Alle Jahre wieder… … allerorten, in allen Epochen: Kein anderes Ballett ersteht regelmäßig zur Weihnachtszeit so quicklebendig auf wie „Der Nussknacker“

Immer wieder da: der Nussknacker!

„Der Nussknacker“ mit Anna Nikulina und Dennis Rodkin aus dem Bolschoi Theater in Moskau: bald auf vielen Kinoleinwänden zu sehen. Foto: Bolschoi

Es gibt ihn klassisch, modernisiert, sogar abstrahiert – und immer wieder mit munter altmodischem Charme: in Knallbunt, mit Uniform-Look und Schleifenschick. „Der Nussknacker“, 1892 in Sankt Petersburg uraufgeführt, ist ein Dauerbrenner der weltweiten Ballettszene, und pünktlich zur Winters- und Weihnachtszeit werden die Kostüme mit den Schneeflocken- und Mäuseschwanz-Requisiten herausgeholt. Neben unzähligen Laienaufführungen zum Thema bereichern verschiedenste Versionen die Profi-Ballettbühnen – mitunter sogar mit Lokalkolorit.

Und ob hart gesottener Ballettfan oder ballettöser Gelegenheitsgenießer: Die Menschen strömen, gern mit Kindern und Großeltern anbei, alle Jahre wieder heran, um den „Nussknacker“ und seine Abenteuer zu erleben.

Entstanden ist er nach der märchenhaften romantischen Erzählung „Nussknacker und Mäusekönig“ des Bamberger Dichters und Musikers E. T. A. Hoffmann. In einer französischen Fassung war dieses an sich deutsche Kunstmärchen in Russland im 19. Jahrhundert sehr beliebt.

Der Bruder des Komponisten Peter I. Tschaikowsky, der Dramatiker Modest Tschaikowsky, arrangierte nach der Geschichte denn auch ein Spiel für die Kinder seiner Schwester – ursprünglich zum rein familiären Gebrauch. Sein Bruder Peter berichtete davon aber seinem Geschäftspartner Marius Petipa, dem Ballettchef in Petersburg. Der war schließlich immer auf der Suche nach neuen Stoffen für große Ballettabende.

Immer wieder da: der Nussknacker!

Ist sowieso ein Symbol für die Weihnachtszeit: Nussknacker in allen Größen und Varianten… hier als Nippes zum Hinhängen. Foto: Gisela Sonnenburg

Der Plan für das Ballett „Der Nussknacker“ war dann schnell gefasst, und wie zwischen den beiden großen Künstlern üblich, bestellte Petipa ziemlich punktgenau „seine“ Musik: Für den Einstieg verlangte er acht festliche Takte, dann sollten 24 Takte Spannung und Erwartung folgen, schließlich ein Tremolo die typische Begeisterung am Weihnachtsabend schildern. Tschaikowsky enttäuschte seinen Ballettpartner nicht – und kreierte eine Musik voll von eingängigen Atmosphären und mitreißenden „Ohrwurm“-Melodien. Ratatatatataratataaaaaaa – jeder kann da mitsingen, der es mal gehört hat.

Die Popularität und Nähe zum kindlichen Gemüt des Ballettstücks war also von vornherein beabsichtigt, auch wenn man sich damals eher keine Gedanken darüber machte, ob das Ballett auch im 21. Jahrhundert noch allüberall für volle Häuser sorgen würde!

Immer wieder da: der Nussknacker!

Eine Märchenwinterlandschaft, mit Schneeflockenballett im „Schwanensee“-Stil: der „Nussknacker“, wie er aus dem Bolschoi in die weite Welt kommt. Foto: Bolschoi

Eine auf den ersten Blick ziemlich klassische, in zahlreichen Details aber liebevoll angereicherte Version zeigt das Bolschoi Theater in Moskau, und sie wird als Aufzeichnung von 2014 einmalig am 20. Dezember in die deutschen Kinos gebracht. Juri Grigorowitsch, der Titan des sowjetischen und russischen Balletts, choreografierte das Stück als ein Meisterwerk der lieblich-pompösen Bühnenkünste – mit einem aufwändigen, cineastisch-realistischen Bühnenbild. Denis Rodkin als Nussknacker-Prinz und Anna Nikulina als träumende Klara wissen mitzureißen – und wer Grigorowitsch noch nicht kennt, weil er sich nie mit dem Bolschoi (dem Olymp des Balletts) beschäftigt hat, der kann hier eine Bildungslücke schließen.

