Himmelssprung und Höllenqual Zweieinhalb Stunden mit Gala-Anmutung: Die „Debüt“-Ballett-Werkstatt mit John Neumeier und seinen experimentierfreudigen Tänzern

Neumeier spricht: Debüt-Ballett-Werkstatt-Zeit-

John Neumeier spricht – hier auf der letzten Premierenfeier in Hamburg (aktuelle Pressefotos waren leider nicht erhältlich). Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist so wunderbar, wenn Tänzerinnen und Tänzer mit ihren Rollen verschmelzen, als hätten sie sich diese selbst gewählt. Bei John Neumeier und seinem Hamburg Ballett gibt dazu stets die so genannte „Debüt“-Ballett-Werkstatt Gelegenheit. Letzten Sonntag war es wieder soweit. Der die Matinee moderierende Intendant wurde dabei nicht müde zu betonen, dass sein Ensemble die vierzehn tänzerischen Pretiosen, die gezeigt wurden, zusätzlich zum „normalen“ Arbeitspensum einstudiert hatten – sozuagen in der Freizeit.

Allerdings: „Freizeit“ gibt es für engagierte Tänzer ohnehin nur selten in dem Maß, wie sich ein Normalteilnehmer dieser Gesellschaft das für sich selber wünscht. In Neumeiers Truppe, die von großer liebender Ergebenheit zum Boss zusammen gehalten wird, gilt zudem verschärft, dass die Arbeit Vorrang vor allem anderen hat – das Hamburg Ballett ist bekannt für seinen extrem hohen Grad an Besessenheit, was die Tanzwut angeht. Keine andere Company paukt so viele verschiedene Programme pro Saison, geht dazu noch relativ häufig auf Gastspielreisen und bestreitet so insgesamt deutlich mehr Vorstellungen als vergleichbare Ensembles. Dass all dieses seinen Preis hat, wird niemand abstreiten wollen – eine hohe Verletzungsquote ist da sicher nur ein Indiz für das, was andere Menschen „chronisch überarbeitet“ nennen würden.

NUR DIE HARTEN KOMMEN IN DEN GARTEN

Aber wenn der Spruch „Nur die Harten kommen in den Garten“ irgendwo im deutschen Ballettgefilde treueste Anwendung findet, dann sicher hier ihm hohen Norden, wo Neumeier in über 40-jähriger Amtszeit als Ballettchef eine eigene Schule, eine eigene Stiftung mit hochkarätiger Kunstsammlung und, inklusive Bundesjugendballett, gleich zwei Companien aufbaute. Während das Bundesjugendballett spätestens alle zwei Jahre die Teilnehmer auswechselt, wird die Haupttruppe – bestehend aus lauter Eingeschworenen, die mitunter in den ersten Wochen ihres Engagements nicht einmal ein Gehalt bekommen – langsamer, sozusagen softer stetig erneuert. Denn die anspruchsvollen klassisch-modernen Tänze werden für über 40-Jährige irgendwann untanzbar – und in den Corps de ballet sind sogar schon 30-Jährige bereits die Ausnahmen. Das ist weltweit überall so – und keineswegs eine üble Spezialität der Hamburger.

Ballett, wie wir es kennen, ist ohnehin eine jugendsüchtige Kunst, und die „Generationen“, von denen man spricht, sind noch kürzer als die streng biologisch betrachteten von rund 15 menschlichen Lenzen. Umso ärger drängt es junge Tänzer, sich auszuprobieren und ihr Können unter Beweis zu stellen. Bei Neumeier dürfen sie sich für die „Debüt“-Werkstatt was wünschen, und sofern sie Kollegen und Ballettmeister finden, die ihnen helfen, wird dann mit der neuen Rolle gebimst und geprobt, was die „Freizeit“ hergibt. Das Resultat wird entsprechend äußerst stolz präsentiert, es ist eine Visitenkarte, die die Jungtänzer von sich abgeben, und wenn das Programm, wie an diesem letzten Sonntag im Mai, dicht an dicht mit Höhepunkten bestückt ist, entsteht für den Zuschauer fast der Eindruck, man wohne einer Bühnenprobe für eine Gala bei.

