Die tragische Schönheit einer großen Liebe „Die Kameliendame“ von John Neumeier feiert am 4. November 2018 ihren 40. Geburtstag – drei Compagnien haben sie in dieser Saison auf dem Spielplan und frönen damit einem unkonventionellen Feminismus

Die Kameliendame wird 40

Alina Cojocaru – die im November wieder in Hamburg „Die Kameliendame“ tanzt – hier mit Marlon Dino beim Schlussapplaus nach einer entsprechenden, enthusiastisch gefeierten Vorstellung beim Bayerischen Staatsballett. Unvergessen! Foto: Gisela Sonnenburg

Die Kameliendame“: Es handelt sich bei diesem prägnanten Herzstück im Werk von John Neumeier um einen der größten Geniestreiche der Ballettgeschichte, um eines der beliebtesten und begehrtesten Tanzstücke überhaupt. Warum? Weil es um eine großartige Liebe und ihr Scheitern an der sozialen Realität geht. Weil dieser Konflikt in ebenso pikante wie bewegende, dennoch stets hoch ästhetische choreografische Bilder gefasst ist. Und weil die Musik – orchestrierte Kompositionen von Frédéric Chopin – einen romantisch-modernen Abend trägt wie auf Flügeln. Jetzt wird die Neumeier’sche „Kameliendame“ endlich 40 Jahre alt! Ein wunderbares Alter nicht nur für Frauen, sondern auch für ballettöse Tragödien. Glückwunsch an jeden, der sie bereits sehen konnte oder (wieder) sehen wird! Ihr Publikum umfasst mittlerweile ja ganz deutlich etliche Generationen. Drei Compagnien in Deutschland haben „Die Kameliendame“, die am 4. November 1978 in Stuttgart mit Marcia Haydée in der Titelpartie uraufgeführt wurde, denn auch immer mal wieder im Programm und auch in dieser Saison auf dem Spielplan. Das Hamburg Ballett macht am 10. November 2018 den Anfang, es folgen – zwei Monate später – zuerst das Bayerische Staatsballett am 10. Januar 2019 und dann das Stuttgarter Ballett ab dem 16. Januar 2019. Alle Aufführungen werden in Originalentwürfen für die Ausstattung von Jürgen Rose getanzt, geliebt, bewundert – und man hat es noch nicht erlebt, dass irgendjemand nicht begeistert gewesen wäre.

Das liegt zum Einen am Thema, zum Anderen an seiner Ausfertigung.

Das Thema ist zwar typisch für die jüngeren Befreiungswege in unserer Kultur seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, Stichwort: sexuelle Revolution, andererseits aber ist es mit „La Traviata“ von Giuseppe Verdi ein Opernhaus-vertrautes Sujet mit langer Tradition.

Dem Ballett wie der Oper liegt der Roman „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas dem Jüngeren zu Grunde.

John Neumeier kreierte innerhalb weniger Wochen 1978 das Stück als Gastchoreograf für das Stuttgarter Ballett. Er hatte der damaligen Chefin dort, der Primaballerina und John-Cranko-Muse Marcia Haydée etwas neues Passendes für die Jahresendzeit zugesagt. Und bevor er ein Stück über Kleopatra mit ihr machte (seine erste Idee hierfür), wurde er – glücklicherweise – zu der „Kameliendame“ inspiriert.

Die heute geläufige, vor allem Dank dem damaligen Armand Kevin Haigen in den großen Pas de deux überarbeitete Version premierte dann 1981 in Hamburg, wieder mit La Haydée in der Titelpartie, als Gast aus Stuttgart.

Ein Erfolg war das Ballett aber von Beginn an – und vielleicht hatte nicht mal Neumeier damit gerechnet, welche nachhaltigen Stürme des Verlangens es beim Publikum auslösen würde.

So kreist nach wie vor die Idee eines „Kameliendamen-Festivals“ durch die Ballettgemeinde – man könnte freitagsabends beginnen und bis sonntagsabends fünf oder sogar sechs Vorstellungen in verschiedenen Besetzungen, vielleicht sogar mit verschiedenen Compagnien abhalten. Ja, das wäre was für Kenner, natürlich – aber ich gehe jede Wette ein, dass der Kartenverkauf bei entsprechender Starbesetzung erfolgreich verlaufen würde. Zusatzveranstaltungen wie Podiumsgespräche oder Workshops würden das Ganze abrunden, und die Vorstellung eines selbstverständlich schwarzen „Kameliendamen“-Spitzenschuhs einer geneigten Firma würde sicherlich reißenden Absatz zur Folge haben.

