Frauen, Frauen, Männer und Frauen Es gibt solche und solche: „Emanzipierte Ballerinen“ war die 221. Ballett-Werkstatt von John Neumeier beim Hamburg Ballett betitelt

Zu welchem weltberühmten Ballett gehören wohl diese Stühle? Bei der 221. Ballett-Werkstatt von John Neumeier standen sie auf der Bühne… Foto (Ausschnitt): Kiran West

Die 221. Ballett-Werkstatt III (die dritte in dieser Spielzeit) von John Neumeier beim Hamburg Ballett überraschte am letzten Sonntagvormittag ihre Zuschauer mit einem modernen Titel, den manche vielleicht eher in einer Zeitschrift als in einem Opernhaus erwarten würden. Umso besser ist er: „Emanzipierte Ballerinen“ – wenn das kein Statement ist! Der Gastgeber, Chefchoreograf und Ballettintendant Neumeier blitzte auch sonst nur so vor Esprit, als er im lockeren Trainingsoutfit vor das Publikum trat und es herzlich begrüßte. Dass die beiden Bolschoi-Stars Olga Smirnova und Artem Ovcharenko mit von der Partie waren, hob die Stimmung nochmals. Aber auch die vielseitigen Talente vom Hamburg Ballett bereiteten Vorfreude: Der Programmzettel verhieß Ausschnitte aus beliebten Balletten Neumeiers mit teils ganz neuer, teils bereits bejubelten Besetzungen. Der Untertitel nannte außerdem das Bild der Frauen in Neumeiers Balletten – zweifelsohne etwas, das man sehen möchte.

Zunächst begrüßte der Ballettboss die „Mee, too“-Bewegung als aktuellste Wirkung feministischen Bebens und betonte, dass sie aus den USA komme – wo es eben nicht nur Donald Trump und seine Anhänger gibt. Neumeier hofft, dass solche und weitere Akte der Aufklärung „uns zu einer großen Zeit bringen, zu einer Frauenpower in unserer Gesellschaft“. Sein Wort in Terpsichores Ohr!

In gewisser Weise war das Frauen-affine Motto dieser Werkstatt aber natürlich auch eine Hommage an den Muttertag, der an diesem 13. Mai 2018 begangen wurde. Neumeier erinnert sich gut an seine eigene Mutter, Lucille Neumeier, die Hausfrau war und mit Emanzipation nicht ganz so viel im Sinn haben konnte, wie sie vielleicht wollte. Allerdings war sie geschickt darin, den berufsbedingt abwesenden Neumeier senior vorzuschieben, wenn sie unliebsame Anfragen der Kinder vertagen wollte. „Da müssen wir abwarten, was euer Vater sagt“, war dann ihr Standardspruch.

Mit einigem Stolz stellte er dann fest, dass in seiner Compagnie die Geschlechter gleichberechtigt sind – und: „Alle Tänze sind gleich bezahlt“, bis auf die Ersten Solisten, deren Gagen Verhandlungssache sind. Aber auch da werden Frauen nicht generell benachteiligt – ein Status, der dem Durchschnitt der deutschen Wirtschaftswelt traurigerweise nicht entspricht.

Eine Anmerkung: Weibliche Sichtweisen indes sind – das ist das Paradoxe und Vielschichtige der realen Fakten – nicht auf weibliche Choreografen beschränkt. Gerade der schöpferische Künstler John Neumeier gilt zurecht als großer Einfühler, als Empath, der Frauen- wie Männerrollen quasi aus seinem Ich, aus seiner innersten Gefühlswelt heraus glaubhaft zu entwickeln vermag. Darum sind seine Ballette ja so beliebt – und das gerade auch in der Damenwelt.

Aber manchmal gibt es auch im Ballett kleine Unterschiede mit großer Wirkung.

Zur Demonstration ruft Neumeier Florian Pohl, einen groß und muskulös gebauten Ballerino, auf die Bühne. Und dann Giorgia Giani, die kleinste und zierlichste seiner Truppe. Florian darf Giorgia empor heben, ganz weit hoch – und sie posiert in einer edlen Passé-Haltung, als sei dies das Leichteste von der Welt. Derweil Florian sie hält und hoch- und runterhievt, als sei sie so leicht wie eine Feder. Oh!

„Wir sind alle gleich, auch vor Gott, aber wenn es ans Heben geht…“ Neumeier weiß, wie er sein Publikum zum Staunen und Lachen bekommt.