Der Einstieg war sanftmütig und melancholisch, mit einem bezaubernden und hochgradig elektrisierenden Sasha Riva als Kostja, der Hauptfigur in Neumeiers vertanztem Tschechow-Stück „Die Möwe“. Ohne zu wackeln oder zu kippeln tanzt Riva schwierigste Balancen, nachdem er sich aus einem Blatt Papier ein Vogelobjekt gebastelt hat. Dieses papierene Symbol seiner Träume lässt er fliegen – und sucht das Sinnbild seiner Utopie alsbald am Boden, als hätte er es unwissentlich verloren. Worum geht es Kostja bei Neumeier? Es ist ein Künstlerballett, spielt im Grenzbereich von Bürgertum und Bohemiens, und Kostja alias Sasha Riva ist der Freiheit der Kunst ebenso auf der Spur wie der Liebe. Sehnsucht verströmt Riva in diesem Part mit jeder Geste – man nimmt ihm den weichen, verträumten, bald auch verliebten Kostja vollauf ab.

Neumeier spricht: Debüt-Ballett-Werkstatt-Zeit-

Sasha Riva, wie er auf Facebook auf einer Probe zur „Möwe“ zu sehen ist – elegant, ausbalanciert und in einen auratischen Sog ziehend… Foto: Quelle: anonymous / . Facebook

Miljana Vracaric tanzte seine Nina. Aber die in asexuelleren Rollen großartige Miljana hat noch Probleme damit, eine potentielle Liebhaberin auf der Bühne abzugeben. Nur zart, scheu und schön zu sein, reicht da nicht – und auch die ambivalenten Gefühle, die Vracaric in anderen Stücken prima darstellen kann, ergeben noch nicht genügend Sexappeal, um als Verliebte auf der Bühne glaubhaft zu sein. Vielleicht ist das Rollenfach der Liebenden einfach nicht ihr Ding – auch das muss es geben dürfen, dass Ballerinen ihre Größe in komischen Charakterrollen und in modernen „Nonnen“-Rollen entfalten. In beidem hat Miljana Vracaric bereits in vielen Neumeier-Balletten Tolles gezeigt – nur die erotische Verliebtheit, nun ja, die wollte ihr meiner Meinung nach auch schon in „Préludes CV“ nicht so richtig gelingen.

Ein zweiter Pas de deux aus „Die Möwe“ – ein choreografisches Selbstzitat Neumeiers aus „Désir“ von 1973 – wurde von Yun-Su Park und Lizhong Wang getanzt. Zärtlichkeit und Feinheit trug dieses Stück Tanz sanft dahin wie der Wind zwei Blätter durch die Gegend weht. Die Prägnanz und den Ausdruck von Sasha Riva – der den Solistenstatus wirklich sehr verdient hätte – erreichten sie mitnichten.

Der „Tanz der Cousinen“ aus Neumeiers „Romeo und Julia“ geriet dann eher zu einem kleinen „Naja“-Stück, weil die drei Tänzerinnen fast nie wirklich synchron waren. Eine der Damen hatte sichtlich Probleme mit der Musikalität… Wenn die Probenzeit knapp ist, kann sowas halt passieren: So eine Werkstatt ist auch da, um die Grenzen des Machbaren aufzuzeigen.

Dafür lieferten Ekaterina Mamrenko und Konstantin Tselikov eine hinreißende Shakespeare-Posse ab: zu Mozarts Musik geht es in Neumeiers „Wie es Euch gefällt“ munter ab, das barfuß tanzende Mädchen darf dem jungen Mann den Melonenhut mit den Zehen vom Kopf lupfen – die zwei necken sich und spielen miteinander wie ausgelassene Kinder. Dabei war Ekaterina während der anfänglichen Probenzeit im letzten Jahr verletzt und hat dann Einiges nachholen müssen – umso bewundernswerter, dass die flotte Nummer so gut klappte.