Vielleicht findet sich hierfür noch ein Veranstalter?!

Das Ballett behandelt jedenfalls das Schicksal einer Luxuskurtisane des 19. Jahrhunderts, die sich entgegen ihrer sozialen Stellung in einen gutbürgerlichen jungen Mann verliebt und zudem an unheilbarer Tuberkulose tödlich dahin siecht. Soweit, so bekannt – bekannt auch aus der Oper „La Traviata“ von Giuseppe Verdi, der kurz nach ersten Erscheinen des Romans 1852 schon die entsprechende Oper (1853 uraufgeführt) komponierte.

Was aber macht Neumeiers „Die Kameliendame“ so einzigartig und erschütternd, dass man von einer wahren Sucht der Fans sprechen muss, dieses Stück immer und immer wieder in allen nur denkbaren Besetzungen sehen zu wollen?

Da ist wohl vor allem die erschütternde Zuspitzung auf die psychologischen Unterschiede der Liebenden, die im Roman verwässert sind und längst nicht mit so viel Gewicht wirksam werden wie in Neumeiers Ballett. Sie prägt auch das Seelenleben der anderen Figuren, die wiederum bis in kleinste Details ausgestaltet und interpretatorisch wie tänzerisch verwertbar ist.

Das gibt auch den Tänzerinnen und Tänzern zum Beispiel von Rollen wie der Nanine (der Dienerin Marguerites), des Grafen (ihres unglücklich-komischen Verehrers), der Olympia (ihrer Rivalin), der Prudence (ihrer Kupplerin) und des Gaston (des Freundes von Armand) sehr viel Gelegenheit, Kunst und Seele zu zeigen, statt nur Kostüm und Technik.

Der Kosmos einer ganz bestimmten Gesellschaft, in den man mit diesem Ballett eintaucht, steht wiederum als Metapher auch für andere Gesellschaften – und man kann ihn problemlos auf die heutige Situation übertragen.

Auch heute haben Frauen – siehe „Me, too“ – längst keine wirklich emanzipatorischen Möglichkeiten. Auch heute müssen sie sich entweder hochschlafen oder auf die Verbindungen ihrer Familien zurückgreifen, um beruflich anerkannt zu werden.

Eine Frau ohne patriarchale Protektion hat nach wie vor keine Chance in dieser Gesellschaft. Das ist das wahre Tabu, das hinter „Me, too“ steht.

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Svetlana Zakharova, die wahrscheinlich weltbeste Primaballerina, als „Kameliendame“ von John Neumeier – unendlich zauberhaft. Foto: Bolschoi

Blickt man hinter die Kulissen des finanziellen Erfolgs von Frauen, entblößt sich diese zweite Seite der „Me, too“-Medaille: Es gibt nicht nur Opfer in diesem Spiel, sondern auch Frauen, die gerne die Vorteile nutzen, die sie von Geburt an oder durch sexuelle Dienste bekommen.

Allein stehende Frauen, die es ohne patriarchalen Rückenwind nach oben schafften, sind selten. Sehr selten. Sehr, sehr selten.

Komischerweise schämt sich niemand dafür – die biedermeierliche Doppelmoral beherrscht weiterhin die Politik, die Wissenschaft, die Wirtschaft sowieso.

Will man denn auch so genau wissen, wieso etwa die eine oder andere Dame auf ihren lukrativen Posten kam? Nein, es ist oftmals zu unappetitlich. Man will es gar nicht wissen, und wenn es einem von aufgeschlossenen Plaudertaschen regelrecht aufgedrängt wird.

Und in der Kunst? Es fällt doch auf, dass bei vielen geförderten Künstlerinnen und Künstlern in der Vita nicht erwähnt wird, wer ihre Eltern oder Ehegatten sind, die ihnen ihren Werdegang ermöglichten.

Dass Kunst etwas mit Können zu tun hat, rückt heutzutage in den Hintergrund. Ältere Semester wie der bildende Künstler Roman Signer wissen noch, wie es geht, sich in Bescheidenheit zu üben: „Kunst ist etwas, das man ganz gut kann.“ Für solche frappierende Ehrlichkeit bekommt man heute nicht mal die Teilnahme an irgendeinem Wettbewerb, oder?

Vielleicht hängt das damit zusammen, dass es heute viele technische Möglichkeiten gibt, künstlerische Mängel und inhaltliche Ideenlosigkeit zu übertünchen – und so gibt es Filme, Gemälde und auch Tanzstücke, die vor allem von irgendwelchen technischen Tricks leben, nicht aber von Aussagekraft.