Noch mehr Spaß macht der „Nussknacker“ aber natürlich live auf einer schön herausgeputzten Bühne. Etwa in der Deutschen Oper in Berlin. Dieser „Nussknacker“ von Vasily Medvedev und Yuri Burlaka ist so bonbonbunt, dass man danach glatt die Zähne putzen möchte! Und er hält sich weitgehend an die Version von Lew Iwanow, die 1892 die Uraufführung in Russland bestritt. Marius Petipa war nämlich erkrankt, als es daran ging, das von ihm vorbereitete Libretto in die choreografische Tat umzusetzen. So erhielt sein Assistent Iwanow die Möglichkeit, mit der Nussknackerei in die Ballettgeschichte zu kommen. Wie schon in „Schwanensee“ erwies sich Iwanow der anvertrauten Aufgabe als würdig; die meisten heute gespielten Versionen vom „Nussknacker“ referieren auf seine Arbeit.

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Michael Banzhaf und Iana Salenko im aktuellen Beriner „Nussknacker“ von Medvedev / Burlaka: dubioser, magisch begabter Pate trifft auf kleines, fantasiebegabtes Mädchen. Foto: Bettina Stöß

In Medvedev/Burlaka-Fassung ist vor allem das Verhältnis des dubiosen Drosselmeyer zum Mädchen Clara (das hier zur Abwechslung mit anderen Versionen mal mit „C“ geschrieben wird) bemerkenswert. Drosselmeyer wird von Michael Banzhaf seit der Premiere 2013 ganz hervorragend menschlich und dennoch mit großer Geste dargestellt, alternativ ebenfalls toll ist Rishat Yulbarisov in der Partie.

Drosselmeyer ist hier ein netter Scharlatan, ein begabter Helfershelfer der Fantasie, der dennoch undurchsichtig und von daher immer für eine Überraschung gut ist. Man könnte ihn als Stellvertreter der Erwachsenenwelt sehen, insofern, als er frei von Regeln autonom zu agieren weiß. Clara ist davon sehr beeindruckt, und anders als die anderen zahlreichen (Ballettschul-)Kinder auf der Bühne erkennt sie, dass da Magie hinter Drosselmeyers Wirken steht.

Ihre Träume vom Nussknacker, den sie als Holzfigur geschenkt bekam, der nachts aber ein lebendiger Prinz wird, sind denn auch typisch für Backfisch-Träume. Da ist der Prinz ein Held, der im Kampf gegen den bösen Mäusekönig (sprungstark und dramatisch: Arshak Ghalumyan) sogar verletzt wird, der aber am Ende als heiß geliebter Barbiepuppenboy jede Runde gewinnt. Natürlich ist dieser Prinz nicht wirklich tiefgründig, und auch Clara ist mehr eine Naivitätsschablone als eine wirkliche Rolle. Aber die Hingabe an die Musik und das theatralisch-tänzerische Können der Protagonisten lassen das vergessen.

Immer wieder da: der Nussknacker!

Es wird gegondelt, gehoben, geschwebt: In der Deutschen Oper Berlin ist der aktuelle „Nussknacker“ ein knallbunter, zuckersüßer Liebestraum. Hier Iana Salenko und Marian Walter in den Hauptrollen. Foto: Bettina Stöß

Iana Salenko und Marian Walter, die bravouröse Premierenbesetzung, tanzen das verliebte Teenager-Paar immer noch gern, als Prinz tritt auch der lyrisch-dynamische Dinu Tamazlacaru virtuos in Aktion. Aber auch die sinnlich-niedliche Krasina Pavlova und der männlich-expressive Mikhail Kaniskin vermögen hier zu brillieren. Kaniskins Gattin, die elegante Elisa Carrillo Cabrera, hält sich ja wegen ihrer Schwangerschaft aus dem Bühnengeschehen heraus; dafür hat als Newcomerin die bildhübsche Aurora Dickie ihr Debüt, in der Rolle des naiven Mädchens Clara mit der wunderbaren Fantasie. Herzlichen Glückwunsch!

