Dornröschenschlaf der Kritiker Nacho Duatos „Dornröschen“ in Berlin: Verrisse gehen da gar nicht. Warum nicht? Hier steht’s.

Moderne und Klassik

Iana Salenko als „Dornröschen“: moderne Armbewegungen im klassischen Tutu. Ein Grund, sich aufzuregen? Foto: Yan Revazov

Wenn ein Choreograf etwas Neues, Unerwartetes macht, dann ist es nahezu logisch, dass nicht jede oder jeder das toll findet oder sich auch nur die Mühe macht, es zu verstehen. Wenn aber, wie im Fall der Premiere von Nacho Duatos „Dornröschen“ in Berlin, ein halbes Dutzend Kritiker in gespielte Empörung ausbricht, weil eine Inszenierung angeblich „vulgär“, „gefällig“, „humorlos“ und „ohne Magie“ sei, während das Publikum zwar hellwach, aber wie verzaubert, so begeistert, dem Bühnengeschehen folgt – dann stimmt da was nicht. Nun ist der deutsche Journalismus in den letzten Jahren ohnehin in Verruf gekommen, allerorten wird der Mangel an fähigen Fachjournalisten beklagt. Also: Sind die deutschen Ballettkritiker verknöchert? Halbgebildet? Gar reaktionär?

Robert Reimer

Nanu, was machen die denn? So, wie hier „Dornröschen“-Dirigent Robert Reimer beim Schlussapplaus, fühlte sich mancher Leser von Kritiken: kurzzeitig etwas missverstanden. Foto: Gisela Sonnenburg

Es fällt auf, dass schon Nacho Duatos Vorgänger Vladimir Malakhov von genau denselben Kritikern – die ihren Publikationsquantitäten nach stärker für modernen Tanz oder noch anderes als für Ballett zuständig sind – rigoros abgestraft wurde. Erst, als „Vladi“, der hervorragende Arbeit leistete und das Staatsballett Berlin in wenigen Jahren auf Weltniveau hievte, bei seinen Abschiedsvorstellungen 45-minütige Standing Ovations erhielt, lenkten die meisten der kritischen Scharfrichter ein und erlaubten sich höfliche Beileidsbekundungen. Wohl wissend, dass diese kaum noch Folgen haben würden.

Carabosse als Kritikerin

Manche Kritik las sich, als habe die böse Fee Carabosse sie geschrieben… hier: Rishat Yulbarisov als böse Fee. Foto: Gisela Sonnenburg

Natürlich kann, wer die Rhetorik des Feuilletons einigermaßen beherrscht, jedes noch so gute Stück verreißen. Und sei es mit Albernheiten wie der, sich darüber aufzuregen, dass man die Brustwarzen der männlichen Tänzer unter ihren Trikots sehen könne. Nun ist das erstens im Ballett immer so und zweitens eine erfreuliche Tatsache, denn wir befinden uns im aufgeklärten Europa und nicht in der verklemmten nordamerikanischen Provinz. Aber einer Kritikerin gefiel es tatsächlich, so etwas als unsinnigen Pseudoskandal zu servieren, um Duato an den Karren zu fahren. Ein Kollege von ihr moserte zudem, die Inszenierung sei ja nicht neu, sondern „aufgewärmt“ – vielleicht war er schon lange nicht mehr in der Oper oder im Ballett. Denn die Einstudierung einer bereits erfolgten Uraufführung (das so genannte Aufwärmen) ist international absolut üblich, und zwar nicht erst seit kurzem. Was soll daran auch verwerflich sein? Solche Vorwürfe wirken einfach nur mutwillig und dümmlich.

All die zarte Erotik, die Duatos „Dornröschen“ auffährt, all die Raffinessen und Neuerungen, die seine Choreografie mit sich bringt, wurden von diesen Kritikern – die man gerne „Betonköpfe“ nennen würde – wohlweislich verschwiegen. Ebenso die Rollenzeichnung, die er vornahm – und die viel detaillierter und psychologisch plausibler ist, als die im Original von Marius Petipa von 1890.

Aber genau dem jammern auf einmal einige „Elitejournalisten“ hinterher. Man muss skeptisch sein: Wer die Schönheiten, Witzigkeiten und von einem international gemischten Publikum bei den bisherigen Vorstellungen genossenen Überraschungen von Duatos „Dornröschen“ verpennt (oder aufgrund von Vorurteilen und ideologischen Scheuklappen nicht sehen kann), ist wohl selbst ein Dornröschen. Und zwar im Tiefschlaf.

