumeier einen legendären „Romeo“ choreografiert hat, finden sich hier im Paartanz Zitate aus diesem Ballettdrama – und wunderbar aneinander hingegeben schmiegen sich Trusch und Ferri in die Welt des erotischen Rauschs.

Am Boden, in der Luft, in Hebungen, in Verklammerungen – auch „Die Kameliendame“, John Neumeiers bedeutendstes Liebesgeschichtenballett, wird hier zitiert, in Kostümen wie in der Choreografie. Dabei potenziert sich die Wirkung durch inszeniertes Ballett im Ballett: Das aufgebaute viereckige Tanzpodest in „Duse“ dient als Dramatisierungsmaßnahme ebenso wie als Handlungskulisse.

Ein großartiges Solo von Alessandra Ferri eben auf dieser Bühne zeigt sie als – passenderweise ganz in Weiß gehüllte – Lichtgestalt der Kunst. Man sieht, dass diese Frau sich niemals gehen lässt, wenn es ans Arbeiten geht: Und dennoch vermag sie es, jede emotionale Regung quasi spontan, so authentisch, mit einzubauen.

Was für ein Vollweib!

Duse von John Neumeier knüpft an Giselle an

Intensiv und zeitlos faszinierend: Alessandra Ferri als „Duse“. Hier ein Probenfoto vom Hamburg Ballett. Ein weiterer Text über „Duse“ steht hier: www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-duse/Foto: Holger Badekow

Man mag die Augen nicht eine Sekunde von ihr lassen, wenn sie ihre Arme in perfekte Rundungen und Streckungen bringt, ihre schönen Füße mit dem ausgeprägten Spann vorzeigt, den Leib in alle Richtungen biegt und die eleganten Beine mit Schwung in Attituden und Arabesken hebt. Welch ein Genuss ist es, la Ferri hier tanzen zu sehen!

Die innere Sehnsucht gibt ihr schier unendlich viel Kraft, und die Duse war ja tatsächlich ungeheuer kreativ und tätig. Allein die Briefe, die sie schrieb, können schon als dichterisches Werk gelten.

Schicksalhaft für Eleonora ist dann vor allem auch der durchgeknallte, faschistoid angehauchte, manische Dichter Gabriele d’Annunzio.

Kreiert hat diese Rolle Karen Azatyan, aber weil dieser verletzt ist (gute Besserung von hier aus!), tanzt derzeit Dario Franconi die männliche Hauptrolle in „Duse“.

Duse von John Neumeier knüpft an Giselle an

Funkelnde Augen auf der Bühne und nach der Vorstellung: Sie gehören Dario Franconi, Solist beim Hamburg Ballett und grandios in der Rolle des Gabriele d’Annunzio in „Duse“. Foto: Gisela Sonnenburg

Ach! Und wie gut passen sein argentinisches Temperament, seine Verführungskraft, sein männliches Funkeln in den Augen und sein elastisch-dynamisches Körperspiel zu dieser Partie!

Nur zu gut versteht man, dass die Frauen und auch sonstige Herzen ihm sozusagen zufliegen. Charmant und exhibitionisch, liebt dieser erfolgsgierige Schriftsteller die Öffentlichkeit – und alles, was ihren Glanz verspricht. Franconi drückt das hervorragend während des Tanzes aus, und dass er hier eine Lockenfrisur hat, passt zum durchaus auch eitlen, sich seiner eigenen Erotik sehr bewussten d’Annunzio.

Dieser Gabriele verehrt zunächst die Rivalin der Duse, die ebenfalls legendäre Schauspielerin Sarah Bernhardt.

Silvia Azzoni tanzt mit unnachahmlicher Fertigkeit eine sowohl als Parodie als auch als realistische Darstellung angelegte Rolle. Solche satirischen, dennoch liebevoll gezeichneten Ballettpartien gibt es ja überhaupt nur bei John Neumeier – und Azzoni, als bewährte Neumeier-Heldin, zeigt, wie vielschichtig Choreografie sein kann. Sie ist over the top und dennoch ganz bei sich. Bravo! Technik wird da völlig zweitrangig – man kommt gerade auch für solche Charaktererlebnisse in ein Handlungsballett.

