Das Meer verführte schon immer zu erotischen Träumereien. Der dänische Dichter Hans Christian Andersen erfand angesichts der rauschenden Wellen und der schäumenden Gischt „Die kleine Meerjungfrau“ – und der Hamburger Choreograf John Neumeier erfand für sein gleichnamiges Ballett noch einen Dichter hinzu, der zwar einerseits H. C. Andersen zum Verwechseln ähnlich ist, der andererseits aber in körperintensive, tänzerische Kommunikation mit seiner eigenen Erfindung, nämlich der unglücklich verliebten Meerjungfrau, tritt.
Um sich dem Prinzen, den sie vorm Ertrinken rettete, in Menschengestalt nähern zu können, tauscht die Meerjungfrau ihren Fischschwanz gegen Frauenbeine. Auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper sah das in der Vorstellung vom 12. März so aus: Der Meerhexer (furios: Alexandre Riabko) und seine dreiköpfige Entourage aus jungen Männern (geschmeidig: Braulio Álvarez, Florian Pohl, Thomas Stuhrmann als „Magische Schatten“) umzingeln die Meerjungfrau (zart und zärtlich: Silvia Azzoni). Sie heben sie empor, reißen sie aus ihrer Verbundenheit mit dem Meeresgrund und unterziehen sie, begleitet von tobenden, gellenden, wütenden Klängen aus dem Orchestergraben (Musik: Lera Auerbach, Dirigat: Simon Hewett), einer Prozedur, die weniger Zauberei als vielmehr ganz praktisches Umkleiden ist.
Gierig reißt der Meerhexer – ein glatzköpfiger, kriegsbemalter Kerl – der kleinen Meerjungfrau zunächst das Stoffband vom Leib, das sie um den Oberkörper gewickelt trägt. Ha, der Meerhexer macht Beute! Dann geht er an den flatternden, drei Meter langen Hosenrock, der den Fischschwanz der Meerjungfrau darstellt. Auch dieses symbolhafte Kostüm wird Eigentum des Meerhexers, der ihn sich mit triumphierender Geste wie ein Tuch um die Hüften wickelt. Aber die scheinbar magische Zeremonie ist noch nicht beendet! Groteske Bewegungen, ein Rudern und Zappeln mit den Armen sind typisch für den Meerhexer, der sich elegant und wie ein lebendes Orakel durch die Meeressphäre schiebt.
Er ist scharf auf die Haut der werdenden jungen Frau. Auf ihre Fischhaut! Ein hellblau schimmernder Bodysuit ist das, er sitzt passgenau und verleiht der mittlerweile zitternden, wie geschändet dastehenden Kreatur noch einen letzten Rest Würde. Aber um wie eine Menschenfrau zu werden, muss die kleine Meerjungfrau ihn hergeben. Ganz. Der Meerhexer zieht ihr die Haut ruckweise ab, wie man eine Frucht enthäutet oder eine Krabbe schält. Zurück bleibt ein wimmerndes, zartes Mädchen in fleischfarbenem Trikot – nahezu ohne Identität. Kraftlos wie eine Schwerkranke liegt sie in den Armen der jungen Männer aus der Schatten-Entourage, die, obwohl das so ganz gegen ihre piratische Wesensart ist, beinahe Mitleid empfinden.
Ein graues Kleid – wie eine Uniform aus einem Mädchenpensionat – wird der Meerjungfrau (und das bleibt sie) jetzt übergestreift. Sie sieht nicht wirklich schön darin aus. Aber wie ein Fräulein. Man sieht ihre Beine unter dem Saum hervorragen! Wohlgeformte, edle Tänzerinnenbeine, die zuvor unter den seidenblau fließenden Stoffbahnen verborgen waren.
Dann ist das traurige Werk der Verwandlung vollbracht. Aber die kleine Meerjungfrau ist nicht nur eine Frau geworden, sie ist auch verkrüppelt. Ein Rollstuhl steht bereit. Daran hat sie nicht gedacht: dass sie für den Prinzen (galant und wunderschön verliebt in seine Prinzessin: Dario Franconi) keine verführerische Kraft besitzt. Auch wenn die kleine Meerjungfrau auf den neuen Beinen rasch stehen, gehen, tanzen lernt – über kurze Momente der fast zufälligen Nähe zum Prinzen kommt sie nicht hinaus.