Das gelingt auch mit Auszügen aus „Sylvia“, einem Stück, das er 1997 für das Ballett der Pariser Oper schuf. Es karikiert feministische Übertreibungen und erzählt von der Lieblingsnymphe der Jagdgöttin, die sich nur auf komplizierten Umwegen von wahrer Liebe überzeugen lässt.

Madoka Sugai, der soeben aufgegangene neue Stern am Horizont des Hamburg Ballett, schlüpft nun in die Rolle der Sylvia, um in einem Solo das Naturell der ehrgeizigen Nymphe darzustellen.

Starke Sprünge zeigen ihre Ambitioniertheit, und als sie am Ende den imaginären Pfeil ihres Bogens auf uns, das Publikum, richtet und abschießt, muss man glatt die Luft anhalten. So ein tolles, freches Girl!

Madoka Sugai als „Sylvia“ – ein tolles freches Girl! So zu sehen auf der 221. Ballett-Werkstatt von John Neumeier. Foto: Kiran West

Allerdings erinnert man sich auch an Carolina Agüero, die eine nachgerade mustergültige Sylvia verkörpern kann. Wo Madoka vor allem sportliche Finesse einsetzt, hat Carolina femininen Schmelz zu bieten. Vielleicht ist diese unterschiedliche Interpretation auch den unterschiedlichen Tänzerinnengenerationen zuzuschreiben.

Eine dritte Sylvia kommt auf die Bühne: Silvia Azzoni. Sie ist vor allem in einer fast pornografischen Weise hier geschmeidig, betont mit viel Mut zur Hässlichkeit die erdgebundene Körperlichkeit der Partie. Alexandre Riabko als ihr Aminta ergänzt dieses Flair: Fast kletten sie aneinander wie Tiere beim Liebesakt, hat man den Eindruck.

Liebe mit Mut zur Hässlichkeit: Silvia Azzoni als „Sylvia“ und Alexandre Riabko als Aminta. Foto von der 221. Ballett-Werkstatt: Kiran West

Liebe hat so viele verschiedene Gesichter, aber in der Ballettgeschichte haben sie alle Platz.

Ein Russe, nämlich Alexander Puschkin, schuf nun (freilich ohne das gewusst zu haben) mit dem Versroman „Eugen Onegin“ eine ergiebige Vorlage für liebesintensive Ballette.

John Neumeier erlebte als Tänzer die Kreation von John Cranko mit der überragenden Marcia Haydée als Tatjana in Stuttgart mit – und schuf 2014 seine eigene Version des Stoffs, mit der zauberhafte Hélène Bouchet in der Titelrolle der „Tatjana“.

Auch sie erfährt erst Ablehnung und großes Unglück, bevor sie ihren Weg gehen kann – und am Ende den zunächst angebeteten Lebemann Onegin sogar abweist.

Hélène und Edvin tanzten in der Werkstatt die Schlussszene dieses Balletts mit einer Verve und einer Passion, die unter die Haut gingen.

Da kauert sie auf ihrem Fenstersims, träumend und sinnierend, und erhält seinen Brief, in dem er – neuerdings in sie verliebt – seinen Besuch ankündigt. In was für einen Zustand er sie damit versetzt! Einst liebte sie ihn – und sie liebt ihn noch. Aber sie hat einen anderen Mann gefunden, der es schaffte, sie glücklich zu machen. Und das gibt eine Frau wie sie nicht ohne weiteres hin.

„Tatjana“: eine erschütternde Nicht-Liebesgeschichte. Hier Hélène Bouchet und Edvin Revazov bei der 221. Ballett-Werkstatt. Foto: Kiran West

Als der reumütig-verliebte Onegin eintrifft – außer Atem, selbstbewusst, eitel und bemüht verführerisch – springt er ihr fast in die Arme, quasi durchs Fenster. Ein Paartanz entspinnt sich, der zugleich ein Kampf der Geschlechter ist. Onegin versucht, seine Liebe zu erklären, wieder und wieder, auf jede nur erdenkliche Art – und sie reflektiert, wie sie das wohl gefunden hätte, als sie zehn Jahre jünger war.