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Legendär: Die „Kameliendame“ auf ihrer Recamière im ersten Teil des Balletts von John Neumeier. Hier bitte die ebenfalls legendäre Svetlana Zakharova vom Bolschoi Ballett in Moskau! Foto: Bolschoi

Die Kameliendame“ von John Neumeier ist da anders. Zwar gibt es auch hier atemberaubende Bühnenmanöver, aber im Vordergrund steht die Choreografie.

Längst legendär sind zum Beispiel die Posen der Titelfigur auf ihrer Recamière, im Rahmen des ersten Pas de deux mit Armand.

Von jeder wirklich großen Primaballerina von Welt, die auf sich hält, gibt es ein Foto in dieser Pose!

Die russische Jahrhundertballerina Svetlana Zakharova ist eine der am meisten faszinierenden Kameliendamen, die es je gab – dem Bolschoi Theater sei dank, tanzt sie diese Partie seit 2014 und kam damit auch weltweit in die Kinos.

Und ob mit Svetlana oder einer anderen Königin der Ballettherzen: auch spezielle Griffe und Hebungen in den Paartänzen, aber auch viele solistische Passagen der beiden Liebenden wie auch anderer Personen in der „Kameliendame“, ebenso auch diverse Pas de trois und Gruppenspiele sind absolut unverwechselbar und prägen das Flair dieses Balletts.

Dabei geht es stets um die Unvereinbarkeit von Wollen und Sein in der Realität sowie um das unverdrossen starke Streben nach eben dieser Vereinigung.

Die Kameliendame wird 40

„Die Kameliendame“ von John Neumeier auf ihrer Remacière – hier Olga Smirnova vom Bolschoi zu Gast beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Das kann mit Leidenschaft, aber auch mit Witz geschehen – „Die Kameliendame“ bietet sowohl charismatisch-komische Einzelheiten als auch tief-tragische Momente.

Und sie hat, mit dem „Weißen Pas de deux“, dem zweiten von drei großen Paartänzen, einen Liebestanz ohnegleichen zu zeigen, der sowohl die Einfachheit als auch die Vielschichtigkeit erotischer Zugehörigkeit feiert und glorifiziert.

Dass gerade eine Prostituierte zu dieser Art Liebe fähig sein soll, wird im Roman von Dumas immer wieder als Überraschungsmoment problematisiert.

Im Ballett von Neumeier jedoch erscheint Marguerite gerade durch ihre Liebe zu Armand als eine innerlich befreite Frau – die ihre seelische Stärke durch und für die Liebe einsetzt.

Marguerite Gautier, die nach den kleinen Blumensträußen, die sie bei sich hat, „Kameliendame“ genannt wird, kam blutjung aus der ländlichen Armut nach Paris und konnte über den Verkauf ihres Körpers – also ihrer körperlichen sexuellen Intimität – als „Sexarbeiterin“ Karriere machen.

In gewisser Weise ist sie dadurch emanzipiert, jedenfalls finanziell unabhängig, solange sie als Ware auf dem Markt eine Nachfrage hat.

Eine solche Frau zur Heldin einer Liebe zu machen, bedeutet schon, einer unkonventionellen Auffassung von Feminismus das Wort zu reden – auch wenn das den Zeitgenossen von Alexandre Dumas ebenso wenig in den Kram gepasst haben mag wie vielen Menschen heutzutage.

Die Kameliendame wird 40

Eine ungewöhnliche emanzipierte Frau: „Die Kameliendame“, hier von Olga Smirnova vom Bolschoi als Gast mit Christopher Evans beim Hamburg Ballett getanzt. Wow! Foto: Kiran West

Andererseits kann man eine Luxusnutte natürlich auch als Sinnbild der unterworfenen weiblichen Natur schlechthin sehen: Wo sich die von ihrem Versorger abhängige Hausfrau noch mit Kopfschmerzen rausreden darf, wenn sie mal schlicht nicht dieselbe Lustfrequenz hat wie ihr Ehemann, muss die Hure auf ihr Einkommen verzichten, wenn sie sich dem sexuellen Zugriff entzieht.

Marguerite aber scheint da alles unter Kontrolle zu haben: Jedes Nein steigert bei ihr nur den Preis.

Ihr sozialer Aufstieg kennt dem Geld nach keine Grenzen, den Anstandsregeln nach jedoch schon:

Als Prostituierte bleibt sie eine Geächtete, die in die adeligen und bürgerlichen höheren Schichten des Landes keinen offiziellen Zutritt hat. In den Vergnügungsarealen jedoch – und dazu zählen hier auch die Opernhäuser und Theater – ist sie gelitten, mehr noch: Allabendlich triumphierten die käuflichen Schönheiten im glitzernden Pariser Nachtleben, sei es auf Bällen oder auf Theatersitzen.