Höhe- und Endpunkt des Stücks ist hier, in der Deutschen Oper Berlin, eine Reise ohne Wiederkehr nach Konfitürenburg. Dort wird Clara zur Zuckerfee gekrönt und außerdem ihrem Herzbuben, dem Prinzen, zugesprochen. Die Verneigungen des ganzen munteren Hofstaats sprechen für sich: Das hier ist Märchenland total.

Während Bühnenbild und Kostüme in Berlin den historischen Vorlagen der Uraufführung folgen, jedoch ins „Megamegamegabunte“ transponiert und mit viel Prunk aufgemotzt worden sind, zählt in Dresden der Bezug zu einer ebenfalls historischen, aber ganz echten Stadtkulisse.

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Das klassische „Schneeflocken“-Ballett ist ein Pendant zum „Blumenwalzer“ im „Nussknacker“, so zu sehen beim Staatsballett Berlin. Foto: Bettina Stöß

Aaron S. Watkins „Nussknacker“, den er 2011 zusammen mit Jason Beechey, dem Leiter der Palucca Hochschule für Tanz schuf, zitiert gleich zu Beginn den Dresdner Striezelmarkt, den ältesten Weihnachtsmarkt der Welt. Der avancierte mit seinen putzigen Buden und seiner zentralen Stadtlage auf dem Alten Markt in Dresden zu einem weltweit bekannt gemachten Touristenerlebnis. Und sorgt stets pünktlich im Dezember dafür, dass sich die Hotelpreise in Dresden mal eben verdoppeln. Für sparsame Anreisende sind also entweder die „Nussknacker“- Nachmittagsvorstellungen in Dresden interessant – oder das eigene Auto, das bequem und ohne Bahnfahrt eine Übernachtungsgelegenheit außerhalb der finanziellen Bannmeile des Striezelmarkts erlaubt.

Und dann gibt es in der Semperoper in Dresden Brillanz vom Feinsten zu erleben: Drosselmeier (hier mit zwei „e“) ist auch hier ein Magier, aber eben auch mit Dresdner Kolorit begabt. Es wundert einen fast, dass er nicht hörbar sächselt, aber wenn es ballettöses Sächseln gibt, dann verkörpert er es!

Marie (das Mädchen heißt hier so wie in John Neumeiers „Nussknacker“, denn den hatten die Dresdner vor der Striezelmarkt-Version im Repertoire), Luise, Fritz und die anderen brennen hier auf das Weihnachtsfest, das ihre Fantasie entflammt. Kein Wunder, dass aus dem hölzern-nützlichen Nussknacker ein knackig-luxuriöser Märchenprinz wird!

Die Bescherung ist hier eine große Sache, und symbolträchtig-hintergründige Geschenke erlauben entsprechendes Tanztheater. Auf dem für sie noch viel zu großen roten Sofa schläft Marie dann ein – und träumt vom tapferen Nussknacker-Prinzen, der Zuckerfee und ihrem Gemahl, vom Kampf gegen die bösen Mäuse, aber auch von einem zauberhaften Schneeflocken-Ballett.

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Traumblumen und mittendrin Marie (Anna Merkulova) auf den Schultern ihres Wunschprinzen (István Simon) – so zu sehen beim Semperoper Ballett in „Der Nussknacker“. Foto: Costin Radu

Im „Land der Süßigkeiten“ schließlich, dieser nostalgischen Traumversion neumodischer Werbeclips, tanzen nicht nur die Zuckerstangen allerbest gelaunt auf – und eine jede und ein jeder gibt ihr oder sein Bestes, um als leibhaftiges Naschwerk eine gute Figur zu machen. Der Prinz, der sich als Sohn der Zuckerfee entpuppt, wird mit Marie zum Thronfolgerpaar erklärt und alles erscheint so himmlisch, dass es eigentlich gar nicht wahr sein kann.