Mit hoch akrobatischen, dennoch immer tänzerischen Gesten, mit Verschlingungen und Umarmungen und seelischen Verletzungen, die sich in kleinen Bewegungen und tiefen Blicken äußern, wird im Laufe dieser tänzerischen „Aussprache“ deutlich, wer hier stark ist und wer schwach. Die Frau, Tatjana, sitzt am längeren Hebel – und der Mann, Onegin, weiß außer Winseln um Liebe und Vergebung nichts zu tun.

Am Ende gönnt sie ihm und sich einen fast machohaft aufgepressten Kuss – um ihn dann endgültig zu verlassen.

Der arme Mann wird halb wahnsinnig, verfällt in Zuckungen und Schieflagen im Stand, die Musik von Lera Auerbach bemüht eine sprunghafte, atonale Sentenz dafür – so endet diese Nicht-Liebesgeschichte, um die man weder Tatjana noch Onegin beneidet, die aber in höchstem Maße wohlige Schauer und auch trauriges Entsetzen über die Dummheit eines begehrenswerten Mannes hervorruft.

Dann ein Highlight, das man eher auf einer Gala als in einer Werkstatt erwarten würde: Olga Smirnova und Artem Ovcharenko in Neumeiers letztjähriger Kreation „Anna Karenina“, die im März diesen Jahres am Bolschoi-Theater in Moskau in eben dieser Besetzung der Anna und ihres Liebhabers Wronski premierte.

Olga Smirnova und Artem Ovcharenko in „Anna Karenina“ von John Neumeier – ein Hochgenuss bei der 221. Ballett-Werkstatt beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Es war denn auch ein Hochgenuss, diese beiden Hochkaräter des Balletts die originelle, aber auch so verständliche Liebessprache des Tanzens im „Anna Karenina“ zelebrieren zu sehen! Die Szene, in der die beiden – sie verheiratet, er begehrt – jenseits eines Ballgetümmels Kontakt aufnehmen und sich ihre Zuneigung rasant entwickelt, reißt einfach immer mit, und mit dem wieselflinken, schönen Artem und der elegisch-charmanten Olga war sie ein Fest für die Augen, die sich daran nicht sattsehen konnten.

Man erinnerte sich aber auch zugleich gern an die Besetzung der Uraufführung in Hamburg mit Edvin Revazov und Anna Laudere, die diese Partien unnachahmlich leidenschaftlich angingen. John Neumeier erlaubte sich ja mal den Silvesterscherz, seinen „Nussknacker“ mit dreifacher Besetzung der Hauptrollen zu inszenieren. Vielleicht könnte man mal aus Ovcharenko, Smirnova, Revazov und Laudere ein Quartett schmieden, das zeitgleich auf der Bühne Passagen aus diesem furiosen Pas de deux in wechselnder, vielleicht auch partnerwechselnder Inszenesetzung präsentiert. Wäre das nichts für eine Nijinsky-Gala?

Man kann diese Probe einfach nicht vergessen: im Juni 2017, bei der Kreation von „Anna Karenina“ von John Neumeier, mit Anna Laudere und Edvin Revazov im Hamburger Ballettzentrum. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Besetzung der kindlich-stürmischen Kitty, die hier den undankbaren Part der Abgewiesenen einnimmt (die in Wronski verliebt ist), könnte dann ebenfalls doppelt besetzt werden, während sie letzten Sonntag wie bei der Uraufführung von Emilie Mazon ganz hervorragend erfüllt wird.

„Von Angang an habe ich die Frauen immer als sehr stark gesehen“, erzählte Neumeier über sich, und sogar die zunächst kreuzunglückliche Kitty habe mit ihrer zweiten Wahl eines Gutsbesitzers dann ja das große Glück gemacht – „und dann sitzt sie am Steuer des Traktors“, wie der geniale Meisterchoreograf sein Ballett beschreibt. In der Tat fährt Kitty bei Neumeier einen großen Traktor auf die Bühne, etwas, das den Romancier Leo Tolstoi, nach dessen Roman Neumeier auch mal etwas frei kreierte, sicher amüsiert hätte.

Amüsant sind auch manche Szenen in „A Cinderella Story“ von John Neumeier. 1999 eröffnete die Uraufführung dieser Paraphrasierung des Aschenputtel-Mythos die Hamburger Ballett-Tage; heute vereinnahmen die einzelnen Elemente der märchenhaften Show noch immer.

