Die Droge Romeo – und legales Cannabis in den USA Jonah Cook als neuer Romeo in München – und Alexandr Trusch beim Hamburg Ballett. Neumeier versus Cranko? Außerdem: legale Nebenwirkungen der Trump-Wahl

Die Droge Romeo

Alexandr Trusch als Romeo und Florencia Chinellato als Julia in John Neumeiers „Romeo und Julia“ beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow (Ausschnitt)

Manchmal nähern sich die Gegensätze so stark an, dass die Welt zu zerspringen droht. Das ist bei manchen Liebespaaren der Fall, das gilt aber auch für die Optionen mancher US-Staaten bei der Präsidentenwahl. So wählten sich die Amerikaner zwar just den ultrakonservativen Milliardär Donald Trump zum Präsidenten, in einigen Staaten aber votierten sie zugleich für die Legalisierung von Cannabis. In Kalifornien, Massachusetts, Nevada und Maine darf dank der jüngsten Wahlergebnisse im Heimanbau gezüchtet und ohne Angst gekifft werden, und in Florida wird THC immerhin als Medikation anerkannt. Konsumindustrie, du holst sie dir wohl alle, ob mit üppigem Fastfood, hochprozentigen Getränken oder mit legalisierten Haschischwolken. Bleibt darauf hinzuweisen, dass Ballett als Rausch am schönsten mit sehr klarem Kopf ist – und die beiden aktuellen Romeos Alexandr Trusch beim Hamburg Ballett und Jonah Cook beim Bayerischen Staatsballett taugen da durchaus als gefährliche Einsteiger-Droge.

Zweiter Hinweis: Die neuesten Forschungsergebnisse sehen Marihuana nicht ganz so harmlos wie seine Anhänger. Wie jede psychogene Substanz vermag es den Charakter zu verändern, und das selten zum Guten.

Von Ballett ist so etwas hingegen nicht bekannt!

Nebenwirkungen bestehen hier allenfalls im himmelhochjauchzenden Glücksgefühl bei Vorstellungsende – oder auch im erwartungsfrohen Anstehen nach neuen Karten in der Kassenhalle. Na, aber das lässt sich doch alles aushalten, oder?

Zwei Romeos, einer im Norden und einer im Süden der Republik, sind jedenfalls jede Wartezeit und jede Anreise wert.

Die Droge Romeo

Jonah Cook in „Romeo und Julia“ von John Cranko beim Bayerischen Staatsballett. Auf dem Foto von Wilfried Hösl ist er allerdings nicht als Romeo, sondern als Mercutio zu sehen!

Immerhin dreieinhalb Jahre nach seinem durchaus gefeierten Hamburger Rollendebüt als Titelheld in John Neumeiers „Romeo und Julia“ hat im Norden der bildschöne Alexandr Trusch jede Unebenheit seiner Darstellung in ein kraftvoll-vitales Schauspiel verwandelt. Er ist technisch in jede große und kleine Finesse der Rolle hineingewachsen – und vermag mit wenigen, aber deutlichen Blicken und Gesten so dermaßen zu rühren, dass man schon in der ersten Pause reif für eine melancholische Heulerei ist. Schön! Schneuz!

Im Ernst: Selten sah man einen Nachwuchsstar so rasch ein derartiges Maß an Perfektion erreichen. Truschs Romeo ist wild, impulsiv und triebgesteuert, ein Lümmel mit Allüren, aber er ist auch schwärmerisch, zärtlich und traumtänzerisch, vor allem in seiner Verliebtheit in Julia.

Mit Hélène Bouchet hat Trusch nun ein Optimum an Wahrheitsliebe im Tanz gefunden: Es mag sehr viel sehr harte Arbeit dahinter stecken, aber was man sieht, ist ein Paar, das sich gesucht und endlich gefunden hat.

Auch Bouchet hat in den letzten Jahren in der Partie der Julia noch weiter gelernt, vor allem in den feinen Einzelheiten der Mimik und des Spiels. Obwohl sie auch schon mit Thiago Bordin, der das Hamburg Ballett schon längst in Richtung Nederlands Dans Theater verließ, ein vergötterungswürdiges Paar abgab.

Nur war der Knalleffekt zwischen ihrer Zartheit und einem Romeo mit dem ruhigen, sanft-harmonischen Bordin nicht so extrem wie mit dem exzessiv verknallten Trusch. Tja, und wenn sich die Gegensätze anziehen und vereinen, so ist das eben auf der Theaterbühne stets ein ganz besonderer Charme, der da entsteht.

Die in der Neumeier’schen Version betonte Kennenlernphase des tragischen Pärchens gestaltet Hélène Bouchet mittlerweile mit so origineller, ungehemmt-uneitler Spielfreude, dass man glaubt, man habe das Stück noch nie gesehen, selbst wenn man es bereits seit einigen Jahrzehnten immer mal wieder anschaut.

Köstlich tanzt sie die ungeschickte Julia, die vor ihrer Liebe zu Romeo noch hilflos durch die Gegend stolpert, gern auch mal plumpsmäßig ausrutscht und hinfällt.

Die Droge Romeo

Hélène Bouchet probt als Julia für Romeo – hier mit Thiago Bordin beim Hamburg Ballett. Fotos von Holger Badekow / Faksimile aus dem Programmheft der Hamburgischen Staatsoper: Gisela Sonnenburg

Wenn sie dann versucht, mit ihren Cousinen einen Festtagstanz zu bestreiten und Romeo ihr dabei begeistert-anfeuernd zuschaut, dann beginnt sie verlegen zu grinsen wie ein Kasperlegesicht und wirkt damit so uneitel, dass es sie als Primaballerina doppelt ehrt, sich so stark auf diese kindhafte Rolle einzulassen. Ehrensache, dass diese Julia sich spektakulär verhaspelt, bevor sie langsam das vornehm-edle, geschmeidige Tanzen lernt.