Sie wurden im 19. Jahrhundert umworben, beschenkt – und gekauft.

John Neumeier zeigt dies nicht nur in grandiosen Ballszenen, sondern auch mit einer Theater-im-Theater-Inszenierung:

Er lässt Marguerite zu Beginn und gen Ende des Stücks das Ballett „Manon Lescaut“ nach dem Roman von Abbé Prévost besuchen.

Die Kameliendame wird 40

„Die Kameliendame“ von John Neumeier wird 40 – und die Manon in ihr auch! Hier tanzen Silvia Azzoni und Alexandre Riabko – einst ein superbe Besetzung des Titelpaares – beim Hamburg Ballett sehr lyrisch die verlorene Manon und ihren gebliebten Studenten Des Grieux. Ah! Foto: Kiran West

In der Gedankenwelt der Neumeier’schen Marguerite verselbständigt sich ihre Seelenverwandte Manon – und als Schutzgeist-ähnliche Gefährtin ebenso wie als Todesengel begleiten Manon und ihre Liebhaber das langsame Sterben der Gautier.

Das tänzerische Vokabular der Manon erinnert sowohl an einen der Vorläufer von Neumeiers Werk, es atmet aber vor allem so viel Lyrik und Schicksalshaftigkeit, dass es als Ballett im Ballett in seinen einzelnen Szenen vollauf bestehen kann.

In violett-fliederfarbenen Kostümen (eine Anspielung an die ebenfalls wegweisende „Fliederfee“ im Ballettklassiker „Dornröschen“) genießen Manon und ihr Liebster Des Grieux das Leben und ihre Liebe in vollen Zügen, bevor sie in den Konflikt mit dem Geld und den weiteren Verehrern Manons geraten und schließlich als Kriminelle verfolgt werden.

Anders als Marguerite, hatte Manon nicht die Chance, gesellschaftlich als Kurtisane einen eigenen Status zu erwerben. Manon trifft den Studenten Des Grieux im selben Zeitraum, in dem sie der Verkäuflichkeit anheim fällt. Sie finanziert ihre Liebe zu dem Studenten von Beginn an mit ihren ersten Abenteuern als Luxus-Nutte. Marguerite hingegen ist bereits arriviert, als ihr der charmante Armand über den Weg läuft. Weil er nicht so zynisch ist wie ihre gewohnte Umgebung, sondern sie als Mensch und Mädchen verehrt und ernst nimmt, sich sogar um ihre Gesundheit sorgt – statt nur Spaß mit ihr haben zu wollen – ist sie gerührt. Erst daraufhin gibt sie ihm die Chance, sie verliebt zu machen… aber der Fluch der „Manon“ lässt sie dabei nicht los.

Die Verklammerung der Manon-Geschichte mit der „Kameliendame“ stammt ursprünglich von Dumas: Im Roman schenkt Armand seiner Geliebten das Buch mit der Liebesgeschichte von „Manon Lescaut“, mit einer vielsagenden Widmung, in der er Marguerite moralisch noch über Manon stellt.

Dass die Manon-Geschichte als Theaterszene auftaucht und als wiederkehrende Fantasie und Traumgestalt von Marguerite deren weiteres Schicksal durchzieht, ist jedoch ein originärer Kunstgriff von John Neumeier; einer von vielen, die die Dramaturgie dieses Balletts zu so etwas besonderem machen.

Dass es bereits ein „Manon“-Ballett gab, war dabei sicher hilfreich.

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Melissa Hamilton als „Manon“ mit Jiri Bubenicek als Des Grieux beim Schlussapplaus 2015 nach einer bejubelten Premiere von „Manon Lescaut“ beim Semperoper Ballett. Am kommenden Samstag, den 3.11.2018, premiert in Dresden ein modern ausgerichteter Abend unter dem Titel „Labyrinth“ mit Werken von George Balanchine, Martha Graham, Ohad Naharin und Joseph Hernandez. Viel Erfolg! Foto: Gisela Sonnenburg

Manon“ von Kenneth MacMillan, das 1974 beim Londoner Royal Ballet kreiert wurde und gemeinsam mit der Musik von Jules Massenet auf Abbé Prévosts Vorläufer-Erzählung „Manon Lescaut“ von 1731 basiert, ist das erste abendfüllende Ballett, das sich dem Schicksal einer – mit Verlaub – Nutte widmet.