Duse von John Neumeier knüpft an Giselle an

Dario Franconi nach der „Duse“-Vorstellung am 3.11.2017 beim Hamburg Ballett: temperamentvoll und charmant. Foto: Gisela Sonnenburg

Aber als dann das Phänomen der Duse auftaucht, wirft sich Franconi rückhaltlos ihr im für die Rolle typischen Sturzflug vor die Füße, mit einem Strauß roter Rosen im Arm. Der Seitenwechsler, der Günstling der Macht, er zeigt, wie sehr er zu begehren vermag. Stürmisch und fast überdreht, so leidenschaftlich, sind seine Pas de deux mit Eleonora. Man verklammert sich, man windet sich in einer Umarmung, man rutscht aufeinander, voneinander, es gibt Hebungen und Dreh-Hebungen miteinander, wie angefeuert von einer sozialdarwinistischen Kraft, die von außen kommt.

Und die Duse fragt nicht, ob die Liebe ihr gilt oder dem, was sie darstellt. Sie nimmt an, dass er sie haben will, und sie ist gut für die Karriere des Emporkömmling. So spielt sie in seinen Stücken und lässt sich von ihm bereitwillig ins Blitzlichtgewitter der Presse zerren. Für Aufsehen erregende Fotos entblößt sich der fanatische Dichter bis auf den Slip sprich das Suspensorium, das Tänzer tragen.

Mit dem gesellschaftlichen Aufstieg an der Seite der schon damals weltberühmten Duse entwickelt sich auch Gabrieles aggressiver Hunger auf immer noch mehr Anerkennung. Flugs wechselt er dafür wieder die Seite, der Schürzenjäger, und gibt Stücke, die er eigentlich für die Duse schrieb, der Bernhardt zur Uraufführung.

Eleonora überlebt es. Aber begriffen hat sie sein Naturell wohl nie.

Da ist aber auch noch der junge schöne Soldat, den die Duse ebenfalls von Herzen geliebt hat. Sie wird an sein Sterbebett gerufen, der Krieg (der Erste Weltkrieg) hat ihn dahin gerafft. Gemeinsam mit dem soldatischen Freund ihres Liebhabers, von Jacopo Bellussi mit Feingefühl getanzt, versinkt sie in Trauer um ihren schönen toten Geliebten.

Die Bandbreite der Ferri ist einfach unerhört toll.

Freude, Trauer, Melancholie, Vitalität, Elegie, Anmut, Dramatik – sie beherrscht all die Facetten der Bühnenkunst und insbesondere die einer kapriziös-mondänen Persönlichkeit wie aus dem Effeff.

In manchen Posituren erinnert sie an die reife Margot Fonteyn, in anderen an Maya Plisetzkaja. Aber immer ist sie vor allem auch sie selbst, eine in sich ruhende, innerlich unabhängige Künstlerin, die nur die Hand auszustrecken braucht, um verstanden zu werden. Jede Geste hat hier Symbolcharakter – einfach großartig!

Ein originelles pantomimisches Spiel liefert sich Ferri dann mit dem entschieden-galant auftretenden Carsten Jung, der ihren platonischen Liebhaber und intellektuellen Mentor Arrigo Boito tanzt.

Duse von John Neumeier knüpft an Giselle an

Eleonora Duse tanzt mit ihrem geistigen Mentor: Alessandra Ferri, von Carsten Jung optimal gehalten beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow

Bücherstapel wechseln auf kunstvolle Weise die sie besitzenden Hände, Gedanken werden dann zu lamentierenden Bewegungen.

Aus dem waschroten Seidenschal, den Boito zum schwarzen Akademiker-Outfit trägt, wickelt er Eleonora eine festliche Schärpe um ihren Oberkörper. Und macht so aus ihrem weißen Gewand ein Bühnenkostüm der besonderen Art.

Doch das Leben, es fließt dahin – und endet unerwartet. Die Duse stirbt, und ihre Dienerin (Yaiza Coll mit sehr graziösen, modernen Trauersoli, leider auch beim Applaus ohne Lächeln) hat tänzerisch das letzte Wort.

Bleibt Anna Laudere als Tanzikone Isadora Duncan: mit faszinierenden modernen Schritten bezaubert sie. Duncan war eng befreundet mit der Duse, und ähnlich wie sie lebte sie emanzipiert und eigenständig ihre Sexualität. Ihre beiden Kinder kamen dann auf tragische Weise bei einem Autounfall ums Leben, auch sie selbst (die Duncan) starb in einem Automobil.