Fee und Eltern

Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer – oder schlechte Kritiken. Hier die böse Fee Carabosse (Rishat Yulbarisov) mit den Eltern von Aurora. Foto: Yan Revazov

Gefährlich ist so ein Schlaf der Kritiker nur deshalb, weil der eine oder andere Politiker, Staatssekretär oder Sponsor sich davon beeindrucken lässt. Besonders gefährlich sind öffentliche Fehlurteile des Feuilletons dann, wenn Kulturgelder in Gefahr sind. Dann sagt sich die Politik: Wieso sollen wir soviel Geld in soviel angeblichen Mist stecken – kaufen wir doch was anderes, gern auch Billigeres. Und flugs hat man eher niveauloses, ziemlich mittelmäßiges Getanze, wie etwa das von Mario Schröder beim Leipziger Ballett, welches aber genau die Kritiker, die Nacho Duato in den Dreck ziehen, in den höchsten Tönen loben. Vielleicht sogar nur deshalb, weil Schröder einen deutschen Namen trägt. Wer weiß!

Zurück zu „Dornröschen“ in der Hauptstadt. Mit großem Erfolg debütierte – nach offensichtlich fleißigen und intensiven Proben – am letzten Freitagabend Marian Walter, hoch begabter Erster Solist beim Staatsballett Berlin, in der Rolle des Prinzen Desiré. Anders als bei seinem Vorgänger der Premiere, Leonid Sarafanov, ist Walters Prinz kein Abenteurer, kein Luftikus, sondern ein tiefsinnig liebender Jüngling, der vor seiner Traumbegegnung mit Prinzessin Aurora unter Anflügen von Melancholie und Sinnsuche leidet. Zauberhaft gespielt und getanzt ist das von Marian Walter – und seine hohen Sprünge sind lyrisch und exzessiv zugleich, eine wirklich traumhafte Anmutung!

Traumpaar

Aurora (Iana Salenko) und Prinz Desiré (Marian Walter) beim Schlussapplaus von „Dornröschen“. Foto: Gisela Sonnenburg

Sein Profil zeigt dieser Prinz schon deutlich bei seinen ersten Auftritten, also im zweiten Akt. Da flirtet er mit einer in knalliges Orange gekleideten Duchesse (nobel: Elena Pris). Aber irgendwie bleibt es bei unerotischer Freundschaft der zwei. Vielleicht sind sie sich zu ähnlich, wer kennt so eine Situation nicht: Da denkt man, man sei wie füreinander gemacht, aber im Grunde fehlt das Kribbeln der Kontraste. Nacho Duato hat hier sehr gut die ganz reale Alltagswelt von Liebenden und Liebe Suchenden beobachtet – und sein Ballettmeisterteam, angeführt von dem neuen Ersten Ballettmeister Gentian Doda, hat das bestens umgesetzt und die Feinheiten schön herausgearbeitet.

Allein im Wald, zeigt Desiré dann seine heimlichen Gefühle: Er fühlt sich einsam, traurig, verlassen, und all das luxuriöse, amüsante Treiben seiner Gefährtinnen und Gefährten kann ihm nicht mehr wirklich das geben, was er als aufstrebender Jüngling nun mal braucht. In solchen Momenten, die ja nun auch jeder kennt, der mal richtig jung war, sollte eine gute Fee auftauchen – und weil wir im Märchen sind, erscheint sie sogar!

Prinz und Fee

Die Fliederfee (Sarah Mestrovic) hilft dem Prinzen Desiré (hier: Leonid Sarafanov), zu der schlafenden Prinzessin zu finden. Foto: Yan Revazov

Mit der Fliederfee (wie schon bei der Premiere fein: Sarah Mestrovic) kommt nicht nur ein freundliches, hilfreiches und zudem noch schönes Wesen auf den Prinzen zu. Sondern die Dame hat auch noch eine andere im Schlepptau: Prinzessin Aurora (Iana Salenko), die schon seit hundert Jahren schläft. Aber welch Magie geht von ihr aus! Wie eine Traumverlorene trippelt sie auf die Lichtung, auf der der Prinz sie erwartet, und der erste Pas de deux der beiden ist zugleich eine ganz ernsthafte Verliebung.