BAISERLUFTIGER TANZ

Ein baiserluftiges Stück Tanz halsten sich – bildlich gesprochen – Jemina Bowring und Eliot Worrell mit „Nocturne“ (Neumeier / Chopin) auf. Es geht um eine Lovestory unter Fremden… Da wäre bis zur Aufführungsreife sicher noch Einiges zu schuften, aber das Potenzial war erkennbar da – feinnervig und äußerst klar in den Linien. Schön!

Leicht enttäuschend hingegen der gleich zweifach gebotene Verlobungs-Pas-de-deux von Hermia und Lysander aus Neumeiers Meisterwerk „Ein Sommernachtstraum“. Jacopo Bellussi überzeugte als Lysander zwar, und auch Thomas Stuhrmann bot als verknallter Gärtner Lyrik vom Feinsten. Aber die Damen Xue Lin und Yaiza Coll müssten für mein Empfinden noch heftig an den oft verzwickten Schrittkombinationen und den weit geöffneten Beinen bei den Hebungen arbeiten. Die gute Laune für die Rolle bringen beide mit – jede auf ihre Art, Xue Lin etwas vornehmer, Yaiza Coll geradezu freudesprühend.

„A Cinderella Story“ bot dann ein absolutes Highlight: Hayley Page, die erst 21-jährige Newcomerin, tanzte mit superben technischen und darstellerischen Qualitäten die Titelrolle. Es ist die Szene, in der Neumeiers Cinderella zunächst Streit mit ihrem Vater hat (der von Braulio Álvarez mit glaubwürdiger Autorität und Lebendigkeit getanzt wird). Allein gelassen, beginnt Cinderella zu träumen, und Hayley Page nahm uns dank hervorragend in jedes Detail ihrer Arm- und Beinarbeit dringender Anmut mit in die Gedankenwelt des benachteiligten Aschenbrödels. Als Braulio als ihr Vater wieder dazu kommt, ist nachvollziehbar, dass ihn ihr tänzerischer Monolog rührt – und er in einem vielschichtigen Pas de deux den Märchenprinzen für sie spielt. Wie er sie in die Arme nimmt und hoch hebt, sie auf seine Schultern setzt und vorsichtig absetzt, wie sie mit ihm dabei das Mädchenhaft-Frauliche austestet, ist unbedingt sehenswert gewesen – ein de-luxe-Aschenputtel mit einem reif wirkenden Papa.

Aber dann! Dann stürmten Lucia Ríos und Marcelino Libao mit dem Grand Pas de deux aus „Le Corsaire“ in alle Herzen! Diese altbekannte Glanznummer, die versierte Superstars des Balletts in allen Ländern der Welt immer wieder neu heraus fordert, funktionierte auch bei den Jungtänzern in Hamburg einfach fantastisch! Vor allem Lucia bot mit exzellent-eleganten Posen und geschmeidig-weichem Tritt einen Augenschmaus. Marcelinos Himmelssprünge ergänzten das in aufregender Art und Weise – und obwohl er technisch sehr vollkommen war, hatte man doch nie das Gefühl, einer akrobatischen Zirkusnummer beizuwohnen. Das ist wohl das Wichtigste daran, wenn junge Leute solche „Gassenhauer“ des Gala-Balletts studieren: dass sie selbst dann noch, wenn es vor lauter Bravour nur so glänzt, den Inhalt zu vermitteln wissen. Hier kamen das Naturell des tapferen Piraten Konrad und der freiheitsdurstigen Griechin Medora prima über die Rampe.