So flicht sich die Trauer immer wieder ein Band durch diesen ersten Teil des Neumeier’schen Duse-Dramas; passend zu dieser Stimmung flimmern am Anfang und Ende dessen historische Schwarz-weiß-Filme über eine Leinwand im Hintergrund.

Historisch wird auch ein spannender guest act des Hamburg Balletts in Italien sein:

Duse von John Neumeier knüpft an Giselle an

Alessandra Ferri (stehend) als „Duse“ und Anna Laudere (sitzend) als Isadora Duncan beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow

Anna Laudere und Edvin Revazov, die gerade noch in Neumeiers jüngster Schöpfung „Anna Karenina“ reüssierten, werden am 31. Dezember 2017 in der Mailänder Scala in der „Kameliendame“ von John Neumeier als Stargäste tanzen.

Wer mit Hamburgs Starchoreografen also Silvester verbringen will, muss dieses Jahr in die italienische Modemetropole reisen. Viel Vergnügen! Es wird sicher ein berauschendes Erlebnis, und die italienische Lebensart wird ein delikates Drumrum erlauben.

Duse von John Neumeier knüpft an Giselle an

An Silvester 2017 werden Anna Laudere und Edvin Revazov „Die Kameliendame“ an der Scala tanzen – auch fein! Über Edvin Revazov in dieser Rolle steht Einiges hier: www.ballett-journal.de/diverse-compagnies-kameliendame-bolschoi/ Faksimile: Gisela Sonnenburg

Ob das Corps de ballet in Mailand so exzellent zu tanzen weiß wie das hervorragende Ensemble vom Hamburg Ballett, ist indes nicht wirklich anzunehmen. Für Neumeier-Stücke empfiehlt sich allemal immer der Abgleich mit der Hamburger Interpretation – das kann man auch dem internationalen Publikum ruhig ans Herz legen.

Apropos Publikum: Auch Marc Jubete vom Hamburg Ballett ist im ersten Teil der „Duse“ zu loben. Er führt dort auf der Bühne die Schar der Zuschauer an, und das Publikum ist in diesem Stück noch öfters allgegenwärtig als das viereckige Bühne-auf-der-Bühne-Podest.

Warum das Publikum hier so wichtig ist?

Die Liebe der Duse zu ihren Zuschauern war – das zeigt die Choreografie sogar auch im zweiten Teil – ihren privaten Lieben ebenbürtig und gleichrangig.

Für Künstler, die ihr Leben ihrer Mission geweiht haben, ist das sogar zwangsläufig so. John Neumeier weiß das – und zeigt es eindringlich.

Dass er sein Ballett „Duse“, das 2015 im Dezember uraufgeführt wurde, in gewisser Weise schon in den 80er Jahren antizipierte, könnte man aus der Tatsache schließen, dass der zweite Teil dieses Tanzdramas bereits seit 1986 für sich existiert. „Fratres“, italienisch für „Brüder“, heißt es, und kreiert wurde es in Stuttgart für die grandiose John-Cranko-Muse Marcia Haydée.

Damals galt es als sinfonisches Ballett, als ein Tanz, der eine Frau und vier Männer in einer jenseitig-spirituellen Atmosphäre vereint.

Zugleich erinnert die gleichmäßig gespannte, keineswegs fröhlich-ausgelassene, eher festliche Stimmung hier an die abstrakten Ballette von Cranko oder Kenneth MacMillan. Es handelt sich um eine Referenz Neumeiers an einen ganz bestimmten Zeitgeist, der, aus den 60ern und 70ern kommend, bis über die Millenniumswende hinaus den Begriff „avantgardistisch“ im Ballett prägte. Die festliche Anspannung, die darin vorherrscht, ist als zukunftsträchtig und der Zukunft zugewandt zu verstehen.

In der nun neuen Konzeption als zweiter Teil von „Duse“ sind es keine abstrakten, anonymen Personen, die tanzen – sondern es sind die Seelen der Hauptfiguren aus dem ersten Teil. Wenn man so will, handelt es sich um Eleonoras ganz persönliches Paradies.