Doch als Marie auf ihrem roten Sofa wieder erwacht, da finden sich tatsächlich Beweise dafür, dass ihr Traum nicht nur ein Traum war…

Mit der psychologischen Verklammerung durch die Rahmenhandlung erreicht diese Version etwas, das vielen „Nussknacker“-Ausstattungsorgien fehlt: Geist und Hintergründigkeit.

An Besetzungen kann man sich in Dresden durch das hervorragende Ensemble durchgucken: Ob die hoch begabte Sarah Hay, die gerade auch als „Manon“ begeisterte, die Marie tanzt oder ob Chantelle Kerr mit der ihr eigenen Eleganz diese Rolle übernimmt, ob Jenny Laudadio oder Gina Scott, ob Chiara Scarrone oder Yuki Ogasawara – bei sage und schreibe sechzehn Vorstellungen vom „Nussknacker“ in dieser Legislaturperiode der Zuckerfee kann es gar nicht genug verschiedene kompetente Besetzungen geben!

Als Prinzen wechseln sich so bezaubernde junge Herren wie Julian Amir Lacey und Václav Lamparter ab, als Zuckerfee dürfen in dieser Saison Ballerinen wie Anna Merkulova und Svetlana Gileva triumphieren, und als Gemahl  sind so versierte Erste Solisten wie István Simon und Denis Veginy dabei.

Wer kein Ticket mehr für die Semperoper bekam, der kann eine Fernseh-Aufzeichnung des Dresdner „Nussknackers“ auf youtube besehen. Unbedingt ansehen, bitte! Mit István Simon als Nussknacker-Prinz und Jiří Bubeníček als Zuckerfee-Gemahl!

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Der unvergleichliche Jiri Bubenicek als Gemahl der Zuckerfee: Noch einmal zu sehen, wenn arte in der Nacht des Ersten Weihnachtstags die Aufzeichnung vom „Nussknacker“ aus Dresden ausstrahlt. Foto: Costin Radu

Ein Augenschmaus, ganz klar, und die Sächsische Staatskapelle wird ihrerseits den Ohrenschmaus mit der Musik hinzufügen.

„Der Nussknacker“ hat wirklich von jeher die Choreografen und Ballettbosse zu inspirieren vermocht. Sogar George Balanchine, der Neoklassizist, konnte da nicht widerstehen und schuf 1954 in New York eine eigene Version. Die war zwar relativ modern, von der ganz abstrakten „Turnerei“ von Thierry Malandain (dessen „Magifique“-Collage 2001 in Biarritz uraufgeführt) aber noch weit entfernt. Marco Goeckes 2006 uraufgeführte Version vom „Nussknacker“ hat damit übrigens starke Ähnlichkeit, was nach Angaben des Choreografen aber der pure Zufall ist.

Gar nichts war Zufall, wenn Maurice Béjart seine schicksalhaften Choreografien entwarf. Sein „Casse Noisette“ – mit einem Mini-Bäumchen auf einem Sockel, einem rotschopfigen Kobold in Latzhosen mit nur einem Hostenträger sowie mit einer Gruppe munterer Aerobic-Leuten – setzt die schwarze Eleganz einer erotischen Drosselmeier-Gestalt gegen ein prunkvoll-lustiges Multikulti-Ambiente. Darin hat die alte Diva im weißen Pelz ebenso ihren Platz wie ein junges Paar, das Adam und Eva verkörpert. So avancierte der „Nussknacker“ zur feministischen Schöpfungsgeschichte des modernen Balletts, wer hätte das gedacht?

Ein eher gemäßigter, edel-klassischer „Nussknacker“ stammt von Rudolf Nurejew, der das gute Stück ab 1967 insgesamt drei Mal inszenierte. In der Wiener Fassung lässt Nurejew zu Beginn arme Leute Schlittschuh laufen, bringt so das soziale Gefälle des 19. Jahrhunderts mit ins Stück. Den Hauptpersonen gönnt er viel Raum für Sprünge und tänzerische Delikatessen.

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Die Exotik spielt mit, im dritten Teil vom „Nussknacker“ – hier in geschmackvollem Farbspiel beim Semperoper Ballett in Dresden. Foto: Costin Radu

Legendär ist Rudis Auftritt von 1968 mit der zarten Merle Park, die in einem viellagigen, aber ganz kurzen und sogar durchsichtigen Röckchen außerordentlichen Babydoll-Sexappeal verströmte. Nurejew trug dazu ein Glitzerbolero überm Spitzenjabot – traumhaft und exotisch!

