Advent, Advent, ein Lichtlein brennt! Phänomenal: Das Hamburg Ballett und die Hamburgische Staatsoper setzen auf Live-Vorstellungen im Opernhaus – trotz Lockdown. Das Bayerische Staatsballett lädt derweil zur kostenfreien Online-Premiere

Ballett-Advent 2020

John Neumeier probt mit dem Hamburg Ballett für sein „Beethoven-Projekt II“ konkret für eine Uraufführung. So etwas gibt es EU-weit wohl nur in Hamburg. Foto: Kiran West

Es ist wie ein Wunder. Und wo – außer im Umfeld des Ballettmagiers John Neumeier – könnte es stattfinden?! Eben. Das Hamburg Ballett unter John Neumeier und die Hamburgische Staatsoper, in deren Geschäftsführung sich ebenfalls John Neumeier befindet, planen ganz real ganz reale Vorstellungen. Ja! Im Dezember 2020! Ich konnte es zunächst auch kaum glauben. Aber so ist es! Am 22.12.20 soll das jüngste Werk des Ballett-Tycoons, das „Beethoven-Projekt II“, uraufgeführt werden – vor Publikum im Opernhaus. Weitere angekündigte Vorstellungen im Dezember und im Januar 2021 versprechen zusätzlich noch Abwechslung, wie etwa verschiedene Besetzungen bei den beteiligten Sängern. So soll im Januar der Kult-Tenor Klaus Florian Vogt den neuen „Beethoven“-Ballettabend sängerisch begleiten. Die musikalische Leitung hat mit Kent Nagano sowieso jenen hochkarätigen akustischen Glanz, den man in dieser Spielzeit nur in Hamburg erlebt. Und während überall sonst in der Republik – zumindest, soweit ich informiert bin – die Theaterlichter erloschen sind und man wie das Bayerische Staatsballett in München bestenfalls für Online-Vorstellungen (oder eben für eine ungewisse Zukunft) probt, hat man in Hamburg die Chuzpe, konkrete Dezember-und Januar-Abende für die Kulturinteressenten zu bestücken.

Ballett-Advent 2020

Marc Jubete: modern, dennoch ästhetisch; eigenwillig, dennoch verständlich. Auf der Probe zum „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Der alljährliche gesungene, gelesene, gespielte oder getanzte Hamburgische Adventskalender mit täglich erneuertem kleinen Programm findet heuer allerdings nur online statt: Der „Literarisch-musikalische Adventskalender der Hamburgischen Staatsoper“ läuft täglich auf dem Staatsopern-Blog.

Wenn Sie dort spenden, vergessen Sie bitte nicht, auch das Ballett-Journal mit einer Spende zu bedenken! Auch hierfür ist es zurzeit bitter nötig! Dann leuchtet dieses Lichtlein im Advent auch für mich.

Ab dem 22. Dezember 20 soll dann die Kunst live im Opernhaus in Hamburg auf der Bühne erstrahlen. Dafür vergisst man doch locker mal alle Sorgen, oder?

Männliche Schönheit in doppelter Vollendung: Kreationsprobe zu „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Tänzer: Jacopo Belussi und Aleix Martínez. Foto: Kiran West

John Neumeier selbst begründet sein Vorpreschen so:

„Ich bringe meine Kreation von ‚Beethoven-Projekt II‘ so zum Abschluss, dass wir sie am nächstmöglichen Termin zur Uraufführung bringen, an dem das Hamburg Ballett auftreten darf. Als Choreograf stehe ich für die Live-Aufführung. In einem Theater zu erleben, wie eine Ballettaufführung im Hier und Jetzt entsteht, ist Nahrung für die Seele. Und die brauchen wir mehr denn je.“

Nahrung für die Seele, Nahrung für den Geist: Bis weit in den Januar hinein plant Neumeier Ballettaufführungen, am 14. und 15. Januar 2021 auch den „Tod in Venedig“, der im Oktober 20 bereits zu sehen war und im November mit einigen geplanten Aufführungen mit Tänzer-Debüts dem Lockdown zum Opfer fiel. Wow! Wir freuen uns!

Zunächst aber auf zu Beethoven! Nach seinem „Beethoven-Projekt“ von 2018, das bereits auf arte und online zu sehen war und zudem auch als DVD im Handel ist, hat sich der geniale Meisterchoreograf Neumeier erneut mit dem weltweit beliebten Klassikkomponisten beschäftigt.