Allerdings wird auch hier der soziale Unterschied der Liebenden zum handlungstreibenden Thema, und auch hier ist, wie in der „Kameliendame“, nicht die Habgier, sondern die sonstige weltliche Chancenlosigkeit der weiblichen Hauptperson der tiefere Grund für ihre Verführbarkeit zum Geld. Anders als Marguerite, wird Manon verurteilt und verbannt – und sie stirbt in den Armen ihres ihr folgenden Geliebten in den Sümpfen amerikanischer Einöde.

Ein weiteres Vorläuferballett von Neumeiers „Kameliendame“ ist das viel kürzere Stück „Marguerite and Armand“ zu Musik von Franz Liszt, das Frederick Ashton 1963 für Margot Fonteyn und Rudolf Nurejew ebenfalls beim Royal Ballet geschöpft hatte.

Etliche variierte Hebungen und Paarkonstellationen, aber auch die absichtlich „nuttig“ übertriebenen Volants am Kostüm der Hauptperson zitieren in Neumeiers Stück das Ashton-Werk.

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Ein begehrter Mann im „Onegin“-ähnlichen Outfit als Armand: Edvin Revazov vom Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Das Kostüm des Armand, des Geliebten der Kameliendame, stammt hingegen eindeutig aus „Onegin“, dem Meisterwerk von John Cranko, bei dessen Entstehung Neumeier als junger Tänzer im Ballettsaal in Stuttgart mit dabei war. Der schwarze Frack zur schwarzen Strumpfhose ist für alle Zeit im Ballett auf den Dandy Onegin gemünzt – Armand, der längst nicht so wohlhabend ist wie der reiche Erbe Eugen Onegin, imitiert mit seiner Tracht die Freiheit, die er sich zu haben wünscht.

Freiheit – nur gegen genügend finanzielle Mittel ist sie erlaubt. Diese auch heute geltende Regel, die allen heuchlerischen demokratischen Lippenbekenntnissen entgegen gesetzt ist, wird von der „Kameliendame“ ein ums andere Mal gelehrt.

Liebe – was ist das, wenn sie mal nicht der sozialverträglichen Eheanbahnung von Angehörigen derselben sozialen Schicht entspricht?

Eben: Sie ist Sprengstoff im emotionalen Sinn, auch im sozialen – und in philosophischer Hinsicht sowieso.

Nicht von ungefähr ist das tänzerische Vokabular von Armand vor allem von Sehnsucht und Verehrung geprägt. Er ehrt sie, obwohl sie dem Stand nach – als Kurtisane – deutlich unter ihm steht.

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Alexandr Trusch und Alina Cojocaru beim Hamburg Ballett in „Die Kameliendame“: im ersten großen Pas de deux muss Armand seine große Liebe von sich überzeugen… und wie ihm das gelingt, ist so sehr sehenswert! Foto: Kiran West

Marguerite hingegen, die Superreiche, kann es sich erlauben, sich zu zieren – ihre Tanzsprache ist kapriziös, ladylike, sogar divenmäßig. Sie ist zunächst alles andere als das „einfache Mädchen“, das Armand später beim Leben auf dem Lande in ihr findet und sie somit neu kennenlernt.

Lieben heißt Teilen.

Die meisten Menschen heute wissen das nicht oder wollen es nicht wissen.

Aber Marguerite weiß es – und sie lädt Armand ein, an ihrer Welt teilzunehmen.

Gemeinsam entdecken sie das unabhängige „einfache“ Luxusleben auf dem Land, ohne Glücksspiel und Varieté, aber in bestens versorgter, schöner und naturhafter Kulisse.

Der Rest der Story ist Legende. Der Vater von Armand taucht auf und macht Marguerite klar, dass sie Armands Zukunft beeinträchtigt, wenn sie ihn nicht frei gibt. Da sie selbst ohnehin tödlich erkrankt ist, fügt sie sich der bürgerlichen Moral und trennt sich von Armand, ohne ihm den wahren Grund zu nennen. Sie ahnt, dass er die Trennung sonst nichts akzeptiert hätte.

Als er bemerkt, dass sie ihn stärker liebte als er sie, ist es zu spät. Da liest er schon in ihrem Tagebuch, das ihre Dienerin ihm nach Marguerites Tod aushändigte.

