Österliche Erinnerungen Früher waren April und Mai stets die frühlingshafte Hightime des Balletts – ganz ohne Streams

Die 229. Ballett-Werkstatt von John Neumeier: Debüt

Roberto Pérez in einem der schwierigsten Soli aus der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier als Judas Ischariot auf der 229. Ballett-Werkstatt beim Hamburg Ballett im Januar 2020, also relativ kurz vor dem ersten Lockdown wegen Corona. Foto: Kiran West

Die ruhigen Feiertage zu Ostern gaben auch Anlass, sich zu besinnen. Oder schlicht in Erinnerungen zu schwelgen. Das Hamburg Ballett hat ja normalerweise diese tolle Tradition, die vierstündige „Matthäus-Passion“ von John Neumeier am  Osterwochenende aufzuführen. Man erinnert sich: an grandiose Debüts, aber auch an liebgewonnenes Wiedersehen mit brillanten, versierten Besetzungen. Carsten Jung ist mir da besonders präsent: Wie er lässig und doch angespannt (ein Gegensatz, den nur ein Tänzerkörper vereinen kann) an der Rampe saß und auf Erlösung wartete. Aleix Martínez und Alexandr Trusch fallen mir aber auch sofort ein: als ein Tänzerteam, das gerade in der „Matthäus-Passion“ so virtuos harmonierte und doch zeigte, wie verschieden Menschen sogar in vollkommen synchron ausgeführten Bewegungen wirken können. Marc Jubete war in den letzten Jahren ein Jesus ohne Fehl und Tadel, mit Schwermut und doch auch unendlicher Langmut im Blick und in den Gliedern. Roberto Pérez hingegen zeigte erst relativ kurz vor dem ersten Corona-Lockdown seine Interpretation vom Judas auf der 229. Ballett-Werkstatt. Laura Cazzaniga, die damals schon seit vielen Jahren Ballettmeisterin in Hamburg war, sprang über Ostern einmal kurzfristig ein, für eine erkrankte Tänzerin: „Die Wiederkehr des Schmetterlings“ titelte ich im April 2017, denn unsterblich ist Cazzaniga für mich mit ihrem Tanz als Schmetterling in der Einspielung von Neumeiers „Illusionen – wie Schwanensee“ als DVD geworden.

Ein Jahr später gehörte die volle Aufmerksamkeit dem Staatsballett Berlin: Ende April 2018 premierte die modern-elegante Version von „Romeo und Julia“ des damaligen Berliner Ballettintendanten Nacho Duato in der Staatsoper Unter den Linden. Polina Semionova wurde als lieblich-gefasste Julia bejubelt. Sie war kein durchgeknallter Teenager, sondern eine ernsthafte Liebende in dieser Duato-Rolle, die sie schon einige Jahre zuvor am Mikhailovsky-Theater in Sankt Petersburg zur Uraufführung gebracht hatte.

Aurora Dickie ist von dieser Premiere aber auch fest im Gedächtnis: als eindringliche Lady Capulet, also als Mutter von Julia, die selbst noch jung und schön war, aber über den Tod ihres Clan-Nachwuchses Mercutio so ausrastete, dass sie in wenigen Minuten alle Trauer tanzte, die man über diese Welt nur empfinden kann. Grandios unter die Haut gehend war das.

Bravo für die Protagonisten und den Corps vom Staatsballett Berlin! Nach der Premiere von „Romeo und Julia“ von Nacho Duato in der Staatsoper Unter den Linden. Foto: Gisela Sonnenburg

Ebenfalls Ende April 2018, aber noch vor der Berliner Duato-Premiere, brodelte es beim Bayerischen Staatsballett, und zwar im höchst angenehmen Sinn: Die BallettFestwoche bot mit „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier über „Alice im Wunderland“ von Christopher Wheeldon bis zu „Spartacus“ mit Yonah Acosta in der von Yuri Grigorovich absolut genial choreografierten Titelrolle ein pralles Bündel an erlesenen First-class-Balletten.

Yonah Acosta als „Spartacus“ beim Bayerischen Staatsballett: ein Tatmensch, der für die Freiheit kämpft, leidet, siegt und stirbt. Foto: Wilfried Hösl

Macht man die Augen zu und konzentriert sich auf die Erinnerung, hört man noch den brausenden Applaus.

Ein Jahr später, im April 2019, debütierte Luciana Voltolini in der Titelrolle als „La Sylphide“ mit Kammertänzer Marian Walter als James im Schottenrock an ihrer schönen Seite. Das  Staatsballett Berlin hatte in der Deutschen Oper einen fraglos großen Abend, zumal Alicia Ruben als Effie – die Rivalin der ätherischen Sylphide – und wieder Aurora Dickie als böse Hexe Madge mit ihren Rollengestaltungen in jeweils weitere Welten zu entführen wussten.