Ballett-Advent 2020

Auch die kunterbunte, abgedrehte Operette „Die Fledermaus“ lockt zur Jahreswende in die Hamburgische Staatsoper! Wer hätte das gedacht?! Foto: Hamburgische Staatsoper

Entwickelt wurden bisher Fragmente von Beethoven-bezogenen, biografischen Bildern, aber auch Tanz pur, von der eindringlich wirkenden Musik auslöst. Klavier- und Kammermusikwerke aus dem zeitlichen Umfeld des Heiligenstädter Testaments (Musikspezialisten wissen jetzt schon Bescheid!) sowie die Siebte Sinfonie und auch ein  Ausschnitt aus dem Beethoven-Oratorium „Christus am Ölberge“ werden zu hören sein.

Und wie man Neumeier kennt, wird es vermutlich auch das wieder geben: Passagen der Stille, ohne Musik, aber mit viel Flair, viel Aura und viel Persönlichkeit in den Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer.

Aleix Martínez, der schon im ersten „Beethoven-Projekt“ von Neumeier auch auf Gastspielen als Hauptperson reüssierte, und der Newcomer-Star Jacopo Bellussi, dem die Corona-Pandemie ganz schön viel vom Karrieredurchstart vermasselte, werden hierin tanzen, dass einem vor Begeisterung das Wort von der Faszination des Tanzes so richtig zu Bewusstsein kommt.

Das sei mal guten Gewissens versprochen!

Die Ballettfans in Deutschland sind gespannt wie nie.

Ballett-Advent 2020

Das „Beethoven-Projekt II“, das hier geprobt wird, sollte eigentlich schon am Nikolausabend vom 6.12.20 premieren – jetzt kommt es kurz vor Weihnachten live! Foto: Kiran West

Der ballettösen Uraufführung – deren Probenfotos bereits sehr verlockend sind – folgt am 23.12.20 weihnachtsgemäß die Humperdinck-Oper „Hänsel und Gretel“.

Ab dem 26.12. soll dann auch das „Weihnachtsoratorium I – VI“ von Neumeier zu sehen sein, ebenso wie ab dem 28.12. die muntere Operette „Die Fledermaus“.

Corona? Was ist das? Man kann es kaum fassen: Ein prall gefüllter Spielplan für den Jahreswechsel und darüber hinaus wird präsentiert – meines Wissens nach ist das einmalig nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa.

Herzlichen Glückwunsch also an die Alster!

Ballett-Advent 2020

Er weiß, was er tut: Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher war Laborarzt und Molekularbiologe – und weiß in Pandemie-Zeiten zwischen gesittetem Hochkulturpublikum und gröhlenden Fußballfans zu unterscheiden. Bravo! Videostill vom ndr: Gisela Sonnenburg

Hamburg hat damit einen von der örtlichen Politik unter Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD – aber eben nicht Berliner SPD) – der zudem Molekularbiologe und Laborarzt war, also vom Mediziner-Fach ist – jenen Sonderweg, der endlich das macht, was wir schon seit langem fordern:

Es wird differenziert zwischen einem weitgehend disziplinierten Hochkulturpublikum und weithin gröhlenden Fußball- oder Rockfans.

Natürlich ist das mutig. Und natürlich hofft man, dass es für die beteiligten Künstlerinnen und Künstler, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nichts zu bereuen gibt.

Denn aus manchen Regionen Deutschlands hört man Hilferufe von Tänzern und Orchestermusikern. Sie haben Angst, dass das Hygiene-Konzept ihres Hauses für sie nicht ausreicht oder es nicht ausreichend umgesetzt wird. In manchen Compagnien soll es bis zu 17 Corona-Infektionen zum selben Zeitpunkt gegeben haben, und auch relativ eng beieinander probende Musiker fühlen sich unwohl, wenn einige von ihnen wegen einer Corona-Infektion krank geschrieben sind.

Von Berlin bis Wien, von Leipzig bis München sind mir Fälle bekannt.

Bislang ist niemand dadurch verstorben und auch schwere Verläufe sind bislang nicht bekannt. Aber ist das nicht ein Spiel wie ein Roulette?

Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit alles eine Frage der disziplinierten Organisation. Wenn die Hygiene-Konzepte eingehalten werden, sind die Chancen für das Corona-Virus sehr klein.

Auch Journalismus ist harte Arbeit: Unterstützen Sie bitte das Ballett-Journal! Spenden Sie! Oder inserieren Sie! Im Impressum finden Sie die Kontakt- und Mediadaten. Und: Kein Medium in Deutschland widmet sich so stark dem Ballett und bestimmten Werten wie das Ballett-Journal! Sagen Sie dazu nicht Nein. Honorieren Sie das! Und freuen Sie sich über all die Beiträge, die Sie hier im Ballett-Journal finden. Es sind schon rund 700 Beiträge und sie entstanden ohne Subventionsgelder. Wir danken Ihnen darum von Herzen für eine Spende – im Gegenzug finden Sie hier reichlich Informationen und Hilfen bei der Meinungsbildung. Googeln Sie mal Ihre Lieblingsstücke mit „Ballett-Journal“! Wetten, dass Sie fündig werden?