Die Kameliendame wird 40

Man verhandelt über die Liebe wie eine Ware, damals wie heute… Hier Alexandr Trusch vom Hamburg Ballett als Armand (rechts) mit Emilie Mazon als Olympia, die seine Geliebte wird, weil Marguerite sich von ihm trennte. Foto: Kiran West

Heute, so die anonym bleibende Inhaberin eines Escort-Service bei einer Tagung über Prostitution im Institut für Europäische Ethnologie in der Berliner Humboldt-Universität in diesem Herbst, würden sich häufig Akademikerinnen bei ihr bewerben: „Das gesellschaftliche Versprechen, Leistung und Fleiß lohnten sich auch für Frauen, wird auf dem normalen Arbeitsmarkt gebrochen.“ Manche würden darum den Weg der Prostitution wählen, um nicht von einem männlichen Privatversorger oder von Hartz IV abhängig zu sein. Da lacht nun womöglich jede ungebildete Hausfrau, die bis zur Scheidung das bessere Los zu haben scheint. Dass die finanzielle Unabhängigkeit von Frauen nicht längst zum Topthema jedweder politischen Bewegung geworden ist, spricht indes weder für den Kampfgeist der Frauenwelt noch für die Bereitschaft der Männer, Macht, Geld und Einfluss abzugeben und mit den Frauen zu teilen.

Man kommt auch nicht umhin, den Zusammenhang von finanzieller und sexueller Unabhängigkeit zu erkennen: Wahrscheinlich verwehren Männer Frauen vor allem auch deshalb den von ihnen unabhängigen sozialen Aufstieg, weil sie, die Männer, sonst als Sexpartner von Frauen einer ganz anderen Konkurrenzsituation ausgesetzt wären.

Es gruselt einen – und doch wird über diese Tabus weiterhin nicht debattiert.

Frauen, so scheint es, sind trotz der Quote in den oberen Luxusrängen dieser Gesellschaft, weiterhin die wahren Verlierer der menschlichen Entwicklung. Es sei denn, sie erachten es als Lebenszweck, sich als Gebärmaschine für eine Industrie zu verdingen, die gar nicht genug Menschenmasse als Konsumenten und billige Arbeitskräfte haben kann.

Frauen sollten wirklich mal darüber nachdenken, was sie machen, wenn sie mehr als ein oder zwei Kinder in diese Welt setzen. Sie stützen damit in unbotmäßiger Weise eine patriarchale, ausbeuterische, am Überschuss von Menschen stark interessierte Wirtschaft und Politik.

Gegen die menschliche Überbevölkerung, die einem begrenzten Nachwachsen von Ressourcen entgegen steht, hat keine Emanzipation eine Chance!

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Immer eine Erinnerung wert: Artem Ovcharenko vom Bolschoi tanzte auch beim Hamburg Ballett als  Gast, mit der ebenfalls dort gastierenden Alina Cojocaru als „Die Kameliendame“ –  sagenhafte  Vorstellungen! Foto: Kiran West

Das Märchen von der Rentenversorgung durch viel menschlichen Nachwuchs dürfte mittlerweile übrigens auch jedem, der rechnen kann, zuwider sein: Wer bezahlt denn dann bitte die Renten all jener, die nur der Rente und der Altenpflege wegen in die Welt gesetzt wurden?

Die Massen von Menschen, die man angeblich braucht (letztlich nur, um der Politik und der Industrie zu einfachen Profiten zu verhelfen), fällt ihr selbst auf die Füße. Die Masse vernichtet sich selbst, einfach dadurch, dass sie zu groß wird. Eine sinnvolle Organisation von Arbeitsplätzen und Wohnraum, aber auch von sauberem Trinkwasser und gesunden Nahrungsmitteln wird so immer schwieriger – bis es dazu kommt, dass nur die Reichen sich ein gutes Leben leisten können, während die Masse der Unterschichtler auch im westlichen Europa so lebt wie in Polen, Rumänien, Brasilien oder gar Indien. Kommt Zeit, kommt Rat? – Oder Massenmord auf Raten. Aber die lieben braven Frauen haben es nicht anders gewollt, sie haben dem Drängen der triebgesteuerten Männer, die sie mit der Aufzucht der Kinder beschäftigt sehen wollen, damit sie ihnen nicht die Jobs streitig machen, nachgegeben – und das bisschen Plus, das Frauen die Natur verlieh, nämlich ein Übergewicht an Verstand über den Trieb, nur zum eigenen Vorteil genutzt. Der Verzicht auf mehr als zwei Kinder wäre da wirklich eine gute Tat!

Insofern ist auch das bedingungslose Grundeinkommen aus meiner Sicht nur zu begrüßen, denn in dessen Folge wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer gesetzlich begrenzenden Geburtenregelung kommen.