Und als sie ihn küssen will, dreht er sich weg, holt aus und spielt mit ihr das „Nasenstüber-Spiel“. Hat er nicht ihre Nasenspitze in der rechten Hand, wenn er diese kurz an ihr Gesicht führt und dann seinen Daumen durch Mittel- und Zeigefinger zieht? Er behandelt sie wie ein kleines Kind. Und setzt noch eins drauf und verpasst ihr pantomimisch einen Kinnhaken. Oh! Es tut ihr weh, als hätte er sie fast K.O. geschlagen. Sie liebt ihn doch, begehrt ihn, wurde für ihn vom Meereswesen zur Frau. Aber das sieht er nicht. Sie ist für den Prinzen ein androgynes, infantil-geschlechtsloses Wesen, jemand, den man durch lustige Streiche zum Lachen bringen möchte.
Die Hochzeit von Edvard, dem Prinzen, mit Prinzessin Henriette (akkurat, freundlich und von flirrender Weiblichkeit: Hélène Bouchet) wird für die kleine Meerjungfrau ein einziger lebendiger Alptraum. Die festlich geschmückten Gäste bilden Paare des Grauens, ihr Tanz wirkt grotesk und mitläuferisch. Und dann muss die Meerjungfrau in einem kitschig-pinkfarbenen Kleid auch noch als Brautjungfer am Spektakel mitwirken! Wie gern wäre sie an Stelle der strahlend schönen Henriette, deren Diadem, das den Brautschleier hält, so funkelt, als seien die Steine die Augen von lebendigem Getier! Heimweh nach dem Meeresgrund ergreift die Meerjungfrau, denn dort ist alle Materie belebt, und jede Alge und jedes Fischlein konnten ihr zuhören.
Und tatsächlich taucht der Meerhexer auf, begleitet nicht nur von den „Magischen Schatten“, die jetzt en travestie in blau gemusterten Kostümen umher springen, sondern auch von vier jungen Damen mit karnevalesken Perücken, die ordentlich für Gewirbel auf der Bühne sorgen. Es sind die Schwestern der Meerjungfrau, die ihr Mut machen wollen. Sie werden von Mayo Arii, Futaba Ishizaki, Ekaterina Mamrenko, Yun-Su Park und Lucia Rios getanzt – mit Verve!
Aber der Meerhexer, der zur Tarnung erst einen schwarz glänzenden Smoking trägt und dann eine schwarzsilbern glitzernde Pluderhose, ist nicht ohne Hintergedanken aufgetaucht. Er springt, auf dem Platz und in die Weite, er zeigt seine Kraft und seine Macht, er ist ein Macher, ein Verführer zur Tat, einer, der keine Skrupel kennt. Und er hat ein Messer bei sich, das will er der Meerjungfrau andrehen. Sie soll sich damit am undankbaren Prinzen rächen! Sie soll ihn töten. Dann darf sie sogar zurückkehren in ihre Unterwasserwelt, zurück in die Gefilde, denen sie entstammt und in die sie passt. Der Meerhexer lockt mit dem glänzenden, seidigblauen Stoff. Die kleine Meerjungfrau soll nach der Tat ihren Fischschwanz zurück bekommen – und alles wird sein wie zuvor.
Aber die kleine Meerjungfrau bleibt standhaft, sie will das Messer nicht, sie liebt den Prinzen ja und kann ihm nichts Böses antun. Und erst, als der Meerhexer sich in eine Reihe mit den anderen dem Meer entstiegenen Kreaturen aufstellt und, ordentlich tänzerisch abhechelnd, die unglücklich liebende Meerjungfrau nach allen Regeln der Körpersprache wortlos aufhetzt, wird sie für die Idee der Rache empfänglich. Jetzt kommt auch der Dichter hinzu, er hat das Messer in der Hand, und er bedrängt die Meerjungfrau, sie von hinten leitend, das gefährliche Instrument zu nehmen. Er drückt es ihr dann sogar in die Hand, weil sie es von sich aus nicht annehmen will. Dann hält sie es – und lernt, ganz langsam, damit zu tanzen. Eine gruselige Stimmung zieht auf. Wird aus der Liebenden eine Mörderin?