Wenn aber die Chorleiter, Dirigenten, Spielleiter und Ballettchefs nicht darauf achten, dass die Hygiene-Konzepte knallhart eingehalten werden, dann gefährden sie das Leben ihrer Untergebenen und aller, die mir diesen Kontakt haben.

Auch die Einzelnen sind aufgerufen, sich streng an die Regeln zu halten!

Ein einziger nicht genügend getesteter Ballettmeister oder ein einzelner ausgelassener Abend oder auch eine einzelne Fahrt in einem voll besetzten PKW ohne Maskenpflicht – und schon ist es passiert. Die Verbreitung des Virus innerhalb eines Künstlerensembles kann dann rasend schnell gehen.

Ballett-Advent 2020

Yun-Su Park in einer eleganten Schwungschleife – während der Kreation vom „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Das Bayerische Staatsballett hat eine solche Krise schon hinter sich. Schon im Oktober 20 musste es seine Pforten wegen mehrfacher Corona-Infektionen schließen, obwohl es damals noch keinen November-Lockdown gab.

Jetzt ist der Münchner Ballettdirektor Igor Zelensky hoffentlich vorsichtiger geworden – und ruft zur Online-Premiere.

Am 20. Dezember 20, also am vierten Advent, wird um 19 Uhr als kostenloser Live-Stream auf www.staatsoper.tv die Ballettpremiere „Paradigma“ zu erleben sein. Es handelt sich um eine „Triple Bill“, also um eine „dreifache Rechnung“, was bedeutet, dass es ein dreiteiliger Tanzabend ist, der drei kurze Stücke, die unabhängig voneinander entstanden, nacheinander zeigt.

Liam Scarlett – hier bei einer Probe beim Queensland Ballet – hat Andere beschädigt und sich selbst ziemlich viel dadurch versaut: Nacktfotos von Ballettstudenten belasten ihn. Videostill von YouTube / Queensland Ballet: Gisela Sonnenburg

Der wegen seiner sexuellen Verfehlungen geächtete britische Choreograf Liam Scarlett (er ließ sich Nacktfotos von Ballettstudenten mailen) steuert beim Bayerischen Staatsballett für die neue Premiere das erste Stück bei, den bereits bekannten Tanz für acht Tänzerinnen und Tänzer mit dem Titel „With a Chance of Rain“. Die „Chance auf Regen“ ist erotisch gemünzt und  bereits international hoch gelobt worden. Aber muss es Liam Scarlett sein? Jetzt?

Letztes Jahr hätte auch ich mich über diese Auswahl noch sehr gefreut. Denn Scarlett kann was, keine Frage, und ich habe ihn selbst oft genug als Nachwuchsgenie empfohlen.

Seit aber in diesem Spätsommer klar wurde, dass er seine eigene Sexualität weit über die menschliche Würde anderer stellt, muss man doch sehr überlegen, ob man ihn einfach so mal eben wieder hochjubelt.

Sollte Liam Scarlett nicht zunächst mehr menschliche Reife dadurch beweisen, dass er sich mit seinem Tätersein auseinandersetzt? Er hat etwas getan – und zwar offenbar mehrfach und nachgerade gewohnheitsmäßig – das abscheulich ist. Ohne seelische Arbeit an sich selbst nehme ich ihm diesem Mann erstmal nix mehr bedenkenlos ab.

Zelensky hat nun allerdings ein Herz für Kriminelle, so hat man den Eindruck.

Denn auch sein Freund, der früher in München häufige Gast-Star Sergej Polunin muss damit leben, dass man ihm kriminelle Energie attestiert.

Hat er doch Frauen und Homosexuelle weltweit krass beleidigt, und mit einem tätowierten Hakenkreuz auf der Brust herumzulaufen, ist in Deutschland ebenfalls rechtlich nicht wirklich haltbar.

Auch Journalismus ist harte Arbeit: Unterstützen Sie bitte das Ballett-Journal! Spenden Sie! Oder inserieren Sie! Im Impressum finden Sie die Kontakt- und Mediadaten. Und: Kein Medium in Deutschland widmet sich so stark dem Ballett und bestimmten Werten wie das Ballett-Journal! Sagen Sie dazu nicht Nein. Honorieren Sie das! Und freuen Sie sich über all die Beiträge, die Sie hier im Ballett-Journal finden. Es sind schon rund 700 Beiträge und sie entstanden ohne Subentionsgelder. Wir danken Ihnen darum von Herzen für eine Spende – im Gegenzug finden Sie hier reichlich Informationen und Hilfen bei der Meinungsbildung. Seien Sie nicht geizig! Wofür zahlen Sie sonst? Hier wissen Sie, wo das Geld bleibt! 