Auch Mikhail Baryshnikov ist mit einem „Nussknacker“-Auftritt unvergesslich geworden: mit der etwas staksigen Gelsey Kirkland tanzte er die Rotunde aus Grands jeté entgegen dem Uhrzeigersinn bei weißblauem Mondlicht. 1977 war das, in New York beim American Ballet Theatre: exotisch, gar nicht kleinmädchenträumerisch, sondern fast dekadent.

Exotisch in wirklich jeder Hinsicht ist auch „Der Nussknacker“ von 1971, den John Neumeier in Frankfurt am Main schuf. Während es für den Komponisten Tschaikowsky das letzte Ballett war, ist es eines der frühen Meisterwerke von Genie Neumeier – obwohl viele Zutaten zu einem klassischen „Nussknacker“ hier fehlen.

So gibt es hierin keinen Weihnachtsbaum, kein Schneeflockenballett und keine Mäuse! Die Geschichte spielt noch nicht mal am Weihnachtsabend, wenn auch irgendwann in der Winterszeit, in der man in unseren Breitengraden die Hilfe eines Nussknackers zum Nüsseknacken braucht.

Und natürlich wird auch Neumeiers „Nussknacker“ immer wieder zur Weihnachtszeit getanzt. Das liegt an dem typisch festlichen Zauber, den die träumerische Theaterbegehung in dieser Stückversion verbreitet.

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Marie (Katherina Markowskaja beim Bayerischen Staatsballett) hat hier Geburtstag: in John Neumeiers „Nussknacker“ gibt es keinen Weihnachtsbaum, dafür Spitzenschuhe als Geschenk. Foto: Wilfried Hösl

Marie hat hier nämlich Geburtstag und bekommt den Nussknacker zu ihrem Ehrentag, statt ihn als Weihnachtsgeschenk zu erhalten.

Die Holzfigur wird in ihrem Traum nicht lebendig, aber den Patron Drosselmeier, den gibt es hier auch: als spinnert-genialischen Ballettboss, der Maries Schwester Louise als Primaballerina auftreten lässt. Marie schwärmt derweil für Louises Verlobten Günther, der sich in ihrem nächtlichen Traum denn auch glatt zu einem initiierenden Pas de deux mit ihr hinreißen lässt. Wofür sonst hat Drosselmeier ihr die ersten Spitzenschuhe zum Geburtstag geschenkt?

Im ersten Teil des Balletts herrscht die Komik vor: Günther hebt Marie empor, und wie ein kleiner nasser Sack hängt das Mädchen da oben, wiewohl es sich doch so sehr nach Grazie und Schönheit sehnt!

Diese Kennzeichen der Weiblichkeit erhält sie dann in ihrem Traum auf der Ballettbühne – und Drosselmeier führt die multi-ethnischen Einlagen, die sonst im „Land der Süßigkeiten“ aufgeboten werden, als das vor, was sie sind: alles nur Theater! Aber was für eins…

Die kleine Chinesin schultert der Ballettmeister da gleich selbst (ganz entzückend in der Hamburger Besetzung der Chinesin mit Mayo Arii). Ein ägyptisches Paar wird nicht selten mit Ersten Solisten besetzt, die die kleine Nummer zu einem Hochglanzstück machen

Und alles strebt dem Grand Pas de deux zu, den Louise und Günther nach einem flockig-lockeren Solo von Marie  absolvieren.

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Der Ballettmeister Drosselmeier ist ein Irrwisch – und Marie mit der blauen Schleife ein aufgewecktes Kind, das langsam, aber sicher erwachsen wird… so in John Neumeiers „Der Nussknacker“, hier beim Bayerischen Staatsballett in München. Foto: Wilfried Hösl

Meine Lieblingsbesetzung in Hamburg für die Louise: die hehre Anna Laudere, wiewohl Leslie Heylmann der Partie etwas Schelmisches verleiht. Als Günther ist Alexandr Trusch mein uneingeschränkter Hamburger Liebling. Und als Marie?

