Neumeier, Neumeier oder Neumeier? Ballette von und mit John Neumeier und dem Hamburg Ballett gibt es online – sein „Beethoven-Projekt“ gleich auf zwei Kanälen sowie dauerhaft als preisverdächtige DVD

Beethoven im Ballett

Aleix Martínez im „Beethoven-Projekt“ von John Neumeier: Der brillante Tänzer füllt eine Mammutpartie locker mit Luftdirigenten-Zulage. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Die Auswahl ist dem großen Meister bestimmt nicht leicht gefallen. Welche der über ein Dutzend im Handel erhältlichen DVDs mit Arbeiten von John Neumeier sollte er ab Ostern 2020, diesem Osterfest im Zeichen von Corona, seinem Publikum kostenlos online zur Verfügung stellen? Den Beginn macht, punktgenau ab morgen, Gründonnerstag, 9. April 2020, 16.30 Uhr, die „Matthäus-Passion“, die ohne die Corona-Ausfälle zu Ostern live mit dem Hamburg Ballett in der Hamburgischen Staatsoper zu genießen gewesen wäre. Allerdings handelt es sich bei der Aufzeichnung aus dem Festspielhaus Baden-Baden aus dem Jahr 2005 um eine ganz besondere Besetzung: Neumeier selbst tanzt – ein letztes Mal – darin die zentrale Gestalt, also Jesus. Das ist ein meditatives Erlebnis, immer wieder, und da dieses Ballett ebenso wie die dort folgenden für 48 Stunden (also für zwei Tage) auf der Homesite vom Hamburg Ballett online steht, kann man dieses Erleben des öfteren wiederholen. Am 18. April 2020 gibt es diese Chance erneut, wieder für zwei Tage.

Vorher aber locken „Die Kameliendame“ mit der unvergleichlichen Marcia Haydée in der  ndr-Studioproduktion von 1987 (am 16.und 25. April), der „Tod in Venedig“ mit Lloyd Riggins als Aufzeichnung von 2004 (am 23. April und 2. Mai) , das „Beethoven-Projekt“ mit Aleix Martínez, das 2019 auch wieder im Festspielhaus Baden-Baden aufgezeichnet wurde (am 30. April und 9. Mai), und die bereits legendären „Illusionen – wie Schwanensee“ mit Jiri Bubenicek, die 2001 aufgezeichnet wurden, und die nur in der DVD-Version auch als von John Neumeier laufend kommentiert abgerufen werden können, und zwar wahlweise auf Deutsch und Amerikanisch, was online allerdings so nicht zu leisten ist (am 7. Mai und 16. Mai 2020).

Beiträge zu all diesen Stücken, oft auch zu den DVDs, finden Sie übrigens leicht hier im Ballett-Journal, etwa über die Google-Schlagwortsuche.

Die jüngste der allesamt brillanten NeumeierDVDs ist allerdings herauszuheben, sie hat einen hohen Aktualitätswert.

Beethoven im Ballett

Kraftvolle Sprünge: Aleix Martínez im „Beethoven-Projekt“ beim Hamburg Ballett vor der roten Wand. Foto: Kiran West

Denn das „Beethoven-Projekt“ von John Neumeier, das – dem allgemeinen Beethoven-Jubiläums-Jahr 2020 vorgreifend – schon 2018 mit dem Hamburg Ballett uraufgeführt wurde, läuft nicht nur beim Hamburg Ballett, sondern – ebenfalls kostenfrei und schon heute – auf arte.tv, und zwar bis zum 12. Mai 2020.

Man kann sich das Stück also sehr gut zunächst als Stream bzw. Video on demand ansehen, um sich dann bei Gefallen – und daran zweifle ich ja nun gar nicht – die bei c major entertainment vor kurzem erschienene DVD bzw. Blu-Ray zu bestellen.

Damit wäre man nicht allein, zumal diese Aufzeichnung in der wirklich hervorragenden Bildregie von Myriam Hoyer bereits auf der Longlist der deutschen Schallplattenkritik gelandet ist. Und sie ist sowieso definitiv preisverdächtig.

Tatsächlich sind Bildschnitt und Schnittkoordination, die Kamerafahrten und Close-ups inbegriffen, einfach hinreißend gelungen (swr Fernsehredaktion Kultur: bitte hingucken! Hier kann man was lernen!).