Das Tanzen vor anderen ist eines der zahlreichen Leitmotive in Neumeiers „Romeo und Julia“. Julia tut es, die fahrende Schauspielertruppe tut es, Romeo tut es vor Julia, und auch der sterbende Mercutio tut es. Das Corps de ballet tut es: als eine Art Kampftanz, wenn es um den Streit der Clans der Montagues mit den Capulets geht, und die Capulets tun es, wenn sie ihre Familienpower auf einem Heiligenfest demonstrieren.

Aber wenn Neumeiers Stück beginnt, dann ist von Festtagen erstmal noch nichts zu sehen.

Dann schlendert der romantisch-verstiegene Bruder Lorenzo mit einem Korb voller Heilkräuter herein, und Marc Jubete, der diese Rolle von Sasha Riva übernahm, weiß den Part verhalten, fast introvertiert und dennoch mit großer Wirkungskraft zu gestalten. Hier wächst ein junger Heiliger heran, eine Art jungmännliche Hildegard von Bingen, oder ein mönchischer Naturwissenschaftler, der seinen Forschertrieb im Einklang mit seinen Gebeten auslebt.

Doch da schläft Einer auf der Bühne, und Lorenzo weckt ihn mit einigem Rütteln: Es ist Romeo, der seinen Rausch ausschlief; nach vielleicht durchzechter Nacht (oder auch nach einem Pfeifchen mit Bruder Lorenzo) hatte er, ein Montague, vor dem Haus der Capulets ausgeharrt, um dort seine aktuelle Flamme Rosalinde abzupassen.

Das Motiv des Aufweckens zieht sich durch John Neumeiers Inszenierung wie ein roter Faden.

Die Droge Romeo

Alexandr Trusch, fotografiert von Kiran West vom Hamburg Ballett: Einer der besten jungen Tänzer weltweit.

Erst ist es Romeo, der beim Erwachen die Frische des Tages in sich aufsaugt. Das ist durchaus auch symbolisch zu nehmen: Erleuchtung und Tiefe verströmt die Aura des jungen Kirchenmannes für Romeo, und der empfindsame, ungestüme Romeo ist jemand, der darauf ganz heftig reagiert. Es handelt sich halt um eine richtig enge Jungensfreundschaft hier; die zwei verstehen sich, notfalls auch ohne große Worte.

Später wird Julia von Romeo versehentlich geweckt, und nach ihrer Liebesnacht, als er sich mit einem letzten Kuss davon stehlen will.

Das Motiv des Aufweckens kehrt sich später ins Tragische:

In der zweiten Hälfte des Stücks wachen die scheins schlafenden Personen nicht mehr auf. Da erschrecken sich Julias Cousinen, als sie an ihrem Hochzeitsmorgen (schein)tot ist. Julia wiederum hofft am Ende in der Gruft, als sie ein letztes Mal erwacht, Romeo würde nur schlafen, als sie ihn am Boden findet. Aber er hat seinen Dolch schon im toten Leib. Weil er sie, seine Julia, nicht mehr aufwecken konnte…

Wie ein Flechtwerk verbinden solche Leitmotive die Choreografie und das Libretto.

Man hat nicht umsonst schon bei der Uraufführung 1971 in Frankfurt / Main bemerkt, dass John Neumeier in „Romeo und Julia“ die Brecht’sche Dramaturgie und den Brecht’schen Begriff vom Epischen Theater aufs Ballett übertragen habe.

Denn die Spielebenen durchmischen sich und die Akteure wechseln dabei die Ebenen; so spielen Romeo und Mercutio mit den (tanzenden) Schauspielern, die in einem Wagen auf die Bühne gefahren kommen, um eine zweite Welt, die der Künstler, mitzubringen.

Mercutio stirbt denn auch, als sei er einer von ihnen, als gehöre er zum so genannten fahrenden Volk. Er trägt einen ihrer Umhänge und kaschiert sein langsames Sterben als kunstvoll-satirisches Spiel.

Das ist natürlich eine unübersehbare Anspielung auf die Gefährlichkeit des freien Künstlerlebens, es ist zudem auch eine metaphorische Darstellung des Todes an sich: Der Tod als Theatergestalt macht allem Schauspiel ein Ende.

Die Droge Romeo

Noch einmal Alexandr Trusch mit Florencia Chinellato in „Romeo und Julia“ beim Hamburg Ballett – ein Foto von Holger Badekow

Die „Stuttgarter Nachrichten“ merkten 1971 übrigens an, dass Neumeiers „Romeo“ im Grunde fast eine Art Hamlet-Figur sei: ungewöhnlich tiefsinnig und psychologisch durchdacht, mit einer Entwicklung, wie sie sonst oft nur Romanfiguren aufweisen.

Mit dem gedankenverlorenen Hallodri, als welcher Romeo sonst oft gezeichnet wird, hat Neumeiers Ballettfigur eher gar nichts zu tun.

Es gab schon viele tolle Neumeier-Tänzer, die dieser Partie zudem ihren Stempel aufdrückten und umgekehrt von der Bühnenerfahrung mit dieser Partie geprägt wurden.

Aber Alexandr Trusch scheint sie alle in sich zu vereinen; seine Geschmeidigkeit, seine Anmut, seine Expressivität ermöglichen es ihm, zusammen mit seinem außerordentlichen, indes niemals aufgesetzt wirkenden schauspielerischen Können, einen „Romeo assoluto“ zu zeigen.

Wirklich, für viele, die ihn gesehen haben: Trusch, der absolute Romeo-Darsteller unserer Zeit!

Das Schlagwort vom Brecht’schen epischen Theater kann man dabei gern mit aufnehmen.

Alexandr Trusch spielt eben nicht naiv und sich ganz und gar hinein steigernd. Sondern er bewahrt eine zweite Ebene, er zeigt die Rolle vor, er vermag es sogar, aus einer edlen Pose auszusteigen, in Lockerheit zu verfallen, um dann sofort wieder einzusteigen. Etwa, als er Julia bittet, ihn mit auf den Balkon kommen zu lassen.