"La Sylphide" mit La Voltolini

Glück beim Applaus, vorn (von li.): Aurora Dickie als Madge, Dirigent Christensen, Luciana Voltolini als „La Sylphide“, Marian Walter als ihr James, Alicia Ruben als seine Verlobte Effie und Ulan Topor als ihr Trostgatte, so zu sehen mit dem Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Das Imperium des Bösen, also die Welt der Madge, und die zünftig-naive heile Welt der jungen Effie bildeten fantastisch fassliche Kontraste.

Die Inszenierung von Frank Andersen nach Auguste Bournonville war aber auch etwas Besonderes: kurz und knackig, vital und verspielt – und zwar bestimmt nicht die beste aller Sylphide-Fassungen, aber eben doch mit ihrem typisch dänischen Ballettstil etwas Besonderes.

"Mayerling" in neuem Gewand

Ein tragisches, aber dramatisches Paar: Rudolf und Mary alias Friedemann Vogel und Elisa Badenes in „Mayerling“ von Kenneth MacMillan, neu ausgestattet von Jürgen Rose. Das war der Höhepunkt der Saison 2018/19. Foto: Stuttgarter Ballett

Noch einen Monat später, im Mai 2019, raste ein Opernhaus bis zur totalen Ekstase beim Schlussapplaus: nach der Premiere von „Mayerling“ von Kenneth MacMillan im neuen Outfit von Jürgen Rose. Die Rede ist natürlich vom Stuttgarter Opernhaus, das Friedemann Vogel in der Titelrolle zusammen mit den Damen Elisa Badenes, Veronika Verterich, Miriam Kacerova, Diana Ionescu, Anna Osadcenko, Alicia Amatriain und sogar Marcia Haydée und Georgette Tsinguirides zum Vibrieren vor Begeisterung gebracht hat.

Adhonay Soares da Silva tanzte zudem den Bratfisch so suggestiv-lasziv, narrativ und doch dramatisch, dass man sein Solo im Wirtshaus niemals vergessen kann.

Und man dankt für diesen Rausch aus Schönheit und Expression auch Reid Anderson, der in seiner langen Intendanzzeit beim Stuttgarter Ballett den Boden für kommende Jahrzehnte bereitete.

"Mayerling" in neuem Gewand

Adhonay Soares da Silva probt für die Rolle von Bratfisch in „Mayerling“ von Kenneth MacMillan. Ein Augenschmaus! Foto: Roman Novitzky Photography

Egon Madsen war der älteste Senior an diesem Abend auf der Bühne, während La Tsinguiridis mit 91 Jahren unübertrefflich die Erfahrenste war.

Wieviel Glanz, wieviel Können, wieviel Liebe zum Beruf vereinten sich stets gerade im April, um den Ballettfreund*innen zu zeigen, wie berechtigt ihre Leidenschaft für die hehre Tanzkunst doch ist.

Junge Paare, die die Welt erkunden… so zu sehen in „Erste Schritte“ in der Ausgabe von 2018 bei der Ballettschule des Hamburg Ballett – John Neumeier. Foto: Kiran West

Rechnen wir nochmal rückwärts: Im April 2018 becircte die Ballettschule vom Hamburg Ballett – John Neumeier mit den alle zwei Jahre normalerweise angesagten Show „Erste Schritte“. Damals feierte die angesehene Künstlerschmiede ihr 40-jähriges Bestehen – und es gab eine Megaschau mit vielen süßen Kleinen und bildschönen Größeren zu sehen.

Das Ballett am Rhein hingegen war unter seinem damaligen Leiter Martin Schläpfer ein Jahr zuvor, 2017, für Einige eher ein Schock, als es beim Gastspiel in Berlin ziemlich derb aufzutrumpfen versuchte. Grazie und Erhabenheit sehen irgendwie anders aus, dachte man damals entsetzt.

Galazeit in Radebeul!

Ein fantastischer Kontrast zu viel zeitgenössischer Moderne: Melissa Hamilton und Denis Veginy vom Semperoper Ballett aus Dresden. Sie zeigen „Dornröschen“ in der Choreografie von Dresdens Ballettdirektor Aaron S. Watkin. Foto: Ian Whalen

Noch ein Jahr zuvor, im April 2016, nahm der Kritikerkollege Boris Michael Gruhl Abschied von seinem Dasein als Gala-Veranstalter: Zehn Jahre lang besorgte er den Dresdnern Glamour mit moderndem Anstrich, so auch dieses letzte Mal. Choreografien von Marco Goecke und Aaron S. Watkin, Eric Gauthier und Nils Christe wurden gezeigt. Klassik und Avantgarde versuchten ein Stelldichein im Zeichen der Harmonie – und als Melissa Hamilton und Denis Veginy vom Semperoper Ballett im „Dornröschen“-Barock-Outfit so richtig loslegten, konnte man fast annehmen, die Moderne habe sich zielgerichtet auf die Klassik hin entwickelt. Es war einfach eine brillante Gaudi!