Beethoven im Ballett

Auch das ist das „Beethoven-Projekt“: Aleix Martínez mit Preisrolle und Goldlyra -der Künstler als zwischen Groteske und Komödie changierend. Foto: Kiran West

Myriam Hoyer ist als Bildregisseurin nun nicht vom Himmel gefallen mit ihrem Talent. Sie arbeitet als solche seit 2007 und hat unter anderem bei Thomas Grimm gelernt, der diverse Neumeier-Ballette (etwa „Nijinsky“ und das „Weihnachtsoratorium I – VI“) aufgezeichnet hat.

Hoyer hat aber eine eigene Ästhetik entwickelt, die auf die Totale oftmals zu Gunsten eindringlicher Bildausschnitte verzichtet. Brava, denn so entstehen einfühlsame Perspektiven, die die darstellerische und tänzerische Kraft der Darbietungen unterstreichen.

Auch die Belichtung und die Tiefenschärfe der Aufzeichnung sind vorbildlich. Und das, obwohl etliche blendend weiße Kostüme zum Einsatz kommen – Kenner wissen, wie rasch diese doch so unschuldige Farbe im Video zum Problem werden kann. Nicht so hier!

Das Lichtdesign stammt dabei ebenso wie die Choreografie und die Kostüme aus der genialen Hand des Überkünstlers John Neumeier.

Er kreierte mit Aleix Martínez in der Titelpartie vom „Beethoven-Projekt“ ein collagiertes Künstlerportrait, das sowohl Beethoven als auch – vor allem im zweiten Teil – John Neumeier selbst darstellen könnte.

Der Pianist Michal Bialk sitzt zunächst an seinem Flügel mit auf der Bühne; das Instrument ist Teil des bravourösen Tanzes von Martínez, der keine Sekunde unkonzentriert oder ohne Rollenbewusstsein erscheint.

Beethoven im Ballett

Faszinierend wie Adam und Eva: Edvin Revazov und Anna Laudere vor der höllischen Feuerwand im „Beethoven-Projekt“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Die Namen der weiteren Partien zeigen schon an, welche Teile der Biografie von Ludwig van Beethoven hier interessant sind; die Besetzungsliste macht weiteren Appetit:

Edvin Revazov brilliert als „Beethovens Ideal“, Patricia Friza als seine Mutter (und im Übergang vom ersten zum zweiten Teil darf sie mit österreichischem Akzent und ganz ohne Sprechausbildung eine Moderatorin mimen).

Borja Bermudez bezaubert als Beethovens Neffe, zu dem er eine mal zärtlich-väterliche, mal brüderlich-intime Beziehung hatte.

Die „ferne Geliebte“, die auch aus Beethovens Schriften bekannt ist, wird von Anna Laudere musenhaft und exotisch, anmutig und elegant verkörpert.

Weitere Soloauftritte haben die fabelhaften Neumeier-Interpreten Alexandr Trusch und Christopher Evans (die als harmonisch synchron tanzendes Männerduo ungeheuer anziehend wirken), Marc Jubete und Lizhong Wang (die jeweils strahlend und feurig zugleich anmuten).

Bei den Damen bestechen die hochkarätige Madoka Sugai (sogar als roboterhafter Klon), die vitale Emilie Mazon, die zarte Mayo Arii (die das Ensemble leider schon verlassen hat) und die souveräne Yun-Su Park.

Beethoven im Ballett

Aleix Martínez als Beethoven, in den Händen des Ensembles vom Hamburg Ballett: Im „Beethoven-Projekt“ zeigt John Neumeier das Widerspiel von Künstler, Fantasie und Gesellschaft. Foto: Kiran West

Aber auch das Ensemble selbst – darunter unübersehbar der am größten gewachsene, galante Florian Pohl sowie die am kleinsten gewachsene, temperamentvolle Giorgia Giani– reißt mit und begeistert mit seiner Schnelligkeit, Akuratesse, Tanzfreude und Lebenslust.

All das macht die Anschaffung der DVD oder Blu-Ray für echte Fans unverzichtbar!

Dann mag jede und jeder seine Lieblingsmomente beim „Beethoven-Projekt“ herausfinden.