Wer das Ballettlibretto von „Le Corsaire“ kennt, konnte sich da gut vorstellen, wie die zwei am Ende zusammen mit ihren Freunden aufs offene Meer entfliehen… Seinen hohen Bekanntheitsgrad verdankt „Le Corsaire“ übrigens keinem geringeren als Rudolf Nurejew, der es aus Leningrad nach Paris reimportierte. Aber das ist eine andere Geschichte, für die an anderer Stelle mehr Zeit sein wird. Dem Maximum an Applaus in der „Debüt“-Werkstatt nach zu urteilen, wäre das Publikum aber durchaus happy, „Le Corsaire“ mal regulär und als Ganzes zu sehen. Schon in der kommenden Spielzeit ist dazu Gelegenheit: in München beim Bayerischen Staatsballett.

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Winnie Dias und Luca-Andrea Tessarini als Emilia und Jago in Neumeiers „Othello“ – faszinierend intensiv. Pressefotos gab es leider keine – aber auf Facebook kursiert, was das Herz begehrt. Foto: anonymous / Facebook

Jetzt zurück zur Gala, Pardon, zur „Debüt“-Werkstatt. Mit Neumeiers „Othello“, und da wiederum mit dem besonders schwer zu spielenden „Abrichtungs-Pas-de-deux“ von Jago und Emilia, hatten sich Luca-Andrea Tessarini und Winnie Dias ganz schön was vorgenommen. Aber hallo! Der hinterlistige Jago erfindet hier erst allein eine Strategie der Heuchelei und Bosheit, um Othello reinzulegen – tänzerisch-pantomimisch übt er das Füßeküssen und das tückische Sichverstellen – und schult dann seine bis dahin gutgläubige Gattin Emilia im So-richtig-Gemeinsein. Auf lautes Zählen und Stampfen – „eins, zwei, ein, zwei“, das sie auf Brasilianisch wiederholt, „un, dos, un, dos…“ – folgen schließlich Tritte und andere aggressive Gesten. Wow, da bekam man Gänsehaut: Denn die Stimmung stimmte, es knisterte vor Spannung – und die Choreografie erhielt eine neue, sinnenhafte Interpretation. Der Mut der beiden Protagonisten, sich etwas auszusuchen, das beinahe „anti-ballettisch“ ist, wurde mit verdienten Bravoooos belohnt.

Florian Pohl als sportlich-akkurater Petrus in Neumeiers „Matthäus-Passion“ („Erbarme dich, mein Gott“) wandelte durchaus sicher auf dem Pfad der Askese und der inneren Suche – das Bach-Ballett ist wie „Othello“ ein sehr modern angelegtes Stück Tanz, wenn auch inhaltlich ganz entgegen gesetzt.

Ebenfalls modern und noch immer aufwühlend (obwohl von 1975): Die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“. Leider fehlt dieses Klassestück Neumeier’scher Brillanz ebenso wie „Ein Sommernachtstraum“ im aktuellen Spielplan in Hamburg. Dafür wird beides als Gastspiel auswärts aufgeführt: Der „Sommernachtstraum“ bescherte dem Hamburg Ballett soeben im österreichischen Salzburg einen Triumph, und die „Dritte Sinfonie“ wird es gen Ende der Spielzeit im italienischen Venedig tun. Glücklich sind diejenigen, die das (für mich ultimative) Mahler-Ballett dann sehen dürfen!

SCHRÄG GEWINKELTE POSEN

Das Werkstatt-Publikum musste sich mit einem ersten Versuch begnügen, den Karen Azatyan gemeinsam mit dem darin nun mehr als nur versierten Alexandre Riabko unternahm. Während Alexandre virtuos zeigte, was er Mahler-technisch drauf hat – nämlich wirklich sehr viel, Chapeau! – wirkte Karen noch etwas zurückgenommen, so, als ob er in der fast kantig-modernistischen Körpersprache noch nach der eigenen Passform suchen würde. Die synchron zu tanzenden Passagen waren dennoch sehr schön, mit viel Noblesse und jenem Hauch von fast überstarker Männlichkeit, die die „Dritte Sinfonie“, dieses Männerballett, so sinnlich macht. Karen Azatyan, der erst letzten Sommer vom Bayerischen Staatsballett nach Hamburg kam, und der ein exquisiter klassischer Tänzer ist, wird mit den oft schräg gewinkelten „neumodischen“ Posen vielleicht noch eine Weile üben müssen, um dann richtig loszulegen – man ist darauf gespannt.