Mit Prostitution hat das aber nicht direkt etwas zu tun. Sollte man sie verbieten, wie in Schweden? Oder steigen dann automatisch die Vergewaltigungsrisiken? Soll man Prostitution durch Gesetze und Auflagen kontrollieren und gängeln, wie hierzulande?

Männer scheinen zumindest nicht wirklich bereit, auf Prostituierte zu verzichten. Bemerkenswert erscheint mir in diesem Kontext die Tatsache, dass die meisten Kunden von Prostituierten eben nicht Singles sind, sondern verheiratete oder anderweitig gebundene Männer.

Die Organisation von Liebe, die im Tausch gegen Liebe stattfindet, scheint fast unmöglich – erst recht, wenn man von monogamen Modellen absieht.

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Auch Polina Semionova tanzte schon die „Kameliendame“ von John Neumeier – mit Marlon Dino beim Bayerischen Staatsballett in München. Kommendes Wochenende, also genau am Sonntag, den 4.11.2018, also am 40. Geburtstag der Neumeier’schen „Kameliendame“, premiert La Semionova als „La Bayadère“, in der Version von Alexei Ratmansky beim Staatsballett Berlin – mit Spannung erwartet! Foto: Charles Tandy

Der „Kameliendame“ kann man jedenfalls nicht vorwerfen, eine typische Hure zu sein – dazu ließ ihr die Liebe zu Armand keinen Spielraum. Vielleicht war sie sogar von ihm unerwünscht schwanger, als sie starb, etwas, das auch real existierenden Hausfrauen, Pardon, Nutten, passiert – man weiß es nicht, denn ihre schöne starke Liebe wurde zu früh durch den Tod beendet.

Es ist aber nicht nur der Schauerfaktor, der dieses Ballett zu so einem Höhenflug der Künste macht.

Es ist auch der künstlerische Spielraum, den das Stück den verschiedenen Interpreten – nicht nur denen der Hauptrollen – lässt und der es so beliebt und erfolgreich macht.

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Marianne Kruuse als „Kameliendame“ und Jean-Christophe Maillot, heute Ballettdirektor in Monaco, als Armand – in diesem Blick in ein Programmheft der Hamburgischen Staatsoper aus den 80er Jahren zu sehen. Für viele Fans eine kostbare Anregung! Faksimile: Gisela Sonnenburg

Marguerite kann schüchtern oder auch draufgängerisch getanzt werden, sie kann sehr sanft sein (wie Marianne Kruuse in den 80er Jahren in Hamburg und Ida Praetorius vor wenigen Jahren in Kopenhagen) oder auch sehr herrisch (wie Igone de Yong bei Het Nationale Ballet).

Svetlana Zakharova aus Moskau und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett zu Gast beim Bolschoi verliehen beiden Parts besondere Passion, also eine Leidenschaft, die durchaus masochistische Züge trägt.

Eine nachgerade klassische Marguerite ist Alina Cojocaru, die die Rolle schon in München wie in Hamburg tanzte. Es ist ihr Privileg, dass sie in dieser Rolle beim Hamburg Ballett laut atmen darf! Es sei denn, Alexandr Trusch ist ihr Partner als Armand: Dann übernimmt er das hörbare Ausatmen, ein Seufzen wie aus den Tiefen der Hölle der Liebesqualen.

Armand wiederum kann auch vor allem markant-männlich auftreten (Ivan Liska in den 80er Jahren in Hamburg) oder betont jungenhaft-hingegeben (Alban Lendorf seinerzeit in Kopenhagen).

Immer eine Erinnerung wert ist auch Artem Ovcharenko vom Bolschoi – sein Armand war so verspielt wie verliebt.

Mir persönlich gefiel auch Roberto Bolle sehr gut: Er tanzte mit Hollywood-artiger Dramatik, zitterte vor Wut über Marguerites Abschiedsbrief – und schluchzte laut beim Lesen von Marguerites Tagebuch.

Ach, und da sind noch so viele fantastische Interpretinnen und Interpreten, auch in den so genannten Nebenrollen – man kann sie nicht alle aufzählen, unmöglich ist das, das wäre im Grunde eine Doktorarbeit wert.

So ist also der Roman „Die Kameliendame“ heute fast vergessen, während John Neumeier auf dem Ballettsektor mit seinem Stück immer wieder für Gesprächsstoff sorgt.