Die gestisch-mimischen Partikel dieser Inszenierung sind derzeit in dieser Besetzung außerordentlich schön heraus gearbeitet. Jeder versteht darum die Choreografie, auch wenn man von Ballett vielleicht noch gar keine Ahnung hat.

John Neumeiers „Romeo und Julia“ ist denn auch insgesamt eine der besten „Einstiegsdrogen“ in die Ballettwelt!

Zum Einen wegen ihres starken schauspielerischen Realismus. Realismus im Ballett? Ja, mitunter gibt es das, vor allem in den Neumeier’schen Handlungsballetten. So hat Julia, wenn sie das Schlafgift nahm, um tagelang scheintot zu sein, große körperliche Schmerzen von dem Kräutersaft. Es ist eben nicht wie im Märchen, wo man wie von Feenhand mal eben ohnmächtig wird. Das Medikament – oder die Droge – verursacht Julia heftiges Bauchweh, dazu Übelkeit, Halluzinationen, Gleichgewichtsstörungen. Das kommt einer schweren Vergiftung sehr nahe.

Hélène Bouchet tanzt und spielt das so eindringlich, dass man sich an den ärgsten Bauchschmerz erinnert fühlt, den man je hatte.

Und sogar, wenn Julia im Penché auf Spitzenzehen in makelloser Pose von den Männern ihres Lebens im Kreis geführt wird, so hat dieses auch eine realistische Tragweite: Dieses Mädchen suchte sich Orientierungs- und Zielpunkte im Leben, und diese  wurden stets personifiziert von Männern. Julias Verhältnis zu ihrer Mutter hingegen ist bei Neumeier offenkundig schwieriger. Das ist ein filmreifes Rollenprofil, das sogar über das, was Shakespeare für seine jugendlichen Liebhaberin  entwarf, weit hinaus geht.

Auch die Straßenszenen, in denen ein Kind einem anderen ein Bein stellt und dafür eine schellende Ohrfeige erhält, sind geradezu cineastisch, so realitätsgetreu choreografiert. Man fühlt sich wie in einem lebenden Panorama, in dem Vieles gleichzeitig passiert – bei jedem neuen Vorstellungsbesuch kann man dann bewusst hierhin oder dorthin schauen, um da mal nichts zu verpassen.

Zum großen Erfolg von Neumeiers Romeo-Version  tragen aber auch die weiteren szenischen Leitmotive bei, die atmosphärisch und symbolhaft zugleich wirken. Sie binden den Zuschauer ebenfalls ein in einen Kosmos, der für ihn umso vertrauter wird, als er sich schon ein bisschen darin auskennt.

Die Droge Romeo

Noch ein Blick ins aufschlussreiche Programmheft der Hamburgischen Staatsoper zu John Neumeiers „Romeo und Julia“: Es zeigt Fotos von Holger Badekow. Darauf sind Alexandr Trusch und Florencia Chinellato bei der Probenarbeit zu sehen.

Das Motiv der Kräuter zieht sich zum Beispiel auch durch Neumeiers Stück. Damit sind wir schon fast wieder bei den kiffenden Trump-Wählern: Die mal berauschenden, mal heilenden, mal vergiftenden Effekte von Naturdrogen waren schon immer ein heißes Eisen, unterlagen Tabus ebenso wie hemmungslosem Missbrauch.

Drei Mal taucht in Neumeiers Romeo-Ballett der Bruder Lorenzo mit seinen Kräutern auf, unscheinbar, dennoch markant als Naturkundiger, ein zugleich unauffälliger und doch mysteriöser Mann; und als er Julia das verhängnisvolle Schlafgift reicht, da bleibt die Welt für gefühlte fünf Minuten stehen.

Julias Visionen und Erinnerungen, ihre Ängste und Hoffnungen illustrieren dann die Bühne. Sie weiß, dass Lorenzos Kräutertrunk, der sie todesähnlich schlafen lassen wird, gefährlich ist. Diese Kräuter sind wie Drogen, und Lorenzo hat nicht von ungefähr von weither Ähnlichkeit mit einem Beatnik oder einem Hippie.

Mit seinem romantischen Plan, zwei verhinderte Liebende zusammen zu bringen, muss ein solcher Lorenzo allerdings scheitern. Er kann Kräuter mischen, aber für strategisches Denken ist er nicht befähigt.

So wird jedem, der die literarische Vorlage von William Shakespeare kennt, klar, dass dieser freundlich versponnene Neumeier’sche Pater Lorenzo viel zu jung und viel zu wenig weitsichtig ist, um für das Liebespaar, das sich ihm anvertraut hat, auch wirklich Sorge zu tragen.

Und während bei Shakespeare ein reitender Bote seine Mission verpennt und Romeo nicht mehr rechtzeitig erreicht, um ihm mitzuteilen, dass Julia in der Gruft nur scheintot sein wird, und während in den anderen Balletten einfach angenommen wird, man werde Romeo schon in aller Ruhe von Julias Scheintod umfassend informieren (was für eine absurde Idee!), spart Neumeier all diesen Kitsch aus – und lässt Julia zwar davon träumen, sich wie ein Dornröschen von Romeo wach küssen zu lassen, aber Bruder Lorenzo denkt zeitgleich keineswegs daran, dass die von ihm vergiftete Julia sich nicht wie auf Knopfdruck hin automatisch erheben und wach werden wird, sowie Romeo sich ihr nähert.

Es ist denn auch ein großer Schwachpunkt etwa des Balletts von John Cranko, dass es hierin gar keine dramaturgische Motivation für das fahrlässige Verhalten des Priesters gibt. John Neumeier hat eine: Der Priester ist nicht dumm, aber eine Art Drogenguru, und als solcher ist er selbst in seiner Welt der psychogenen Substanzen weitgehend befangen.

Was in Romeos Kopf unweigerlich abgehen wird, wenn er von Julias Tod erfährt, hätte Lorenzo, wäre er weniger verträumt, ja eigentlich absehen müssen.