Christopher Evans und Madoka Sugai in „A Cinderella Story“ von der Seitenbühne aus gesehen, am 13. Mai 2018 bei der 221. Ausgabe der Ballett-Werkstatt mit John Neumeier. Foto: Kiran West

Madoka Sugai debütierte bereits letztes Jahr mit großem Erfolg als entzückende Cinderella; in der Werkstatt tanzte sie ein spritzig-witziges, keckes, mit wütend-empörten kleinen Sprüngen gespicktes „Protest-Solo“, wie Neumeier es nennt, mit dem sie gegen ihr Dasein als ungerecht zur Schnecke gemachtes familiäres Dienstmädchen aufbegehrt.

Die Schlussszene des Balletts ist hingegen ein wohl verdientes Happy End: Der liebe Prinz sucht und findet sein Aschenputtel, dazu dreht er den Nussbaum, den das Mädchen einst eigenhändig pflanzte, um 180 Grad – und prompt zeigt sich die geduldig Wartende als im Strauch sitzende Vogelfreundin.

Für Neumeier war es hier bei der Kreation die Frage, ob Cinderella den Prinzen überhaupt haben will. Gigi Hyatt, seiner ersten Cinderella, habe er bei der Probe damals gesagt, sie solle rausgehen – und wenn sie wiederkomme, würde das ein Ja bedeuten. Genau so wurde es gemacht, und Manuel Legris, der als Prinz gastierte, bekam so seine Cinderella doch noch zur Herzenskönigin.

Christopher Evans ist jetzt der Prinz – und er hat so viel Gefühl und Freundlichkeit im Wesensausdruck, dass er nachgerade als der perfekte Prinz gelten kann. Zu schade, dass es solche Jungs wohl nur im (Ballett-)Märchen gibt!

Und nicht mal da bekommen sie immer, was ihnen gebührt. „Die Möwe“, das große Tschechow-Ballett von Neumeier, zeigt das Schicksal von Kostja, der in Nina verliebt ist und zudem große Pläne als avantgardistischer Künstler hat, der aber faktisch nie aus der Provinz raus und noch weniger in Ninas Herz Einlass findet.

Emilie Mazon als Nina lässt sich vielmehr gern vom selbstverliebten Macho Trigorin verführen – und Carsten Jung erledigt das offenkundig mit großem Spaß. Angelnd scheint er auf etwas ganz anderes zu warten als auf einen kalten Fisch – und als die langhaarige Nina auftaucht und gleich Körperkontakt mit ihm sucht, ist er nicht mehr zu halten.

Dumm nur, dass er mit einer anderen geht, und zwar mit Kostjas Mutter. Kostja wiederum liebt ja Nina – und der Pas de deux der beiden, als sie, von Trigorin geschwängert und sitzen gelassen, für eine kurze Zeit bei Kostja Trost sucht, ist ein brillantes Zeugnis der Tiefe und entschiedenen Wahrhaftigkeit von Neumeiers Kunst.

Wie eine Eins klappt darin auch die senkrechte Hebung der lang ausgestreckten Nina kopfüber auf dem Rücken Kostjas. Bravo! Mit soviel Gefühl und Sanftmut agiert Marc Jubete als Kostja, dass man sich fast selbst in ihn verliebt.

Marc Jubete und Emilie Mazon in „Die Möwe“ von John Neumeier, zu sehen in der 221. Ballett-Werkstatt. Foto: Kiran West

Auch eine tief gelegte „Brücke“, während der er sein Gewicht auf seinen Oberkopf stemmt, als sei dieses eine autoaggressive Anti-Yoga-Übung, führt Marc mit Hingabe und Prägnanz aus: Kostja, den er darstellt, versucht so, seine Frustration in Bemühung umzuwandeln.

Doch er kommt gegen sein Schicksal nicht an.

Nina geht zu Trigorin, dem Schuft, wann immer sie ihn erblickt. Sie legt sich vor ihn, die Arme ausgebreitet, zu allem bereit – aber er gibt ihr lediglich das Medaillon zurück, das sie beide einst verband.

Ach, so ein Hund! Männer…

Das Publikum, das dieses wirklich unwiderstehlich tragikomische Ballett Neumeiers am Abend des 13. Mais in kompletter Länge sehen durfte, ist zu beneiden. Umso mehr, als „Die Möwe“ kommende Spielzeit nicht mehr auf dem Spielplan steht. Man wird sie vermissen!