Graeme Fuhrman hingegen, der bereits zur Zeit seiner Mitgliedschaft im Bundesjugendballett starke solistische Qualitäten zeigte, bot ein göttliches Bild an Sicherheit und Gewandtheit, an liebender Emotion und moderner Schroffheit, im Partnern wie im Solotanz: in „Um Mitternacht“, einem Mahler-Werk aus der Choreografenhand von John Neumeier, das dieser 2013 zu den Rückert-Liedern Mahlers kreierte. Es geht um einen Mann zwischen zwei Frauen: Bei der Uraufführung tanzten Edvin Revazov, Anna Laudere und Silvia Azzoni.

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Mangels aktueller Pressefotos, aber auch, weil der Vergleich sich lohnt, hier ein altes Bild von „Um Mitternacht“: Siliva Azzoni in grünem Wallegewand, an die Güner Fee der Absinth-Trinker erinnernd… Foto: Holger Badekow

Mayo Arii, die langjährige Ensembletänzerin, die überraschenderweise ab der folgenden Saison als Solistin unter Vertrag genommen wurde, tanzte mit Graeme den Schluss des Balletts – es geht um den Neuanfang einer Beziehung in diesem Pas de deux. Allerdings brachte Mayo nicht das Mütterlich-Fürsorgliche und dennoch Erotische auf, das Anna Laudere verströmt. Und auch das Abgehoben-Ätherische, das Siliva Azzoni in „Um Mitternacht“ kreierte, vermag Mayo so noch nicht als Flair zu produzieren. Wir werden abwarten, wie sie sich entwickelt.

Gar nicht abwarten mochte man hingegen bei Mathias Oberlin als Gaston aus der „Kameliendame“. Da hatte sich mal jemand total vergriffen – und überhaupt nicht kapiert, was er da eigentlich zu tanzen hat. Oberlin, der sehr begabt ist und auch beim Prix de Lausanne vor einigen Jahren eine gute Figur gemacht hat, tanzte das muntere Sado-Solo von Gaston zwar die ganze Zeit über mit der Peitsche in den Händen, so wie vorgeschrieben. Aber bei ihm hätte es auch irgendein Ziergegenstand sein können. Gebt dem Kind einen Kreisel, dachte ich… Und haltet es bitte von dieser Rolle künftig fern! Und für Oberlin muss gelten: Üben, üben, üben, junger Mann – und zuvor bitte erstmal eine Runde Nachdenken.

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Ein aktuelles Foto war nicht zu haben – aber Hélène Bouchet ist eine unvergessen großartige „Kameliendame“, hier zu Beginn der „Sofa-Episdoe“ im „Spiegel-Pas-de-deux“. Foto: Holger Badekow

Auch der zweite Auszug aus der „Kameliendame“, wiewohl heiß ersehnt, enttäuschte. Carolina Agüero, die an sich eine ganz fabelhafte Kameliendame abgeben müsste, war offenkundig zugleich unter- und überfordert. Der „Spiegel-Pas-de-deux“ war angesagt, also der erste von den drei wichtigen Paartänzen der beiden Hauptfiguren: in Neumeiers Jahrhunderballett nach dem Roman von Alexandre Dumas dem Jüngeren. In dieser Szene verliebt sich die lungenkranke Kurtisane Marguerite in ihren stürmisch-idealistischen Verehrer Armand. Technisch ist dieser Pas de deux nicht der schwierigste. Aber vom Ausdruck her, da hat er es in sich. Denn die Kameliendame muss sich hier gleichsam wie nebenbei vorstellen, in all ihren prägnanten Charakterzügen.