Aber vermutlich nimmt er selbst von den Heil- und Giftkräutern, mit denen er experimentiert, gelegentlich zu viel.

Hierin steckt auch eine Ermahnung, nämlich an die Selbstüberschätzung der Wissenschaft.

Die Droge Romeo

Marc Jubete tanzt den Bruder Lorenzo – eine vornehm verhaltene, aber auch dubiose Figur eines Kirchenmannes in John Neumeiers „Romeo und Julia“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Dass sein Plan eigentlich zwangsläufig schief gehen muss, hat Lorenzo nämlich nicht bedacht, und damit ähnelt er genau jenen Wissenschaftlern, die Waffen, Nano- oder Gentechprodukte herstellen, ohne wirklich zu wissen, wie schädlich diese in den Nebeneffekten wirken werden.

Damit sind wir auch wieder bei Trump, dem viele nicht nur alles Gute, sondern auch alles Schlechte wünschen mögen. Selten wurde ein neuer Präsident wegen seiner rechten Sprüche so gefürchtet, so gehasst. Dass ausgerechnet seine Wahl die Legalisierung von Drogen zur Folge hat, mutet wie ein Treppenwitz der Geschichte an.

Bei Romeo ist allerdings klar: Er braucht keine Drogen, um high zu sein, ihm genügt die Verliebtheit als Lebenselexier.

Erst ist es Rosalinde, eine Cousine Julias, der er verfallen ist, und in deren ergattertes rosa Tüchlein er genüsslich die Nase steckt, als wäre es eine intime Stelle ihrer Körperlandschaft. Für Rosalinde, von Leslie Heylmann mit spritziger Souveränität getanzt, besucht unser Held denn auch das Fest bei den Capulets.

Mit seinen Freunden Mercutio (umjubelt, auch wegen der brillant getanzten Sterbeszene und seinen tollen Sprüngen: Karen Azatyan) und Benvolio (keck und kommunikativ: Konstantin Tselikov) gibt Romeo ein fast ganovenhaftes Trio ab. Was für eine wilde Bande! Vor lauter Abenteuerlust wissen sich die Drei kaum zu halten, und es ist ein Mini-Drama für sich, was mit ihnen und ihrer Freundschaft geschieht.

Wenn sie synchron in einer Reihe oder versetzt in Pfeilspitzenform sich drehen, springen, die Beine strecken und die Arme hochreißen, dann verströmen sie alle Lebenslust der Welt, die kräftige, aber nicht unsensible Jungs nur haben können.

Aber das Schicksal reißt sie auseinander.

Schließlich stirbt Mercutio durch einen Unfall im hitzigen Gefecht, und Romeo rächt ihn, er tötet Julias Cousin Tybalt im Affekt.

Dabei hatte er zu Tybalt (sehr schön nuanciert getanzt von Dario Franconi) seit einer spielerischen Fechtbegnadigung und seit dem Fest im Haus der Capulets schon fast eine freundschaftliche Beziehung.

Es sind denn auch atemberaubende, fulminant absolvierte Fechtszenen beim Hamburg Ballett!

Die Droge Romeo

Noch ein Blick ins Programmheft der Hamburgischen Staatsoper mit Fotos von Holger Badekow zu „Romeo und Julia“ von John Neumeier. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Als aber klar wird, dass sie als Montague (Romeo) und Capulet (Tybalt) familiär verfeindet sind, verkehrt sich Tybalts Zuneigung und Respekt für Romeo sehr schnell in Hass, und zwar umso stärker, als er sich von dem von Beginn an um die Familienangehörigkeit des anderen wissenden Romeo nun benutzt und arglistig getäuscht sieht.

Der große Dauerstreit der beiden machtpolitisch einflussreichen Familien zerstört insofern sowohl die muntere Jungmannwelt als auch die Liebesaussichten Romeos und Julias.

Denn natürlich ist es die Tochter des Hauses selbst, eben Julia, an die unser so gar nicht scheuer Jüngling Romeo bald vollauf sein Herz verliert. In ihrer schüchternen Seele erkennt sich der leichtfüßige Bursche mit so tiefen Gefühlen wieder, dass er in ein unglaublich süßes, hingerissenes Seligkeitslächeln verfällt.

Paradoxie, dein Name heiße Liebeskraft!

Der heimlichen Eheschließung von Romeo und Julia durch Bruder Lorenzo – nur die Amme (wie immer hinreißend als großtantenähnliche Autorität: Anne Drower) ist ihre Zeugin – folgt eine heiße Liebesnacht, von der wir nur die Verabschiedung am Morgen sehen. Allerdings sind die Liebenden so malerisch und poetisch arrangiert, tanzen so verschmelzend verliebt miteinander, so rückhaltlos vertrauensvoll und doch so schrecklich unter Zeitdruck stehend, dass man in dieser Intensität ihres Tanzes auch die Spuren der vergangenen Nacht erkennt.

Alexandr Trusch und Hélène Bouchet sind hier derart miteinander verwickelt und verbunden, dass man, auch wenn man das Ballett nicht kennen würde, sofort wüsste: Das müssen Romeo und seine Julia sein!

Er hat ein impulsives Temperament, das im Umgang mit ihr gezähmter, reifer wird. Er lernt sie zu halten, zu heben, zu verführen – und er lernt, sein bisheriges Leben und seine bisherigen Maßstäbe für sie auf den Prüfstand zu stellen und dann sogar aufzugeben.

Dieser Romeo von Alexandr Trusch ließ früher nichts anbrennen, er war ein Hans-Dampf-in-allen-Gassen. Seine fantastischen großen Sprünge, die makellosen Grand jetés, die geradlinigen, aber niemals harten Arabesken zeugen davon: Hier hat ein junger Mann schon Einiges an Lebenserfahrung gesammelt. Er ist bereit für eine Veränderung, für eine Reifung.