Das zweite Stück der Online-Premiere ist womöglich künstlerisch nicht wirklich haltbar. Und welches Paradigma aus dem Programmtitel hier gemeint ist, steht derzeit noch in den Sternen.

Denn die Choreografin Sharon Eyal hat nicht nur mich bereits mehrfach durch übertriebene Einfalt schon mächtig gelangweilt und verärgert.

Jetzt also durfte sie für das Bayerische Staatsballett tätig werden, mit „Bedroom Folk“, das bereits 2015 in Den Haag uraufgeführt wurde. Es sei „kraftvoll“, lobt das Bayerische Staatsballett seine Auswahl. Und: Es ist ebenfalls für acht Tänzerinnen und Tänzer kreiert.

Warten wir das Malheur ab. Vielleicht wird es nicht ganz so schlimm.

Das dritte und letzte Stück des Programms lohnt allerdings das Warten.

Es ist wunderschön und erinnert an jene Zeiten, als Lucia Lacarra mit Marlon Dino und Erik Murzagaliyev den intensiven, existenzialistischen Pas de trois „Broken Fall“ von Russell Maliphant getanzt hat.

Ballett-Advent 2020

„Broken Fall“ im Dokumentarfilm von Ernst Reinhold auf YouTube mit Lucia Lacarra in der Mitte. Damals tanzte sie beim Bayerischen Staatsballett, das war 2012. Yeah! Videostill: Gisela Sonnenburg

Das in sich geschlossene, aufregende Stück wurde ursprünglich für Sylvie Guillem in Paris kreiert, aber Lucia Lacarra hat es in München zu ihrer Sache gemacht. Eine tolle Frau, zwei tolle Männer und ein Choreograf mit Inspiration! – Was soll da noch schiefgehen?

Dieses Jahr erhält die begabte Jeanette Kakareka mit Jonah Cook und Jinhao Zhang damit eine wirklich wunderbare Debüt-Gelegenheit. Wir freuen uns für die drei, sind gespannt und wünschen: Toitoitoi!

Aber Schönheit hin oder her – Corona ist trotzdem allgegenwärtig und sollte nicht saumselig ignoriert werden.

Darum hier die eindringliche Bitte: Übertreibt es nicht! Überschätzt Eure Kräfte nicht! Probt Euch nicht zu Tode!

Nehmt Rücksicht aufeinander und haltet die Hygiene-Konzepte ein. Bitte!

Ballett-Advent 2020

John Neumeier kreiert mit dem Hamburg Ballett sein „Beethoven-Projekt II“, sein viertes Beethoven-Ballett – und wird das Ergebnis live vor Publikum zeigen können. Was für ein Lichtblick in dieser Zeit! Foto: Kiran West

Dann freuen wir uns auf die kommenden Vorstellungen wie verrückt, seien sie live oder online zu sehen.

Mit den allerbesten und vorsichtigsten Grüßen – Eure
Gisela Sonnenburg

P.S. Am 4. Dezember 20 wurde dann allerdings klar, dass die in Hamburg geplanten Vorstellungen vor dem 11. Januar 21 leider doch nicht erlaubt sein werden – die Infektionszahlen der Corona-Pandemie und die entsprechende Politik des Bundes lassen es nicht zu.

Aber es war eine schöne Hoffnung, möge sie uns Schwung dafür geben, die Festtage mit Online-Streams und DVDs kulturell nahrhaft zu meistern!  

P.S.S: Am 15. Dezember 20 kam dann die Nachricht, dass der Online-stream „Paradigma“ vom Bayerischen Staatsballett auf den 4. Januar 2021 verschoben wird. Dafür befindet sich Deutschland ab dem 16. Dezember 20 in einem harten Lockdown, und nur Kirchen, Synagogen und Moscheen sind dann noch geöffnet – warum dann nicht auch die Theater, Konzerthallen und Opernhäuser, bleibt den meisten Kunstbeflissenen (zu denen nur sehr wenige Politiker gehören) ein Rätsel.

www.hamburgballett.de

www.staatsoper-hamburg.de

www.staatsballett.de

www.staatsoper.tv

Ballett-Advent 2020

Menschen und Musen: Kreationsprobe „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett, mit Yaiza Coll und Aleix Martínez. Und dem Piano! Foto: Kiran West

 

 

ballett journal