Aber da gibt es noch ein großes, sogar ganz großartiges Liebesballett, es ist zudem eines, das die Fans anlockt wie Honig die Grizzly-Bären. Man hat schon Freudenschreie gehört, wenn bekannt wird, dass dieses Stück wieder auf den Spielplan rückt, und man wundert sich, dass es noch keinen psychologischen Fachbegriff für die Sucht danach gibt, es wieder und wieder und wieder und wieder zu sehen. Die Stühle auf dem Foto zu Beginn dieses Beitrags haben damit zu tun…

Christopher Evans hält Olga Smirnova im Arm: in der „Kameliendame“ bei der 221. Ballett-Werkstatt von John Neumeier. Foto: Kiran West

Die Rede ist, na klar, von der „Kameliendame“, und wenn es eine ballettöse Referenz an die Stärke einer Frau gibt, dann ist es dieses Ballett, das Neumeier – für Marcia Haydée – 1978 in Stuttgart schuf und 1981 in Hamburg überarbeitete und erweiterte.

Olga Smirnova ist eine Kameliendame par excellance, ihre leichtfüßige feminine Art, ihre feingliedrigen Ports de bras, ihre präzise genickten Kopfbewegungen, ihr biegsamer Rücken und natürlich ihre langen, geradlinigen Beine mit den unendlich schönen Füßen weiß sie so zu dirigieren und zu beherrschen, dass man ein wandelndes Kunstwerk der Weiblichkeit vor sich erkennt.

Genau das ist Marguerite, die Kameliendame, die für Geld ihre Liebeskünste verkauft, und die sich in einen Mittelschichtler verliebt, der ihr weder das Leben, das sie gewohnt ist, noch das gemeinsame Sterben anbieten kann. Und sie ist sterbenskrank, im Original des Romans von Alexandre Dumas junior ist es Tuberkulose, an der sie leidet, in der Fantasie von John Neumeier war es zur Zeit der Kreation AIDS.

Eine seltene Seitenansicht: „Die Kameliendame“ alias Olga Smirnova und ihr verliebter Armand, getanzt von Christopher Evans, in der 221. Ballett-Werkstatt. Foto: Kiran West

Heute hustet die Kameliendame nur noch in manchen Besetzungen, dann zwar stumm, doch deutlich – und Olga Smirnova biegt und schüttelt ihren schmalen Leib so herzzerreißend, dass man schon Mitleid empfindet, bevor sich auch noch die Katastrophe ihres Liebesverzichts aus Liebe ereignet.

Christopher Evans als Armand, den sie liebt, hat hiermit sein absolutes Debüt in dieser wichtigen Partie.

Neumeier erzählt, dass sie – die wirklich arbeitsverrückt im allerbesten Sinne sind – erst am Morgen, also noch vor der um elf Uhr beginnenden Matinee, eine Bühnenprobe für Christopher abhalten konnten. Es ist fast ungeheuerlich, was das Hamburg Ballett oft leistet – und solcher Art ist die Mühe, die dahinter steht.

Aber auch die Techniker der Bühne der Hamburgischen Staatsoper müssen da mitziehen, wenn die Tänzer Erfolg haben sollen. Darum wird Neumeier ihnen am Ende der Werkstatt einen Extra-Applaus verschaffen, der vom Publikum dankbar gezollt wird.

Zuvor aber werden Olga und Chris als superbe passendes Paar gefeiert. Er hat die jugendliche Frische, die Armand ausstrahlen muss, im Übermaß – und sie ist eine zarte Diva, die vom Kampf mit dem Tod bereits Ahnung hat, als sie die letzte wahre Liebe ihres Lebens erlebt.

Im „Blauen Pas de deux“ gewinnt er ihr Herz. Stürmisch. Hals über Kopf. Evans zeigt das, wunderschön rückhaltlos, doch in angemessenen Ballerino-Posen. Und sie? Smirnova erkennt seinen Charakter und öffnet sich ihm. Er will sich um sie kümmern, ihr dienen. Sie akzeptiert. So schnell kann’s gehen – sie werden ein Paar, den gesellschaftlichen Umständen, die dagegen sprechen, zum Trotz.

Ivan Urban als Armands Vater und Olga Smirnova in seiner Hand: „Die Kameliendame“ in der 221. Ballett-Werkstatt. Foto: Kiran West

Aber dann kommt der Vater von Armand. Ivan Urban verleiht dem ambivalenten Patriarchen Würde und zurückhaltende Anmut. Dieser Duval ist noch kein Opa. Er hat Sinn für Schönheit und Eros und genießt es, als sich die Geliebte seines Sohnes von ihm halten lässt.