Die Koordinaten von Raum und Zeit sind aufgehoben, zu Gunsten einer Kommunikation ohne Hass und ohne Selbstsucht. Alle negativen, für andere schädlichen Verhaltensweisen, so alle Gier nach Erfolg und alle Oberflächlichkeit der Sinne, sind nun aufgegeben.

Man liebt einander, ohne großes Aufheben darum zu machen: Die Männer tragen selbstlos ihre Heilige, ihre Madonna, durch das Universum, sich labend an ihren Aufgaben. Die Konstellation von einer Frau als von mehreren Männern Verehrte erinnert außerdem mehr denn je an John Crankos „Poème de l’Extase“.

Duse von John Neumeier knüpft an Giselle an

Heilig und doch scheinbar nah: Seltene Blautöne durchmischen sich im zweiten Teil von „Duse“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Hier Marc Jubete mit Alessandra Ferri: Liebe ohne Aufregung. Foto: Holger Badekow

Zusätzlich begeistert „Fratres“ mit einer Lichtregie – wie die Kostüme stammt auch sie in beiden „Duse“-Teilen von Neumeier selbst – die ihresgleichen sucht. Sie ist eigentlich ein Drama von erhebender Machart für sich.

Zu Beginn bestürzt ein tiefblauer Horizont, es ist ein Blau, wie es in der Natur am Firmament fast nicht vorkommt. Für das Himmelsazur des Tages ist es nämlich zu dunkel, für die Stunden der Nacht hingegen zu hell.

Aber auf die blaue Stunde der langsamen Dämmerung deutet hier vieles; ewige Dämmerung ist vielleicht auch ein Zustandsbegriff, der die Stimmung auf der Bühne kennzeichnen könnte.

Später verfärbt sich dieses noch fassliche Blau zu einem hellem, kühlen Grüngrau – als sei ein seltsamer Nebel in die Sphäre eingefallen.

Rechts sitzen die Männer in weißen Hosen zu nacktem Oberkörper wie verzaubert, wie auf ihren Einsatz wartend, am Boden, reglos und entrückt, als hätten sie einen unsichtbaren Kokon um sich.

Von links schreitet Alessandra Ferri – eine würdige Nachfolgern von Marcia Haydée in dieser Rolle – in einem hautfarbenen Body auf die Bühne. Sie eröffnet das Spiel, bringt die Bewegung in die Szene.

Es schließt sich ein liebevoller, aber keineswegs aufgeregter, vielmehr in lasziver Zeitlupe sich vollziehender Tanz an.

Die Ferri steht weiterhin für die Duse, die Männer stehen für ihre Lieben: Dario Franconi tritt wieder als d’Annunzio in Erscheinung, Alexandr Trusch als Soldat, Carsten Jung als Boito und Marc Jubete als das Publikum.

In dieser Sphäre hier spielen die äußerlichen und auch die charakterlichen Unterschiede der Personen aber keine Rolle mehr. Man könnte meinen, dass die nackten Seelen hier kommunizieren.

Heilig, heilig, heilig ist diese Welt hier, eine Gegenwelt, eine Parallelwelt zum Realismus der handlungsprallen Geschichte der Duse im ersten Teil.

Ob Jenseits, Paradies, Utopie oder spiritueller Raum – alles und nichts treffen sich in diesem neuartigen Universum, das mit einigen Stühlen möbliert ist und akustisch von der melodramatisch-modernen Musik von Arvo Pärt beherrscht wird.

Duse von John Neumeier knüpft an Giselle an

Alessandra Ferri auf dem Poster des Hamburg Ballett zu „Duse“. Plakatmotiv: Holger Badekow

Nathan Brock dirigiert übrigens beide Teile einfühlsam, und die Musiker – und zwar die Solisten wie das Philharmonische Staatsorchester Hamburg – brillieren zweifelsohne auf ihre Weise.

Was wären solche Stimmungen wie hier im Ballett aber auch ohne Musik?

Einzelne Glockenschläge darin transportieren Mystik, knüpfen aber auch an die „Giselle“-Tradition an, die Neumeier mit der Zweiteilung des Abends bereits intoniert.

Von Arvo Pärt stammt zudem auch der Titel „Fratres“, und wo dieser womöglich ans biblische Paradies und den Bruderzwist dachte, hat Neumeier den Garten Eden bereits hinter sich gelassen, um ein überzeitliches Gefilde zu kreieren.