Fast könnte man es glauben. Sie versucht wirklich, den Bräutigam von hinten zu erstechen, während er seine Braut umarmt. Doch das misslingt – die Meerjungfrau sticht glatt daneben. Dabei hatte sie sogar Anlauf genommen! Jetzt stolpert sie. Und der Prinz bemerkte ihre Attacke noch nicht einmal, auch Henriette hat gar nicht gesehen, dass da etwas war. So sehr sind die beiden mit ihrer verliebten Tändelei beschäftigt. Oder hatte die kleine Meerjungfrau es sich etwa nur vorgestellt, den Prinzen töten zu wollen? Die Fantasie kann der erste Schritt zur Tat sein. Sie zieht sich in ihren Kummer zurück.
Auch später, als der Prinz launig Golf spielen übt, schafft sie es nicht, ihn heimtückisch umzubringen. Ihr fällt das Messer aus der Hand, der Prinz findet es, lacht, macht Scherze damit. Tatsächlich tut er pantomimisch so, als ersteche er sich – und die Meerjungfrau, in all ihrem Gram, bemerkt nicht gleich, dass er sich nur tot stellt. Sie betrauert ihn, wie sie ihn, die unerreichbare Liebe ihres Lebens, insgeheim sowieso schon betrauert. Da springt er auf und lacht – und wie es so seine Art ist, macht er noch einen zweiten Witz: Er spielt den Messerschlucker für die Meerjungfrau, die er nach wie vor für ein Kind hält, und deren gefühlige Attitüden er ständig missdeutet. Was für ein Spötter ist dieser Prinz nolens volens, und dass er nicht bemerkt, wie sehr er sie seelisch verletzt, macht die Sache nicht besser. Es ist andererseits aber auch todtraurig zu sehen, wie sehr sie an ihrer Liebe festhält, obwohl sie doch ganz offensichtlich für ein anderes Sein geschaffen ist, als an der Seite dieses taktlosen Blenders die Geliebte oder Gattin zu sein.
Sie nimmt Abschied von ihm, ein letztes Mal entsteht eine intime Nähe zwischen den beiden, ein inniger Pas de deux zitiert ihren ersten gemeinsamen Paartanz, der unter dem Meeresspiegel stattfand. Damals rettete die Meerjungfrau den Prinzen Edvard vor dem Tod. Jetzt aber schickt er, und zwar ohne es zu wissen, die verwandelte Kreatur in eine ungewisse Zukunft.
Im Kunstmärchen von Andersen muss die kleine Meerjungfrau sterben, weil ihr Herzensprinz eine andere geheiratet hat. Aber im Ballett hat sie die Möglichkeit, weiter durch die Universen zu ziehen, und sie ist dabei noch nicht einmal allein. Sie nähert sich nämlich dem Dichter an, der mit ihr fühlt – und der mit ihr zusammen einen gemeinsam geatmeten Tanz zwischen den Sternen vollführt. Fazit: Man kann nicht ohne Liebe leben, nicht einmal eine Meerjungfrau kann das. Aber man muss nicht sterben, wenn sie unerwidert bleibt.
Gisela Sonnenburg
Termine: siehe „Spielplan“
Als DVD mit dem San Francisco Ballet: „The little Mermaid – Die kleine Meerjungfrau“ erschien bei C Major Entertainment
Mehr über Neumeiers Meerjungfrau, mal feministisch betrachtet, auch hier:
www.ballett-journal.de/liebe-als-fremdsein-in-der-welt/
UND SEHEN SIE BITTE INS IMPRESSUM: www.ballett-journal.de/impresssum/