Dabei ist er es, der sie in tiefste Verzweiflung stürzt.

Er verlangt von Marguerite, Armand zu verlassen, um dessen gesellschaftliche Zukunft nicht zu gefährden.

Nach heftiger Gegenwehr willigt sie ein. Sie erkennt die Realität als eine Größe, gegen die sie nicht ankommen kann. Sie will aber auch – todkrank – eine moralische Reinheit für sich gewinnen, die sie mit einer unehelichen Beziehung im 19. Jahrhundert niemals hätte erreichen können.

Der Pas de deux mit dem Mann, der niemals ihr Schwiegervater werden wird, ist herzzerreißend, offenbart viel von den beiden Figuren, die hier aufeinander prallen. Duval, einfach konstruiert, folgt den Konventionen und verlangt dieses von allen anderen auch. Für das Glück im Sinne einer Emotion hat er kein Verständnis, schon gar nicht, wenn es „nur“ seinen Sohn betrifft und nicht ihn selbst.

Männer sind auch nicht gleich Männer. Hier steht Alexandre Riabko auf der 221. Ballett-Werkstatt seinen Mann. Wäre „Sascha“ Riabko nicht auch ein interessanter Monsieur Duval? Die Rolle hat im Ballett mehr psychologische Abgründe als im gleichnamigen Roman „Die Kameliendame“, verrät die Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Man kennt diese verwöhnten Patriarchen ja, ob sie nun Beckenbauer oder Seehofer heißen, die für ihr eigenes Triebleben viel tun, von denen man aber nicht den Eindruck hat, dass die Schicksale in ihrer Umgebung sie sonderlich berühren.

Duval wird zwar gerührt von Marguerites Kultiviertheit und Entschlossenheit, aber sein Ziel verfolgt er gnadenlos. Er bereut später, so hart gewesen zu sein, zumal er seinen Sohn damit in den tiefsten seelischen Abgrund stößt.

Diese Doppelbödigkeit zu zeigen, ist eine schauspielerische Aufgabe von sehr hohem Anspruch. Ivan Urban hat das Zeug, noch in kleinen Bewegungen und minimalen mimischen Veränderungen diese Egozentrik des Herrschenden zu zeigen.

Wie Smirnova und Evans das Zeug dazu haben, eine Liebe zu tanzen, die auf steinerne Grundsätze der Unmöglichkeit stößt. Erschütternd.

Als Armand den Brief erhält, mit dem Marguerite sich von ihm trennt, erfasst ihn ein Sturm der Gefühle. Wut, Kummer, Enttäuschung – er verliert seine Identität als geliebter Liebender, über die er alle anderen Anteile in sich bereits aufgegeben hatte.

Was für ein Wirbelwind der Entrüstung ist Christopher Evans in dieser Szene!

Er dreht und er springt, er verschaltet die Hände auf dem Rücken, muss sich selbst zügeln, sich selbst fesseln, um sich nicht Gewalt anzutun.

Der Schmerz des Verlassenwerdens überkommt ihn wie eine innere Lava, die alles an ihm verbrennt.

Und als er nach eiligem Fußlauf vor Marguerites Haus ankommt, sieht er seinen Rivalen, den Herzog, sich zu ihr in die Bettstatt legend. Welcher eifersüchtige Mensch hält das aus?

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Wer noch nicht weiß, wie es weiter geht, hat noch die Gelegenheit, sich für die kommenden Vorstellungen der „Kameliendame“ einen Platz zu sichern. Alle anderen sind ohnehin begierig darauf, die eine oder andere der vielen spannenden Besetzungen dieser Saison (nochmals) zu sehen.

Man könnte John Neumeier darum beneiden, seine Arbeit so hervorragend interpretiert zu sehen. Aber man ahnt auch, dass die Schaffenskraft seiner Kunst von ihm nicht nur viele Opfer verlangt, sondern auch eine emotionale Leidensfähigkeit, die außergewöhnlich sein muss.

Wir danken ihm dafür sehr. Gerade wir Frauen.
Gisela Sonnenburg

Termine „Die Kameliendame“ siehe „Spielplan“ oder hier:

www.hamburgballett.de

 

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