Der schönbeinige Marian Walter, auch im wahren Leben Iana Salenkos Partner, umgarnt und betört die holde Maid, sie reagiert instinktiv und vorsichtig zugleich. Scheinbar mühelos sind die Hebungen und Pirouetten – und ihre Soli (denn man sieht bereits eine Art Grand Pas de deux, bei dem die Soli auch dazugehören) sind getragen von der Bewusstmachung, dass Liebe das Leben verändert.

Blauer Vogel

Auch der bekannte Pas de deux vom „Blauen Vogel“ mit „Prinzessin Florine“ findet sich beim Staatsballett Berlin modernisiert. Hier eine edle, sehr moderne Pose vom Ende des Paartanzes. Foto: Yan Revazov

Das Bewegungsvokabular ist eine erfrischende Mischung aus klassischen Schritten und dem modernen Tanzstil von Nacho Duato. Der Spanier ist geprägt von seiner Kultur: Eine gute Dosis Flamenco, auch orientalische vorislamische Einflüsse sind für das genaue Auge als Inspiration zu erkennen – die spanische Tanzkultur hat viel zu bieten, als Fundus für einen kreativen Tanzmacher. Duato schafft es, gerade so ein Handlungsballett wie „Dornröschen“ mit sachte modernisierten Passagen zu versehen, die einerseits Tanz pur sind, andererseits Aufschluss über die jeweilige dramatische Situation geben.

Das gilt auch für Nebenfiguren wie das „Trio“, das aus Krasina Pavlova und den beiden Jungs Vladislav Marinov und Ulian Topor besteht. Elegant, aber auch sportiv, geschmeidig, aber mit unerwarteten Hebungen und „Ziehungen“ entwirft Duato ein Dasein, das konventionelle Verhaltensmuster sprengt. Spaß und Fürsorglichkeit, Vertrauen und Experimentierfreude werden durcheinander gewirbelt: Es ist eine Art Freude am „wilden“ Leben im geordneten. Wer hat noch nie daran gedacht?

Paartanz in Weiß

EIn Paartanz aus Liebe: Aurora (Iana Salenko) und ihr Prinz Desiré (hier: Leonid Sarafanov). Foto: Yan Revazov

Für den Prinzen ist all das jedoch keine Option. Er lässt sich von den grünen Waldfeen lieber den Weg in eine andere Welt weisen und von der Fée des Lilas (Fliederfee, was leider nicht im Libretto auf dem Besetzungszettel steht) zum schlafenden Dornröschen bringen. Die spitzen Zeigefinger der ansonsten in romantischer Manier schwebend tanzenden Waldnymphen lösen übrigens als Anspielung an die Originalchoreografie von Marius Petipa die Bergkristall-Fee aus der höfischen „Dornröschen“-Welt ab: 1890 war diese mit zackig-spitzen Bewegungen und „kristallig“ vorgereckten Zeigefingern ein Renner, weil ein Regelbruch und nur aus der spezifischen Ausnahmesituation des Tanzes heraus verständlich und „erlaubt“. Irgendwie ist es wahrscheinlich, dass es damals Kritiker gab die Petipa dafür am liebsten gemeuchelt hätten.

Man sieht, dass Ästhetik oftmals mit stilistischen Tabuverletzungen einher geht, vor allem, wenn sie modernisierend auftritt. Duatos „Dornröschen“ bietet hier Fachleuten viel Brennstoff – und dem Publikum genügend Anlass, ganz naiv den Bewegungsfluss zu genießen.

Was aber passiert eigentlich, wenn Dornröschen schläft? Gibt es draußen, in der kalten, nicht-königlichen Welt, eine Revolution? Kriege? Seuchen? Gesellschaftliche Umwälzungen? Wird die Waschmaschine erfunden? Die Sozialhilfe erst eingeführt, dann wieder abgeschafft? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass das Ballett auf dem Märchen „La belle au bois dormant“ des Franzosen Charles Perrault von 1696 beruht, der wiederum sowohl mündliche als auch schriftliche Versionen anderer Autoren zur Vorlage hatte. Die Gebrüder Grimm starteten erst später durch, übernahmen unter anderem von Perrault das Märchen von der schlafenden Schönheit und publizierten es erstmals 1812. Knapp achtzig Jahre später kam dann das Ballett mit der Musik von Peter I. Tschaikowski…