Julia hingegen ist neugierig und aufrührerisch, sie ist, wie viele Mädchen im Teenageralter, vollauf mit ihrer eigenen Ich-Werdung beschäftigt. Ihrer schönen Mutter gegenüber hat sie regelrecht Komplexe, und wenn diese das Töchterchen nach deren Bad besucht, um ihr ein Medaillon zu schenken, dann weiß Julia gar nicht, wie sie sich eigentlich verhalten soll.

Die Droge Romeo

Hélène Bouchet tanzt die Julia von John Neumeier – mit sehr viel Spielfreude und wunderschönen Körperlinien. Foto: Kiran West

Hélène Bouchet tanzt diese kichernde Unsicherheit mit einer Grazie, die schier unbeschreiblich ist. Denn eigentlich ist ihre Julia hier noch fast so etwas wie ein kleiner Trampel. Aber nur fast… und die selbstbewusste, erotisch liebende junge Dame, die sie dank der Begegnung mit Romeo alsbald wird, ist hier schon in Grundzügen zu erkennen.

Die Pas de deux von Neumeiers Julia mit Romeo sind dann die Höhepunkte des Abends, sicher auch der Ballettgeschichte.

Der impulsive Abenteurer ist ganz gefangen vom Charme dieser putzigen, ihn manchmal fast wie ein Hündchen tätschelnden kindlichen Jungfrau.

Dass sie sich wohl fühlen in der Nähe des anderen, leistet die Choreografie in hervorragendem Ausmaß: Wie Magnete ziehen diese Liebenden sich immer wieder an.

Wie anders tanzt da doch der offizielle Bräutigam von Julia mit ihr!

Geduldig, ja, und führungsstark, ja. Aber kann ein Mann mit einer Frau überhaupt tanzen, wenn sie ihn partout nicht liebt?

Graf Paris, sehr toll, sehr lichtern und nachgerade prinzenreif von Aljoscha Lenz getanzt, weiß nicht, woran er mit seiner Verlobten ist. Fragende Blicke tauscht er mit Julias Vater (ehrbar und unerschütterlich: Florian Pohl). War Julias Mutter vor der Ehe vielleicht auch so komisch drauf?

Die Eltern, mit Anna Laudere als Julias elegant-disziplinierter Frau Mama, drängen Paris, immer wieder mit Geduld an seine kleine Braut heranzutreten. Doch die hält es nicht aus, sich vorstellen zu müssen, dass sie ihn und nicht ihren Romeo nächtens in den Armen halten soll… Sie sträubt sich, sie weint, sie macht Theater – so sieht es Paris, der sich nicht mal persönlich abgelehnt fühlt, sondern ihr Verhalten einer übergroßen Angst vor der Sexualität zuschreibt.

Die Droge Romeo

Tod in der Gruft: Romeo (Alexandr Trusch) hat sich erdolcht, weil er nicht wusste, dass Julia (Florencia Chinellato) nur scheintot war. Foto vom Hamburg Ballett: Holger Badekow

Später, als Julia scheintot in der Gruft liegt, kommt Paris (bis zum Schluss ganz galanter Gentleman) mit einer roten Rose und legt sie auf den aufgebahrten Körper. Dann darf er mit Trauer im Gang, aber einigermaßen gefasst wieder gehen – somit gibt es bei Neumeier nur vier junge Tote statt fünf, wie bei Shakespeare und in anderen Romeo-Balletten.

Denn auf ein Duell zwischen Romeo und Paris (welches für Paris in der Literarvorlage tödlich endet) kann man hier tatsächlich dramaturgisch gut verzichten.

Romeo aber, der sich ohnehin schon in die Gruft hineinschlich wie ein Verbrecher (was er ja auch nach den damaligen Maßstäben durch den Totschlag an Tybalt war), stürmt alsbald auf die rote Rose, also auf Julias Grab zu.

Er reißt entschlossen die Schleierdecke von dem geliebten Gesicht und küsst die scheintote Geliebte (die heimliche Ehefrau!) wieder und wieder. Er presst sie an sich, er nimmt ihre schlaffe Hand, er sucht mit den Lippen auf ihrem Gesicht nach einem Lebenszeichen – umsonst.

Und rasch fasst er den Entschluss, sich mit seinem Dolch zu erstechen.

Er stirbt, wie er gelebt hat: ohne zu zaudern, ohne eine Sekunde Lebensenergie zu vergeuden. War sein früheres Ziel der Rausch der totalen Liebe mit Julia, erreicht er jetzt sein Todesziel mit genau derselben Vehemenz. Denn auch jetzt will er mit Julia vereint sein, notfalls im Jenseits. Leben ohne sie scheint keinen Sinn zu machen – er hatte alles auf die Hoffnung mit ihr gesetzt.

Trusch zeigt das so eindringlich, als sie die Rolle extra für ihn kreiert worden.

Dass „Romeo und Julia“ von John Neumeier schon 45 Jährchen lang von wechselnden Tänzergenerationen interpretiert werden, sieht man dem blitzblanken Stück denn auch überhaupt nicht an. Es wirkt frisch, unverbraucht, lebendig – gerade nicht museal oder „altmeisterlich“.

Die Droge Romeo

Alexandr Trusch hält Florencia Chinellato als Julia (die ab 2013 seine Partnerin in der Rolle beim Hamburg Ballett war) in „Romeo und Julia“ schön fest – so zu sehen auf einem Foto von Holger Badekow.

Die wohltuende Ästhetik, die sich mit einer Fülle an schauspielerischen Details auch im Corps und in der Statisterie vereint, ist zudem unübertrefflich und typisch für die Ballette von John Neumeier, aus denen man stets erquickt und wie verjüngt heraus kommt – und niemals dumpf benebelt oder stumpfsinnig zugedödelt. Es ist das Genie von John Neumeier, das hier wirkt, sodass man trotz der tragischen Geschehnisse auf der Bühne Erhabenheit, Mut und Hoffnung tankt.

Dass vieles dennoch, trotz der ästhetisch stilisierten Form, auch so sehr natürlich wirkt – also wie die Ballerinen und Ballerini das so sichtlich durchleben – gehört zu den Spezialitäten und „Geheimrezepten“ Neumeiers, die ihm so schnell ganz einfach niemand nachmachen kann.