Die Spannung, die konstant gehalten wird, fasziniert und findet sich zudem in immer neuen Formationen der Tanzenden subsummiert.

Typisch sind Hebefiguren, bei denen die Männer anmutig und ohne leidenschaftliche Gesten ihre weibliche Ikone empor heben, sie tragen und durch das Tanzen sozusagen verherrlichen.

Ferris Ausstrahlung sorgt auch hier für den besonderen Effekt.

Dennoch könnte man sich auch Carolina Agüero vom Hamburg Ballett hier vorstellen – im ersten wie im zweiten Teil wäre sie sicher eine anregende Neubesetzung der „Duse“.

Duse von John Neumeier knüpft an Giselle an

Die weiße Rose ist ein Symbol ihrer Kunst: Eleonora „Duse“ im gleichnamigen Ballett von John Neumeier, kreiert von der weltberühmten Alessandra Ferri. Foto: Holger Badekow

Der weibliche Körper wirkt hier ja pur – und keine technischen Schnelligkeitsspirenzien, sondern Balancen und Streckungen bezaubern den Blick.

Auf große Präzision kommt es an, und der männliche Hauptpart ergänzt genau das.

Dario Franconi macht denn auch eine außerordentlich gute Figur hier, so in seiner Leitphrase: in der zweiten Position stehen die Beine im Plié, während die Arme ausgestreckt sind und der Kopf sich zur Herzseite dreht. Die Arme werden gefaltet und gebogen, der Podex verlagert den Schwerpunkt von der einen auf die andere Seite.

Das hat etwas stark Energetisches, etwas Tätiges, etwas von selbständiger Optimierung. Das Jenseits erscheint in Franconis Verkörperung als ein perpetuum mobile, als eine unendlich gnädige, freundliche Kraft.

Die anderen Figuren sind ebenfalls solchermaßen wie fein gestrichelt gekennzeichnet. Es ist erstaunlich, dass Neumeier die Choreografie nicht verändern musste, damit sie hier passt. Aber er hatte – ob bewusst oder unbewusst – bei der Kreation der „Duse“ wohl auch immer die „Fratres“ vor Augen.

Carsten Jung ist markant in sich ruhend; Alexandr Trusch ist lyrisch-sorgsam und wie immer jede Sekunde doppelt wert; Marc Jubete ist auf Aktion konzentriert und in der Bewegung auf den Punkt gebracht.

Duse von John Neumeier knüpft an Giselle an

Noch ein Probenfoto voller Passion: Alessandra Ferri als „Duse“ mit Alexandr Trusch als Soldat beim Hamburg Ballett. Liebe als Stütze, als Hilfe. Foto: Holger Badekow

Vor allem im Miteinander oder in parallelen Bewegungsabläufen entfaltet sich hier ein Kosmos einander ergänzender Seelenkräfte.

Dass sie ihre Kostüme wechseln und bald statt Weiß braune Hosen tragen, ergänzt die sich stetig noch intensivierende Stimmung.

Am Ende laufen und laufen und laufen die Jungs im Kreis, vorwärts strebend, mit gespreizten Händen, die Handflächen vorzeigend.

Ab und an bleiben sie stehen, als müssten sie nachdenken, dann laufen sie wieder im Kreis, unendlich scheint dieses Laufen zu sein, und doch ist es, als würde durch das Laufen eine festgelegte Zeitspanne unerbittlich aufgefressen.

Schließlich bleibt die Frau, diese Heilige, Alessandra Ferri, allein zurück. Sie steht auf einem Stuhl, mit dem Rücken zu uns, die Arme hoch gereckt, die Hände ganz weit mit den Handflächen in Blickrichtung ausgestreckt.

Strebend hört der Mensch vielleicht auf zu sein – aber nur im Streben hat er die Möglichkeit zu überleben.

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Standing ovations bezeugen die surreal-sakrale Kraft dieser Inszenierung. Ganz großartig wird „Duse“ auch zwei Jahre nach der Premiere beim Hamburg Ballett getanzt – und in jedem Detail vollauf befriedigend.
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

Zum Beitrag zur Urauffühung: www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-duse/

www.hamburgballett.de

 

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