Maria Giambona und Dominic Hodal

Rotkäppchen und der Wolf, hervorragend gespielt und getanzt von Maria Giambona und Dominic Hodal, sind ein hintergründig-erotisches Duo: in Nacho Duatos „Dornröschen“. Foto: Yan Revazov

Seither gab es viele modernisierte Fassungen von „Dornröschen“: John Neumeier schuf 1978 in Hamburg eine bahnbrechende Inszenierung und deutete alles Märchenhafte an Dornröschen als Traumarbeit des Jeans tragenden Prinzen. Hierzu schrieb er das Libretto aufwändig neu, erfand auch das Personal als mit neuen Aufgaben behaftet.

Youri Vamos hingegen dachte 1992 in Basel an die Hochstaplerin, die sich als Zarentochter Anastasia ausgab – und vermischte „Dornröschen“ mit Szenen vom Zarenhof. Dabei vergaß er, dass das zaristische Russland „Dornröschen“ deshalb so liebte, weil man mit ihm die Französische Revolution verschlafen wollte und sich das kultivierte Frankreich, dessen Sprache der russische Adel im Alltag benutzte, als nostalgische Monarchie vorstellte.

Die Sowjets und späteren Russen sahen „Dornröschen“ natürlich anders, nämlich als volkstümliche Märchenwelt mit allen Vorzügen des Märchens, Narrenfreiheit inklusive. Yuri Grigorovich inszenierte „Dornröschen“ gleich zwei Mal am Bolschoi: 1989 und 2011, zuletzt als Repräsentierballett fürs neu eröffnete Bolschoi Theater: eine kunterbunte Orgie mit Barockperücken, die auch die Starballerina Svetlana Zakharova überzeitlich-klassisch und nur ein ganz klein wenig eingestaubt wirken ließen.

Nacho Duato ist von daher für seine geschmackvolle „Entrümpelung“ von „Dornröschen“ zu danken.

Hier ist sogar die Szene von Auroras Erwachen auf das Wesentliche reduziert. Ein Gongschlag, ein Kuss – und schon zelebriert ein füreinander wie gemachtes Pärchen hoheitsvoll die respektvollste Zuneigung. Da stört kein Hofstaat, kein Dienergedönse, keine Drumrumtanzen um den heißen Brei. Hier wird geliebt!

Zuvor muss Prinz Desiré allerdings noch die böse Fee Carabosse und ihre sprunggewaltigen Mitarbeiter-Teufelchen abwehren. Es ist köstlich anzusehen, wie das Sextett schwarz gewandeter Körperkünstler den eifrigen, auch schon etwas lüsternen Prinzen im Walddickicht abfängt und durch die Luft wirbelt. Carabosse selbst hat dann noch einen ihrer wutschnaubenden Auftritte: Rishat Yulbarisov tanzt und spielt mit Verve – und mit fast kabarettistischer Travestie-Eleganz. So eine böse Fee passt vorzüglich ins Märchen, das mit aufgesetztem Pathos (manche „Dornröschen“-Inszenierungen neigen dazu) nämlich nicht immer gewinnen kann.

Carabosse

Als wäre es böser Zauber: Wenn Kritiker alles oder vieles missverstehen… Hier Rishat Yulbarisov als Carabosse in „Dornröschen“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Das Böse wird hier augenzwinkernd kredenzt, was der psychoanalytischen Deutung dieser Figur keinen Abbruch tut. Dass ein sexuell zu deutendes Verwirrspiel mit Carabosse betrieben wird, hat schließlich Tradition: Mir ist keine „Dornröschen“-Inszenierung geläufig, die diese böse Fee mit einer weiblichen Tänzerin besetzt. Ähnlich wie mit dem Mannweib Madge im romantischen Ballettmärchen „La Sylphide“ geht es hier nicht nur um böse Mächte, sondern auch um das Widerspiel von Anschein und Sein.

Im Fall der Hexe oder bösen Fee gilt nämlich: Es ist alles ganz anders, als es scheint. Dafür ist die Person zu Dingen befähigt, die man ihr nicht zutraut, sie kann erstens zaubern und ist zweitens ein Mann, keine Frau, was auf den Peniskult abzielt. Oder, wie es in Shakespeares „Macbeth“ heißt: „Fair is foul, and foul is fair“ – gut ist böse, böse gut.