Springen wir von diesem Gala-Sprungbrett direkt nach Luxemburg, wo zwei Jahre und einen Monat später, im Mai 2018, die „Gala des Étoiles“ vor poetischer Energie nur so strotzte. „Le Corsaire“ und „Raymonda“, der „Fanny Elssler Pas de deux“ und „La Rose malade“ von Roland Petit, aber auch „With a Chance of Rain“ von Liam Scarlett sind nur einige der Burner, die hier die Menschen zu Tränen rührten und zu rundum lächelnden Körpern brachten.

Stars und Sternchen kommen zu "Malakhov & Friends" nach Berlin.

Rainer Krenstetter und Tricia Albertson bringen mit elegant-peppigen Tänzen den originären Balanchine-Zauber mit auf die „Gala des Étoiles“ 2018. Foto: Inline Images

Ach! Wie gut, dass wir soviel Glück schon hatten, so viele bezaubernde Vorstellungen zu erleben – und es ist auch toll, hier im Ballett-Journal im Archiv wühlen zu können, um die Erinnerung lebendig zu halten.

Gehen Sie doch einfach unten mit dem Cursor auf „Archiv“ und suchen Sie sich einen Monat seit Herbst 2014 aus. Und dann lesen Sie nach, was damals die Ballettszene bewegte… Die Zeit wird vergehen wie im Flug, und wenn Sie aufsehen, werden Sie sich wundern, dass Sie noch immer dort sind, wo Sie waren, als Sie anfingen, sich zu erinnern.

Dabei dürfen Sie sich gern von den Titeln leiten lassen. „Der Dschungel in uns allen“ etwa lockt zur Selbsterkenntnis, bezieht sich aber auf absolut extremes Verhalten vor allem der männlichen Naturgesteuerten.

Othello beim Hamburg Ballett: heiß

Hier schlägt die Liebe bald tödliche Funken der Eifersucht: Anna Laudere als Desdemona und Amilcar Moret Gonzalez als „Othello“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

So habe ich im Mai 2017 die Doppelrezension zweier Besetzungen von „Othello“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett genannt. Ergreifend waren beide Diven, die blutjunge Emilie Mazon mit Carsten Jung als Desdemona (ihre Mutter Gigi Hyatt hat die Rolle einst kreiert) und die langbeinige Anna Laudere mit Amilcar Moret Gonzalez als Othellos unglückliche Gattin.

Und gehen wir noch einmal in eine Gala zum Abschluss dieser österlichen Erinnerungen, und reisen wir dafür doch mal eben zum Ballett Dortmund in den Juni 2016. Die „Internationale Ballettgala XXIII“ bot getanzte Balletthappen und -häppchen von George Balanchine bis Xin Peng Wang, von Marius Petipa bis zu Christopher Wheeldon.

Rainer Krenstetter und Tricia Albertson vom Miami City Ballet entführten mit unwiderstehlich sinnlichem Impetus in Balanchines Auffassung vom „Sommernachtstraum“.

Die große Ballett-Gala in der kommenden Ballett-Metropole Dortmund.

Das NRW Juniorballett tanzte außerdem den Gala-Knüller „The Sofa“ von Itzik Galili: frech und frivol geht es in dieser Dreierkiste zu… da ist das Sofa nicht nur zum Sitzen da! Foto: Bettina Stöß

Das NRW Juniorballett gab den komischen Knüller „The Sofa“ von Itzik Galili zum Besten.

Und Javier Cacheiro Aléman zeigte mit Barbara Melo-Freire das verhängnisvolle Verhältnis von „Faust I – Gewissen“ mit seinem allzeit leidensbereiten Gretchen, in der bewegenden Choreografie von Xin Peng Wang.

Die große Ballett-Gala in der kommenden Ballett-Metropole Dortmund.

Javier Cacheiro Alemán und Barbara Melo-Freire in „Faust I – Gewissen“ von Xin Peng Wang beim Dortmunder Ballett. Modern und dennoch Klassik, wenn man so will! Foto: Bettina Stöß

Wann wir wohl wieder eine Gala live sehen werden? Wann, bitte, wann?

Zuletzt becircte das Ballett der Mailänder Scala mit einer Online-„Nurejev-Gala“ unter der hierfür wie gemachten Direktion von Manuel Legris. Sie war vorzüglich gemacht, Stars wie Nicoletta Manni zeigten lauter Nurejew-Choreografien. Aber man hätte doch Einiges gegeben, um so etwas wahrhaftig live auf der Bühne zu sehen.

Und nicht nur die Live-Galas und die Premieren – auch all die wunderbaren „ganz normalen“ Vorstellungen fehlen uns sehr.

Da hilft nur der feste Glaube daran, dass das Opern-, Ballett- und Theaterleben eines Tages wieder so bunt und vielfältig sein wird, wie wir es kennen.

Bleiben Sie gesund und mir gewogen, und stöbern Sie ruhig mal im Archiv vom Ballett-Journal, um sich zu erinnern – und auf die Fortsetzung dessen, was war, mit aller Kraft und aller Geduld zu freuen.
Gisela Sonnenburg

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