Er hat seinen Lehrmeister John Cranko denn auch rasch überflügelt damals. Wobei Neumeier ihn wohl nie so bezeichnen würde – aber dennoch hat der Ältere den Jüngeren sichtlich geprägt, von Balanchine über Cranko und anderen hin zu Neumeier ist es eine Entwicklung, die man erkennen kann.

Als Tänzer bei Cranko in Stuttgart beschäftigt, kannte Neumeier dessen „Romeo und Julia“ quasi auswendig, bevor er die Möglichkeit dazu hatte, sein ganz eigenes Stück durch Eigenschöpfung dagegen zu setzen.

Da mag manches als Anti-Definition entstanden sein; Vieles aber wurde vor allem durch die Musik und durch die gewaltige Wirkung des Theaterstoffes bei Neumeier ausgelöst.

Last not least half seine Freude an psychologischer Durchdringung, das Stück so zu gestalten, dass es auch heute so knackig frisch und mitreißend rührend wie am ersten Tag wirkt: weil die Psychologie des Menschen eine zeitlose Sache ist. Die zudem jede(r) verstehen kann.

AUCH DER ROMEO VON JOHN CRANKO KANN SICH SEHEN LASSEN

Nun sollen aber die „Romeo“-Version von John Cranko und auch die Fassungen von Kenneth MacMillan und Yuri Grigorovich nicht schlecht geredet werden. Sie sind sicher die bedeutendsten, die im 20. Jahrhundert entstanden, nach der von Neumeier – und sie gehören zur grundsoliden, aber auch aufregenden Repertoirewelt, die international rauf und runter getanzt wird.

Das Bayerische Staatsballett hatte in der Vergangenheit mit Polina Semionova als Gaststar, mit Katherina Markowskaja und mit der auch diese Saison im Stück tanzenden Ivy Amista Darstellerinnen der Julia par excellance.

Die Droge Romeo

Maria Shirinkina vom Bayerischen Staatsballett in „Romeo und Julia“ von John Cranko. Ihre Pose ist allerdings nicht ganz so typgerecht im Sinne Crankos wie zum Beispiel einst die von Katherina Markowskaja oder Ivy Amista in der Partie. Foto: Wilfried Hösl

Im neuen Stab, den der aktuelle Ballettdirektor Igor Zelensky mit viel Anhänglichkeit ans Mariinsky Theater in Sankt Petersburg zusammen stellte, gibt es jetzt eine russische Julia, die von sich reden macht: Ksenia Ryzhkova.

Während sie als Partnerin von Sergej Polunin in „La Bayadère“ in München noch nicht jeden überzeugte, ist sie als Julia nachgerade wie gemacht für diese Rolle – insofern man Julia als Sinnbild der unschuldig-naiven Jugend sehen möchte.

Das ist der große Unterschied zur Neumeier-Version: Bei Neumeier haben Romeo und Julia Psychogramme, sie haben – so jung sie auch noch sind – ganz realistisch bereits Lebensgeschichten und daraus resultierende Verhaltensweisen.

Bei Cranko hingegen (und auch in zahllosen anderen Romeo-Adaptionen) stehen Romeo und Julia für junge Menschen wie unbeschriebene Blätter, über die man nichts weiß und von denen man nichts wissen muss – außer, dass sie sich ineinander bis in den Tod verlieben, obwohl oder weil ihre Familien verfeindet sind.

Diese übermenschlich starke erotische Liebschaft legt sich hier auf die beiden Charaktere und macht alles andere an ihnen unsichtbar.

Die geborene Moskowiterin Ksenia Ryzhkova, die am Bolschoi ausgebildet wurde und dann im Stanislawski in Moskau tanzte, ist noch so blutjung, dass man ihr die Julia vermutlich auch ohne Make-up aufs Rollenprofil schreiben würde.

Sie ist neu in München, aber bereits versiert genug, um sich ganz auf ihren Tanzpartner einzulassen. Da hat sie mit dem vielseitig hoch begabten Jonah Cook aber auch Glück: Er umtänzelt sie als Romeo so verliebt, dass sie automatisch zum Zentrum des Stücks wird, allein durch das, was er ihr zu geben vermag.

Die Droge Romeo

Jonah Cook, hier im Portrait, hat den „Romeo“ von John Cranko erst ein Mal im Nationaltheater in München getanzt. Foto: Bayerisches Staatsballett

Der noch blutjunge Jonah Cook hat zweifelsohne ein sehr großes Potenzial, aber wo der „Wundertänzer“ Alexandr Trusch bereits alles auszutanzen vermag, was in ihm steckt, muss Cook bestimmte Grenzen der emotionalen Darstellung vielleicht noch überschreiten lernen. Er ist ja auch erst dabei, sich als Solist überhaupt einen Namen zu machen.

Sein Romeo ist dafür genau richtig: Mit seiner elastischen Statur vermag Cook in die Haut des Cranko’schen Romeos zu schlüpfen, als habe er nie eine andere Person dargestellt.

Darsteller und Dargestelltes verschmelzen hier völlig… wobei kein starker Charakter, sondern lediglich Verhaltensweisen die Figur prägen. Das ist bei John Cranko, dessen Choreografie 1962 in Stuttgart uraufgeführt wurde, so angelegt.

Cooks Romeo ist denn auch zunächst betont albern, rabaukenhaft, kindhaft, ja kindisch – mit seinen Kumpels im Verbund. Da ist Benvolio, getanzt vom smarten, noch sehr jungen Dimitrii Vyskubenko, der von der Moskauer Bolschoi-Schule kommt und sich bereits diverse internationale Preise ertanzt hat.