Im großen Plan der Märchendramaturgie von „Dornröschen“ hat die böse Fee jedenfalls eine ganz wichtige Funktion: Ohne sie würden Aurora und Desiré sich nie kennenlernen, würden nicht einmal zur selben Zeit leben.

Denn Aurora hat ja schon hundert Jahre Schönheitsschlaf hinter sich, bevor sie sich treffen. Zu diesem kam es bekanntlich, weil Carabosse aus Frust und Rache, weil die Eltern Auroras vergaßen, sie zur Taufe einzuladen, die kindliche Prinzessin verfluchte. Ursprünglich sollte es ein Todesfluch sein, aber die gutherzige Fliederfee konnte das Todesurteil in das Schlafurteil umwandeln.

Philosophisch hat das eine interessante Dimension. Ist Aurora eine Avantgardistin, ihrer Zeit voraus und, weil so tugendhaft, für ihr eigenes Zeitalter sozusagen zu schön, zu gut, zu edelmütig? Kann sie darum nur einen jungen Mann lieben, der erst ein Jahrhundert später lebt? Oder ist die Zeit, die sie verpennt, so grauenvoll, so voller Kriege, Enthauptungen, Gewalttätigkeit, dass es für sie und ihre Tugenden eine Gnade ist, sie zu verschlafen?

Eugen Drewermann, Kirchenkritiker und Psychoanalytiker, hat den Dornröschenschlaf einfach, aber sinnfällig ausgedeutet. Für ihn ist die überlange, ja absurd anmutende Schlafphase der Ausdruck der Verweigerung der Prinzessin, erwachsen zu werden beziehungsweise aus der starken ödipalen Bindung zu ihrem Vater auszutreten. Erwachen heißt hier: Erwachsen werden.

Aurora ist schummrig

Ein Dornröschen mit starker ödipaler Bindung: Iana Salenko ist schon etwas schummrig vom Nadelstich der bösen Fee… Foto: Yan Revazov

Und tatsächlich findet diese Deutung auch in Nacho Duatos Choreografie Rückhalt. Als Dornröschen, also Aurora, sich gestochen hat und schlagartig erkrankt, ringt sie sich noch eine letzte Verbeugung vor einem der angereisten, um sie werbenden Prinzen ab. Aber zu mehr reicht ihre Kraft zu flirten nicht mehr. Sie kreiselt und taumelt, höchst ästhetisch, im Kreis, sie lässt sich von beiden Eltern umsorgen (siehe Foto oben), sie findet dann zurück zu ihrem Ausgangspunkt vorne links an der Rampe – und sie fällt, in einer formschönen Attitüde, ihrem Vater in den Arm. Er bettet sie sodann auf den Boden, die Scheintote optisch bewachend und abschirmend. Die starke Vater-Tochter-Beziehung ist eindeutig vorhanden.

Auroras Mutter kommt erst jetzt hinzu, um ihr Kind zu betrauern. Dabei wird sie ausgiebig von ihrem Gatten unterstützt und offenkundig von unüberlegten Handlungen abgehalten.

Aus Aurora wird sozusagen eine Spätzünderin – sie legt erst nach sprichwörtlich zu nehmenden hundert Jahren ihre libidonöse Bindung an den Vater ab. Dabei hilft ihr der Prinz, der ganz bestimmte Eigenschaften verkörpert – und die perfekte Prinzessin zur perfekten Braut macht.

Soweit die Kongruenz von Drewermanns Deutung und Duatos Choreografie.

Applaus fürs Paar

Erste oder zweite Beziehung? Oder wie? Erfahrung ist immer gut. Ob auf der Bühne – hier beim Schlussapplaus: Iana Salenko (Aurora) und Marian Walter (Prinz Desiré – oder im „realen“ Leben. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Feinheiten – durch welche inneren und äußeren Vorgänge – sich Aurora zur Liebe bereit zeigt, muss man indes mehr erahnen, als dass ein Ballett wie dieses sie ausführlich ausstellen könnte.