Und immer mal wieder auch Nacheiferer findet, die ebenfalls ein Tanzstück nach Dumas’ Roman kreieren. Zuletzt tat das, mit der edelschönen Maria Yakovleva aus Wien in der Hauptrolle, der britische Meisterchoreograf Derek Deane: In Neapel – das damit stark an Ballettansehen gewann – premierte im Spätsommer sehr erfolgreich seine „Dame aux Camélias“, allerdings ohne sich mit Neumeiers genialem Werk vergleichen zu wollen.

Die Kameliendame wird 40

Der Black Pas de deux, der Schwarze Pas de deux – leidenschaftlich und heiß wie Versöhnungssex. Hier Svetlana Zakharova und Edvin Revazov in der Schlüsselszene des modernen Balletts von John Neumeier. Foto: Bolschoi

Echte Fans setzen sich denn auch am 4. November 2018 (sofern sie nicht mit einer der vielen Ballettpremieren an diesem Wochenende beschäftigt sind) artig vor den Monitor, um zur Feier des Vierzigsten dieser kapriziösen Dame mindestens eine der beiden im Handel erhältlichen DVDs der „Kameliendame“ von Neumeier zu genießen.

Zur Auswahl stehen eine Aufnahme aus den 80er Jahren vom Hamburg Ballett, die mit Marcia Haydée in der Hauptrolle lockt, und eine vom Ballett der Pariser Opéra, die Agnès Letestu und Stéphane Bullion als Liebespaar vorstellt. Nostalgiker wählen bitte die erste Version!

Auf youtube warten zudem zahlreiche Anregungen, sich auch mit anderen Besetzungen dieses Balletts zu beschäftigen.

Als da sind: Sue Jin Kang und Marijn Rademaker, damals beide beim Stuttgarter Ballett, unvergesslich im „Schwarzen Pas de deux“, dem schönsten nur denkbaren „Versöhnungsfick“ der Ballettgeschichte. Oder Alessandra Ferri und Roberto Bolle, beide sind ja „Dinosauerier“ der jüngeren Tanzgeschichte – und in der „Kameliendame“ bilden sie ein ebenfalls unvergessliches Traumpaar.

Aber auch Hélène Bouchet und Thiago Bordin, damals beide beim Hamburg Ballett, sowie Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, ebenfalls vom Hamburg Ballett, lassen einen Zeit und Raum mit der „Kameliendame“ als Mini-Video gegenstandslos werden.

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Die aktuellen Besetzungen der Saison in Hamburg haben es allerdings auch in sich: Anna Laudere und Edvin Revazov stehen für eine hochkünstlerische, betont moderne Interpretation, und mit Alina Cojocaru trifft ein Weltstar des Balletts auf den bewusst passioniert tanzenden jungen Alexandr Trusch.

Die Besetzungen in München und Stuttgart im Januar 2019 stehen jetzt derweil noch nicht fest, aber man darf darauf hoffen, Alicia Amatriain, Friedemann Vogel, Elisa Badenes und Jason Reilly, vielleicht auch Hyo-Jung Kang oder David Moore in tragenden Partien in Stuttgart zu sehen.

In München empfiehlt sich Ksenia Ryzhkova, die bereits eine erprobte Neumeier-Interpretin ist, als Nachfolgerin der dort als Erinnerung über allem schwebenden „KameliendameLucia Lacarra, aber auch Laurretta Summerscales wird eine umwerfende „Kameliendame“ sein, man ist sich dessen nachgerade sicher.

http://ballett-journal.de/impresssum/

Lucia Lacarra als „Kameliendame“ beim Bayerischen Staatsballett – eine Legende! Am Wochenende, am Samstag, 3.11.2018, führt sie beim Dortmund Ballett das neue Werk von Xin Peng Wang mit auf, es ist eine Uraufführung nach Dante, namens „Die göttliche Komödie I: INFERNO“. Toitoitoi! Foto: Charles Tandy

Jetzt aber auf, um das kommende Ballett-Wochenende zu organisieren: Beim Dortmund Ballett, beim Semperoper Ballett und beim Staatsballett Berlin warten Premieren und Uraufführungen auf uns, und ob sie es wissen oder nicht: Sie ehren damit auch Neumeiers „Kameliendame“, denn ein 40. Geburtstag ist für eine schöne Frau immer ein besonderer Anlass!

P.S. Alle Ballettdirektoren, Trainingsmeister und Choreografen, die Ballerinen von 40 Jahren für alt halten, sollten sich was schämen. Frauen stehen mit 40 körperlich da, wo Männer sich mit 30 befinden – aber sie sind seelisch und intellektuell meistens ungleich weiter…
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

www.staatsballett.de

www.stuttgarter-ballett.de

www.theaterdo.de

www.staatsballett-berlin.de

www.semperoper.de

 

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