Und da ist Mercutio, dem sitzt der Schalk im Nacken: immerzu flirtend, immerzu auf dem Sprung, wie ein Bub, der auf Radau aus ist, der dabei aber beste Laune versprüht. Alexey Popov, am Vaganova Institut in Sankt Petersburg ausgebildet und dann in den nicht nur gut beleumundeten Tourneetruppen vom Mariinsky Theater den Erdball bereisend, hat jetzt die Chance wahr genommen, in München ein Solist mit eigenem Profil zu werden, um so ein ganz bestimmtes Publikum an sich zu binden.

Und das wird wohl was werden! Denn wenn Popov springt, dann hat das was von Flummiball, so rasch, so leise, so linientreu geschieht es. Seine gut geformten Beine ergänzen seinen athletischen, aber schmalen und hoch gewachsenen Oberkörper. Harmonische Bewegungen sind ihm offenbar in die Wiege gelegt, so leicht sehen sie bei ihm aus, wiewohl er Rhythmus und Ausdruck furios zu variieren weiß. Auch sein Gesicht ist schmal, mit ausdrucksstarker Mimik versehen – er ist ein Mercutio wie aus dem Theaterlexikon, mit leicht diabolischem Spiel und unendlich viel Temperament.

Zu dritt sind diese Jungs – Romeo, Benvolio, Mercutio – ein Powerpaket, das die Welt aus den Angeln heben könnte. Ein Ausbund der Jugend – und der Freiheit!

Wäre da nicht der Streit der Familien, also der Montagues mit den Capulets. Auch bei John Cranko zeigt sich die Aggression, die Spannung zwischen den Menschen in Shakespeares Verona. Allerdings nicht, wie bei Neumeier, bereits bei den Kindern und Bediensteten beginnend, sondern vor allem als groß angelegter Erwachsenen-Showdown.

Die Droge Romeo

John Crankos „Romeo und Julia“ beim Bayerischen Staatsballett. Hier nicht mit Jonah Cook und auch nicht mit Ksenia Ryzhkova. Foto: Wilfried Hösl

Für Romeo und seine Freunde ist es dennoch zunächst ein Spiel, sich hier einzuschleichen und einfach mitzumachen. Doch dann wird es immer ernster…

Der Machtgedanke ist durchaus politisch geprägt und trägt Züge von typischen Renaissance-Merkmalen. Man repräsentiert und will dadurch verdrängen. Man zeigt eine Stärke und Souveränität, die womöglich im Innern des familiären Gefüges so gar nicht vorhanden sind.

Romeo und Julia sind hier die Seismografen, die die Leere hinter den Prunkfassaden erfassen und aufspüren. Sie leiden darunter, unbewusst, und eben das macht sie so anfällig für die große Liebe, die jedes Vakuum mit hoch sinnlichem Gefühl ausfüllen will.

Um solch ein Vakuum zu erspüren, muss es aber erstmal die Fassade geben.

Der imposante „Tanz der Ritter“ bei den Capulets – mit der Präsentation der golddurchwirkten Kissen als Machtsymbolik – gehört denn auch zu den Höhepunkten in Crankos Sinn. Als würde sich eine ganze Armee in höfischem Gewand schräg vorwärts bewegen, so unerbittlich mutet der Gruppentanz hier an.

Das Bayerische Staatsballett tanzt das sauber, auch mit viel Elan – und durchaus jener herrschaftlichen Haltung, die hier fast bis ins Monströse hinein verlangt wird. Es ist eine erschreckende Schönheit, die diese Capulets hier verbreiten!

Na, und dagegen unsere beiden verliebten Youngsters!

Gegen so viel etabliertes Denken, wie es sich bei den höfischen Rittern voller Etikette manifestiert hat… Jonah Cook und Ksenia Ryzhkova als Romeo und Julia nehmen sich da aus wie zwei Fohlen, die von einer intakten, einsam gelegenen Ökowiese in den Sündenpfuhl menschlicher Machtmachenschaften gerieten…

Die Droge Romeo

Ksenia Ryzhkova vom Bayerischen Staatsballett: Sie tanzt die Julia sehr überzeugend. Foto: Bayerisches Staatsballett

Crankos Julia schwebt dabei regelrecht vor Verliebtheitsmomenten – und ihr Romeo himmelte zwar erst Rosalinde an, bis er diese total frustrierte, weil er sich auf den ersten Blick in Julia verliebte und für diese Rosalinde einfach links liegen ließ.

Aber dann dreht dieser Romeo so richtig auf, ist dermaßen verliebt, dass er die Welt um sich herum völlig vergisst.

Bei Neumeier ist es übrigens keine Liebe auf den ersten Blick, sondern ein von Blick zu Blick wachsendes Interesse aneinander. Erst beim miteinander Tanzen gehen Romeo und Julia dann so richtig die Herzen füreinander auf…

Bei Cranko aber sind sie Knall auf Fall ein Paar, eigentlich fast, ohne es selbst wirklich zu wollen. Das Schicksal überrollt sie sozusagen, ausgerechnet auch noch mit ihren eigenen Gefühlen. Die Liebe als das Unberechenbare…

Aber auch familiäre Liebe ist im Stück enthalten.

Vor allem Julias Cousin Tybalt, getanzt von dem äußerst ansehnlichen, dynamischen Matej Urban, steht für die Hoffnung der Herrschenden, die diese auf ihren Nachwuchs setzen. Tybalt ist sozusagen der junge Patriarch hier, zugleich aber auch, als Capulet,  der direkte Gegenspieler zu Romeos Trio.

Er tötet – versehentlich – Mercutio, weshalb Romeo sich auf ihn stürzt und ihn umbringt.

Ohne Tybalt würde also die ganze Tragödie so nicht stattfinden…

Insofern ist er eine hier wichtige Figur, und Matej Urban füllt sie mit seiner ihm eigenen starken Bühnenpräsenz. Er ist, wie Jonah Cook und Ivy Amista, einer jener Künstler, die noch ganz das auf Vitalität und Dramatik setzende Flair der im Sommer 2016 beendeten Ivan-Liška-Ära beim Bayerischen Staatsballett vermitteln.