Seien es die Soli von Aleix Martínez, der mit jedem Atemzug und Körperdetail die Musik optisch zu füllen scheint.

Seien es die Ensembleszenen, die in ein Paradies aus kreativen Ideen entführen.

Bei mehrfachem Ansehen blieb mir vor allem der virtuose, dabei gespenstisch-alptraumhafte Pas de deux von Revazov und Laudere im Gedächtnis, der im Stück als Peripetie, also als Wendepunkt, vor der Auflösung aller Konflikte im anschwellend gücklichen Finale steht.

Simon Hewett dirigiert so aufregende Musiken wie Beethovens „Eroica“, „Die Geschöpfe des Prometheus“ und die „Eroica-Variationen“ mit dem auch von seinem Berliner Kollegen  Robert Reimer bekannten „Märchensound“, was heißt: Die Melodien und ihre Begleitinstrumente aus dem Orchester sind in ein so ausgewogenes, dennoch dramatisches Verhältnis gebracht, dass man den Eindruck hat, einem musikalisches Hörspiel beizuwohnen.

Jede Instrumentengruppe erzählt hierin ohne Worte von dem Sinn ihrer Existenz.

Hewett schafft es so, Beethoven gleichermaßen zu sich selbst zu führen.

Ohne Pomp, aber mit Innigkeit!

Tanz auf dem Reichstagsgebäude

Berliner Tanz auch auf dem Dach des Reichstagsgebäudes: Der damalige BJB-Tänzer Maurus Gauthier tanzt heute in Stuttgart, bei Gauthier Dance im Theaterhaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Allerdings ist das „Beethoven-Projekt“ keineswegs Neumeiers erstes Ballett zu Musik von Ludwig van Beethoven, wie manche Journalisten („danceforyou“) und anscheinend auch Neumeier selbst und seine Presseabteilung glauben.

Aber da war noch was:

Im August 2012 führte Neumeiers vom Opernhaus gelöste Nachwuchstruppe, das zumeist tourende Bundesjugendballett, mit großem Erfolg eine Choreografie seines Intendanten, die als „Beethoven Episodes“ angekündigt war, als „work in progress“ auf.

Zu  Auszügen von Beethovens Streichquartett B-Dur op. 130, das Beethoven 1826 für einen russischen Fürsten mit Cello-Vorliebe komponierte, zeigte das etwa 20 Minuten lange Stück eine Handlung, die Zwischenmenschliches betrifft. In Neumeiers Werkreigen erinnert es an die „Vierte Sinfonie von Gustav Mahler“: Auch darin wird der Werdegang eines jungen Mannes als Serie von Begegnungen beschrieben.

Maurus Gauthier, der heute bei Marco Goecke in Hannover tanzt und zuvor bei Eric Gauthier im Theaterhaus in Stuttgart wirkte, hatte bei der Uraufführung im Konzerthaus in Berlin die Hauptrolle inne. In Jeans, mit nacktem Oberkörper, sucht diese Person zunächst, der Einsamkeit zu entfliehen, um dann unter verschiedenen Menschen einen anderen Tänzer (Graeme Fuhrman, der heute beim Hamburg Ballett tanzt) als streitbaren Partner zu erwählen.

Darum ist dieses Stück so wichtig: Der Pas de deux der beiden Jungs, der wie ein akrobatisches Ringen am Boden stattfindet, bildet in dieser Formation eine schöne Seltenheit in Neumeiers Arbeiten. Am Ende lösen sich die Streitenden voneinander, beginnen einen Dialog, Sieger und Besiegter nehmen sich menschlich wahr. Schließlich verharrt der Suchende, wieder allein, mit festem Blick in die Zukunft.

Man würde dieses Stück spannende Kunst gern auch mal wieder sehen.

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Übrigens war 2012 auch Daan van den Acker mit von der Partie beim BJB. Heute arbeitet er als Physiotherapeut beim Hamburg Ballett und stellt derzeit auf der Homesite der Truppe exzellente Outdoor-Bewegungsprogramme gegen die Corona-Tristesse vor.

Und damit sind wir wieder beim Neumeier‘schen Online-Programm… nicht verpassen!
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

www.arte.tv

www.cmajor-entertainment.com

 

 

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