Man könnte aber weiter ausdeuten. Denn die Stecherei, die Dornröschen in allen überlieferten Fassungen zum Verhängnis wird, hat doch eine deutlich sexuelle Konnotation. In manchen Sprachen und Dialekten ist es das Stechen ganz eindeutig eine Bezeichnung für den Koitus. Im Kontext des vorliegenden Märchens ist anzunehmen, dass eine erste Ehe oder eheähnliche Beziehung gemeint ist. Aber diese Liebe-ohne-Liebe macht Dornröschen Aurora krank; sie verfällt in eine Depression, eine klassische Hausfrauen-Depression, die im Grunde vor allem den Schlaf ihrer Sexualität meint. Erst eine weitere, neue Beziehung, zu der Aurora etwas Mut (ein Aufwachen) benötigt, wird sie glücklich machen. Soweit meine Deutung. Sie ist nicht ganz weit von Drewermann entfernt, setzt aber voraus, dass die Frauen auch im 19. Jahrhundert heimlicherweise mitunter voreheliche sexuelle Beziehungen unterhielten. Und daran reifen sie!

Innere Reife lässt sich nicht erzwingen, aber normalerweise sind gewisse Erfahrungen, die entweder mit freiwillig gemachten Anstrengungen oder mit unfreiwillig erlittenem Schmerz verbunden sind, unerlässlich.

Aurora jedoch – es handelt sich nun mal um ein Märchen – lernt im Schlaf, und ihr Erwachen, ausgelöst durch den Kuss des um sie kämpfenden Prinzen, wird von Drewermann bereits als Schlüsselerlebnis interpretiert. Immerhin ist Desiré ja auch nicht nur einfach und bequem angereist, wie die Prinzen, mit denen Aurora es zuvor zu tun hatte. Desiré hat um Aurora gekämpft, er hat etwas riskiert, das Böse abgewehrt – und sich als außerordentlich liebesfähig gezeigt. Und zwar schon bei ihrer ersten Begegnung, die beide auf Geheiß der Fliederfee geträumt bzw. visioniert hatten.

Feenglück

Dank guter Feen wie der Fée des Lilas (vorne: Sarah Mestrovic beim Schlussapplaus) geht alles nochmal gut… Foto: Gisela Sonnenburg

Dem Hochzeitsfest steht also nichts mehr im Wege, nicht mal Auroras Unreife oder Desirés etwaige Oberflächlichkeit. Ohnehin gilt Aurora als perfekte Prinzessin, mit allen Gaben gesegnet, die sie sehens- und liebenswert machen. Ein Feuerwerk an Divertissements erwartet das Publikum – und der Grand Pas de deux des Brautpaares enthält Virtuosität, Modernität, Schnittigkeit – und viele liebenswerte, puzzlige Details.

So spielt der Prinz vor seinem zweiten Solo pantomimisch Querflöte, denn dieses Instrument wird gleich darauf erschallen. Marian Walter absolviert diese kleine delikate Geste wie im Sprung begriffen, als er aus der Kulisse von links nach rechts auf die Bühne kommt. Entzückend! Und wenn Aurora mit ihm zur Pose ansetzt, dann dreht sie sich vorab einmal mehr, als es im klassischen Tanz üblich ist, um die eigene Achse – einfach niedlich und auch sexy sieht das aus. Und man wundert sich, wieso vor Duato noch kein anderer Choreograf auf ein solches „Aufpeppen“ der klassischen Schritte kam.

Iana Salenko

Aurora an ihrem 16. Geburtstag: Iana Salenko tanzt eine glückliche, aber zugleich auch melancholisch wirkende Prinzessin. Dagegen ist nichts zu sagen, oder? Foto: Yan Revazov

Im Vergleich mit den in das Leben und die Liebe gleichermaßen verliebten Pas de deux des Paares nimmt sich das so genannte „Rosen-Adagio“ im ersten Akt, das Aurora beim Kennenlernen der vier angereisten Prinzen zeigt, in Duatos Version zwar etwas mager aus. Aber das hat seine Sinnhaftigkeit: Die Prinzen sind in Auroras Leben eher eine Bedrohung als eine Wohltat, denn nähme sie einen von ihnen zum Mann, bevor sie sich sticht und in den Tiefschlaf fällt, wäre sie nicht mehr frei für den Prinzen Desiré. Kurz gesagt: Die vier feschen Jungs sind für Aurora nicht die richtigen.