Der Schock wegen Tybalts Tod betrifft dann vor allem Julia und ihre Mutter.. Bei Neumeier schüttelt Anna Laudere im Schrecken der Trauer als Mutter Capulet ihr langes offenes Haar, bedeckt den Toten mit sich, nicht nur mit ihren Tränen.

Die Droge Romeo

Romeo und Julia nehmen den verdienten Applaus entgegen: Jonah Cook und Ksenia Ryzhkova im Nationaltheater in München. Foto: Wilfried Hösl

In Crankos Szenario in München macht Séverine Ferrolier als Gräfin Capulet ganz auf Dramaqueen! Der Tod eines hoffnungsvollen Verwandten, hier des Neffen, schwächt die ganze Sippe – es geht da nicht nur um den Trauerfall eines Einzelnen.

Die Sippe. Sogar im Schlafzimmer einer Braut ist sie präsent. Besonders da!

Cranko schuf für den Hochzeitstag der Julia einen „Tanz mit den Lilien“ für die Freundinnen Julias, der in München allerdings mit noch zu harten Spitzenschuhsohlen getanzt wurde. Wenn das Klackern der Schuhe nun so laut ist, dass die Musik es überhaupt nicht überdecken kann (und die Klänge hier sind zu zart, um das zu tun), dann ist das nicht nur schön.

Da überzeugte die Faschingsszene der Narren weit mehr: Ausgelassen toben die verkleideten Tänzer über die Bühne, akrobatisch versiert und mitreißend schon allein durch ihre Fröhlichkeit.

Die Musik von Sergej Prokofjew ist ja ohnehin meisterlich, moderne Ballettmusik, die in der damaligen Sowjetunion speziell für den großen Bühnenauftritt des damals zeitgenössischen Balletts in Auftrag gegeben wurde. Die meisten choreografischen Fantasien zum Stück enwickeln sich denn auch mustergültig aus der Musik heraus und mit ihr zusammen.

Graf Paris hat es in Crankos Fassung allerdings schwer. Er ist fast nur Staffage, ein blasser, unscheinbarer Mann, der wenig zu tanzen hat. John Cranko wollte seine Julia wohl gar nicht erst in einen Zwiespalt treiben. Würde sie Paris attraktiv finden, würde das ihrer Liebe zu Romeo möglicherweise etwas den Glanz nehmen.

Romeo ist halt der Superstar bei Cranko, und Jonah Cook weiß diese Rolle sehr gut wie vom Blatt zu spielen: Wie ein Schulbub, mitten in der Pubertät, kommt er aus dem Glücksgefühl der Verliebtheit gar nicht mehr heraus. Die Welt um ihn könnte einstürzen!

Diese Egomanie von Verliebten, die sich ja bekanntlich in der heißen Phase ihrer Beziehung grundsätzlich nur noch aufeinander beziehen, kann in der Realität auch ganz schön hinderlich sein.

Bei Shakespeare, Neumeier und Cranko aber sorgt sie selbstverständlich vor allem für ein Hochgefühl, das durch die künstlerisch-kreative Umsetzung unterfüttert und gefestigt wird.

Erst wenn Julia von der Heirat mit Paris bedroht ist, weicht das Glücksgefühl der Rebellion, der Trauer, der Wut, der Depression, die folgerichtig im Suizid endet. Ein psychisches Untergangsszenario im Zeitraffer.

In den schönsten Szenen zuvor aber triumphiert die Liebe in all ihrer schillernden Entfaltungskraft!

In der berühmten Balkonszene etwa tanzt Crankos Romeo seine Liebe für Julia, hoch motiviert, bevor es dann auch zum delikat-erhebenden Paartanz kommt.

Mit wunderbar „fliegenden“ Sprüngen will Jonah Romeo Cook seine Julia hier erobern; es macht ihm einfach Spaß, vor ihr ein wenig mit seiner körperlichen Fitness anzugeben.

Bei Neumeier geht es hingegen auch um Romeos Sehnsüchte in diesem Tanz. Er will Julia nicht nur gefallen, sondern erzählt auch von dem, was ihn bewegt, was er erreichen will. Er hat zweifelsohne eine erotische Obsession, und die ist zum Zeitpunkt des Tanzens vor dem Balkon ganz und gar auf Julia zugeschnitten.

Man muss ja einfach süchtig werden nach diesen wilden, ungestümen Bengels, so unterschiedlich sie sind: Da ist Neumeiers Romeo, der sich entwickelt und von der Liebe verändern und prägen lässt, und da ist Crankos Romeo, der, ohne viel darüber nachzudenken, in sein tödliches Lebensschicksal wie in ein offenes Messer rennt.

Sie haben beide so viel an sich, das auch Ballett ausmacht: die Leidenschaft, die Hingabe, die Ausdauer, die rückhaltlose Liebe zu allem, was man gerade macht.

Die Droge Romeo

Julia in den Armen von Romeo, in John Crankos Version des Stücks beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Die Totalität, mit der Liebe im klassischen Ballett oftmals auftritt, erinnert selbstredend an Suchtverhalten. Aber gäbe es eine inspirierendere Droge als Romeo?

Von ballettösen Romeos können die meisten von Trumps Kiffer-Wählern vermutlich nur träumen, wenn sie das überhaupt noch können.

Traumpaare wie Friedemann Vogel und Polina Semionova (die früher in München den „Romeo“ tanzten), wie Alexandr Trusch und Hélène Bouchet in Hamburg und wie Jonah Cook und Ksenia Ryzhkova (wieder in München) haben allerdings die Möglichkeit, uns mit ihren Gaben so dermaßen zu überschütten, dass wir das Glück jedesmal neu definieren lernen. Danke!
Gisela Sonnenburg / Franka Maria Selz

Termine: siehe „Spielplan“

Texte zu weiteren Besetzungen:

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-romeo-und-julia/

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-portrait-neumeier-romeo/

www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-ballerinen/

www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-romeo-und-julia/

www.hamburgballett.de

www.staatsballett.de

 

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