Leslie Heylmann gelang dieses vorzüglich, als das stets „Kameliendamen“-hungrige Publikum beim jüngsten „Tag der offenen Tür“ in Hamburg eine Probe besehen durfte (siehe: www.ballett-journal.de/ballettzentrum-hamburg-allianz/). Ihr Partner Alexandr Trusch bot ihr den nötigen Schmelz, aber auch die entsprechende technische Präzision. Beides ließ er am Sonntag in der „Debüt“-Werkstatt etwas vermissen. Lag es an zuwenig Probenzeit?

Carolina Agüero jedenfalls tanzte die todkranke, von düsteren Zukunftsaussichten geplagte Kameliendame, als sei sie eine sorglose, verwöhnte Reiche. Das war nicht eben ergiebig. Das einzige Problemchen dieser Frau schien es zu sein, ob sie den jungen Liebesanwärter namens Armand nun als Bettgenossen annehmen soll oder nicht… ganz so plump aber geht es in der Liebe nicht voran.

Man könnte nun die Schuld kurzerhand auf die Tänzerin schieben, was aber zu kurz gedacht wäre. Schließlich kennt man Carolina aus vielen verschiedenen Aufführungen, auch aus diversen Rollendebüts – und man weiß darum, dass in ihr eine entzückende, vielseitig schillernde Marguerite steckt.

SIND IMMER DIE BALLETTMEISTER SCHULD?

Bleibt als zweite Möglichkeit, die Ballettmeister unter Verdacht zu stellen. Denn auch John Neumeiers Leute sind nur Menschen und vertun sich mal, nobody is perfect – und hier scheint zudem übergroße Routine so Einiges versaut zu haben. Denn was mit der einen Tänzerin geht, geht mit der nächsten eben nicht – die „Kameliendame“ ist in den letzten Jahren so häufig auch außerhalb Hamburgs gecoacht worden (zuletzt in Amsterdam), dass sich da vielleicht schon fast zwangsläufig Ermüdungsanzeichen einstellen.

Vielleicht sollten Neumeier und sein avisierter Nachfolger Lloyd Riggins sich mal nach Verstärkung des ballettmeisterlichen Teams umsehen – vielleicht auch ruhig mal wieder außerhalb des Ensembles vom Hamburg Ballett. Denn frisches Blut bewirkt bekanntlich mehr als Ultherapie und Facelifts zusammen. Die Hamburger Ballettmeisterin Leslie McBeth, die in der aktuellen Spielzeit einen Großteil der hervorragend gelingenden Szenen coachte, war zum Beispiel auch nie Tänzerin in Hamburg, sondern kam erst als Coach und Trainingsmeisterin zur Truppe. Nach den Regeln der Dialektik wäre ein charakterstarker Mensch mit einer von Neumeier weniger abhängigen Ausbildungsgeschichte ein gutes Gegengewicht zum „im-eigenen-Saft-Schmoren“, einer unübersehbaren Gefahr beim Hamburg Ballett. Dieser Gedanke kam einem übrigens schon öfters auch bei Vorstellungen in den letzten beiden Saisonen.

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Stark auratisch, aber leider als Pressefoto nicht beim Pressebüro von John Neumeier erhältlich, sondern nur via Facebook zu dokumentieren: Futaba Ishizaki und Christopher Evans in „Giselle“. Fotos: Bruce Zinger / Facebook