Darum wird der Tanz mit ihnen auf den Höhepunkt des vierfachen Herumführens Aurora auf einem Spitzenschuh, mit abschließender kurzer Balance, reduziert. Motto: Da muss man durch, aber das wahre Leben ist es nicht. Nur so eine Art Speed-Dating. Genau das ist es ja auch im Libretto. Sachlich gibt es keinen Grund, das choreografisch auszuschmücken. Iana Salenkos Balancen sind übrigens sprichwörtlich. Und es gab, nur zur Richtigstellung, auch keine „Buhs“ bei der Premiere, wie eine etwas gehässige Kritikerkollegin es vernommen haben will.

Feen

Die guten Ballett-Feen aus „Dornröschen“ vom Staatsballett Berlin in ihrem Element, der Bühne. Sie machen ja so eine gute Laune! Foto: Yan Revazov

Beim Hinausgehen aus dem Ballett blickt man in glückliche, gelöste Gesichter bei kindlichen, jungen wie älteren Besuchern. Wer sich auf wirklich hervorragend kreiertes Ballett einlässt, wird nun mal umgehend belohnt.

Man kann nun mit zwei entgegen gesetzten Haltungen in dieses neu gemachte, dennoch historisch anmutende „Dornröschen“ hinein kommen. Erstens: Man sieht es sich naiv an. Ohne Bedenken und ohne es zu hinterfragen. Dann wirkt die Ästhetik ebenfalls naiv, ebenso wie die mal hehr donnernde, mal süßlich walzernde Musik.

Die zweite Möglichkeit ist: Man sieht es sich mit sehr guter Kenntnis der Arbeit und des Stils des Choreografen Nacho Duato analytisch an. Das hat den großen Vorteil, dass man Zitate aus anderen seiner Arbeiten erkennt – und auch die Unterschiede zu den verschiedenen anderen Versionen von „Dornröschen“.

Was jedoch nicht geht: sich das Ballett analytisch-kritisch, aber ohne ausreichende Kenntnisse anzusehen. Man sollte sich, wenn man professionell reingeht, vorab in den Stil, die Intentionen, möglichst auch die Arbeitsweisen eines Choreografen einarbeiten. Sonst schaut man zwar genau hin – sieht aber durch eine unscharfe Brille. Halbbildung kann hier viel versauen, zu Missverständnissen führen und womöglich jenen Missmut auslösen, an dem die eingangs genannten Verriss-Kritiker zu kauen hatten.

Dann verstellen einem die eigenen Vorabverurteilungen die Sicht – und man fällt Fehlurteile.

Letztlich ist das Publikum aber selbst gefordert, sich eine Meinung zu bilden. Das gilt auch für den anhaltenden Tarifkonflikt, in dem sich das Staatsballett Berlin derzeit befindet.

Hierzu folgende Fakten: Seit ein Großteil der Tänzer vom Staatsballett Berlin, die bisher in keiner Gewerkschaft organisiert waren, in die Gewerkschaft ver.di eingetreten sind, muss ver.di an den Tarifverhandlungen beteiligt werden.

Damit tut sich aber sowohl die Stiftung Oper Berlin, die den Arbeitgeber vertritt, schwer, als es auch den anderen Gewerkschaften, die für Bühnen- und Musikkünstler in Deutschland zuständig sind, nicht in den Kram passt, dass da auf einmal eine neue Konkurrenzsituation zu ihnen entstanden ist.

Blauer Vogel und Gewerkschaft

Das Publikum liebt die Tänzer, die Tänzer lieben das Publikum. Und sie haben das Recht, sich ihre Gewerkschaft selbst auszusuchen. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Bemühungen, nun ver.di für verschleppte Verhandlungsergebnisse verantwortlich zu machen, sind nicht okay; auch Tänzer haben das Recht, ihre Gewerkschaft frei zu wählen. Ansonsten müsste man auch bei den tariflichen Verhandlungspartnern eines vermuten: einen Dornröschenschlaf.
Gisela Sonnenburg

Wieder am 6.3. und 15.3. (mit Polina Semionova als Aurora). Weitere Vorstellungen im April, Mai, Juni.

Hier geht’s zum großen Premierenbericht:

www.ballett-journal.de/die-neue-schoenheit-der-noblesse/

www.staatsballett-berlin.de

UND SEHEN SIE BITTE INS IMPRESSUM: www.ballett-journal.de/impresssum/

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