Die nächste Gala-reife Darbietung auf der „Debüt“-Werkstatt wischte hingegen alle Bedenken wieder glattweg vom Tisch: Futaba Ishizaki, von mir ja schon längst für diese Rolle ersehnt, erstrahlte als klassische „Giselle“, als sei sie eine Ikone der Romantik. Wenn die Spannung so sehr stimmt und der Energiefluss, wenn die Fußspitzen stets so hübsch gestreckt sind und das Köpfchen mit den Armen so sehr harmoniert – dann steht die Giselle alias Futaba perfekt da. Es geht hier nicht um kalte Technik, nicht um das perfekte Penché und auch nicht um ein neben dem Ohr zu platzierendes Adagio-Bein. Das darf, wie hier, auch mal entfallen, zumal bei einer solchen Debüt-Gelegenheit. Denn es geht um: Kunst. Nicht Akrobatik! Die künstlerische Gabe, eine junge Frau als ätherischen Geist darzustellen, hat wirklich nicht jede Tänzerin in so starkem Ausmaß wie Futaba. Futaba Ishizaki tanzt die Giselle, als sei sie dafür gemacht, mit geradezu sprichwörtlicher Aura – man würde sie zu gern im kompletten Stück sehen.

Christopher Evans, der jüngste Shooting Star beim Hamburg Ballett, assistierte ihr denn auch mit elegant-inniglicher Attitüde. Und seine seriellen Entrechats sind so exakt und dennoch lieblich, dass man kaum die Augen davon lassen kann!

Schade nur, dass Madoka Sugai, deren Leistungen im letzten halben Jahr durch eine schwere Verletzung beeinträchtigt waren, als Myrtha noch nicht ganz zu überzeugen wusste. Nun ist die kühle Queen der weißen Horror-Feen auch wirklich schwer für ein so junges Mädchen zu tanzen – und Madokas Begabung lag schon immer im Emotionalen, nicht in der Zurschaustellung cooler Kalkulation. Am besten gefiel sie mir mal als Witwe in Neumeiers „In the Blue Garden“ – es war so ergreifend zu sehen, wie die frohgemute Madoka Sugai durch die Choreografie zu einer völlig anderen Person wurde.

JAMMERN AUF HOHEM NIVEAU

Aber, ich kann es nur wiederholen: Grenzen aufzuzeigen, ist auch ein wichtiges Ziel so einer „Debüt“-Werkstat, und wenn man hier jammert und leidet, dann auf selbstredend sehr hohem Niveau.

Auf ebensolchem verabschiedete sich Neumeier für den Mai: Mit einem Auszug aus seinem „Nijinsky“, getanzt von Aleix Martínez in der Titelrolle und Silvia Azzoni als Nijinskys Frau Romola. Am Ende der gezeigten Passage stand gar ein Zitat aus „Giselle“, passenderweise, zumal man das romantische Original mit Futaba Ishizaki gerade erst gesehen hatte: Die Tänzerin steht da in einer Arabeske, auf die Schultern des vor ihr knienden Tänzers gelehnt – beide sind nicht frontal, sondern diagonal zur Rampe platziert.

In diese für das romantische Ballett typische Positur mündet in „Nijinsky“ die berühmte Verzweiflungsszene mit dem Schlitten – Nijinsky windet sich darin in Krämpfen am Boden, leidet durch psychische Krankheit Höllenqualen, während seine Frau versucht, sich ihm anzunähern und ihn zu unterstützen.

Azzoni, die die Rolle der Romola schon öfters tanzte, war fabelhaft in ihrem Wechselspiel aus Helfenwollen und Unglücklichsein. Aleix jedoch tanzte im Grunde den „Messias“ und kein für sich neues Stück – er ist großartig in diesem Impetus, aber keineswegs so durchtrieben und sogar sexistisch, wie es der durchgeknallte Nijinsky hier sein muss. Jiří Bubeníček, der die Rolle uraufführte, hat nun mal eine unnachahmliche, zugleich düstere und kreative Power. Weder Thiago Bordin noch Alexandre Riabko – die beide in den letzten Jahren den „Nijinsky“ tanzten – konnten Bubeníček da das Wasser reichen. Insofern fehlte Aleix vielleicht das „Urvorbild“, nach dem er dann selbst seine eigene Interpretation hätte finden können.

Insgesamt aber begeisterte diese „Debüt“-Werkstatt so stark, dass die Zeit wie im Flug verging – trotz der zweieinhalb Stunden pausenloser Länge.
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

 

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