Alina Cojocaru tanzt die Marie je nach ihrer Laune: manchmal supertoll, manchmal eher langweilig, nämlich dann, wenn ihre Eitelkeit sie in den grotesk-komischen Szenen der Marie nicht so richtig mitmachen lässt.

Hélène Bouchet ist natürlich eine feine Marie, gefällt mir aber in anderen Rollen deutlich besser.

Emilie Mazon hingegen besiegt jedes Mal die Neigung der Ballerinen, sich vor allem schön oder bedeutend zu fühlen, und sie ist eine Marie wie aus dem Wunschbilderbuch: ulkig, niedlich, absurd, dennoch erotisch in ihrer frühreifen Teenagerhaftigkeit.

Christopher Evans ist ihr elegant-jungmännischer Günther – mit schön ausgeprägter Sprungkraft und stets aufrechter Haltung. Die beiden sind noch blutjung und berücken schon dadurch ganz besonders in diesen Rollen!

In München beim Bayerischen Staatsballett war Neumeiers „Nussknacker“ aber auch viele Jahre ein echter Hingucker – mit so bezaubernden Solistinnen als Marie wie Katherina Markowskaja und Ilana Werner, die heute in Frankreich, beim Ballet du Capitol in Toulouse, reüssiert.

Ilana spielte die Marie mit kindhafter Neugier und uneitler Freude am Tanz. Da Bühnentanz hier im Ballett ja selbst das Thema ist (John Neumeier hat sich das geschickt als Eigenwerbung ausgedacht), ist es schon wichtig, wie die Darstellerin der Marie damit umgeht, dass ihre Partie zunächst nicht richtig tanzen kann, sondern erst im Verlauf des Stücks zur Könnerschaft aufblüht.

Umso lustiger ihre unbeholfen-bemühten Schritte zuvor! Gerade Ilana Werner war hier ein Erlebnis an blitzblanker Redlichkeit, gepaart mit nonchalanter Grazie.

Absolute Weltklasse präsentierten dann Lucia Lacarra als Louise und Marlon Dino als Günther in München. Das heißt: Paartänze vom Besten, mit Glanz, Gloria und doch viel Herz!

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Weltklasse in Bordeaux und Weiß, so, als kämen sie direkt aus einem Traum-Marientheater… Lucia Lacarra und Marlon Dino in Neumeiers „Nussknacker“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Die Louise trägt ja im ersten Teil ein lachsfarbenes Kostüm, im zweiten Teil ein weißes Tutu und erst im dritten Teil das festliche Bordeaux-Weiß eines Tellertutus, das ausschaut, als käme es direkt aus dem Sankt Petersburger Marientheater. Jürgen Rose als Bühnen- und Kostümbildner dieser Version muss denn auch unbedingt genannt werden.

In Hamburg reüssiert des weiteren vor allem auch Alexandre Riabko als Drosselmeier, er holt aus der Rolle des schamanischen Ballettchefs, der zugleich so etwas wie ein Zirkusdirektor ist, alles an Komik und Virtuosität heraus.

Aber ob in München oder in Hamburg: ein superbes Superhighlight der Neumeier-Version sind die drei Kadetten, die einen Kosakentanz mit mannshohen Bockssprüngen hinlegen, bei dem kein Auge trocken bleibt: Komik und Begeisterung mischen sich mit den Rhythmen der Musik, und wer das Zirkus nennen will, kann das ruhig tun – wir Ballettfans wissen mehr.

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Die auch (bocks)springenden Kadetten sind ein absolutes Highlight in Neumeiers „Nussknacker“, hier beim Bayerischen Staatsballett fröhlich und fesch ihre Kraft zeigend. Foto: Wilfried Hösl

Und auch, wenn der „Nussknacker“ traditionell oft das bunteste und „zirkushafteste“ der großen klassischen Ballette ist – er lässt sich einfach nicht unterkriegen!

Am Ende, nach einem turbulenten Theaterfinale, darf man denn auch auch bei Neumeier – wie bei Watkin / Beechey – gedanklich mit der Hauptdarstellerin auf der Bühne wieder erwachen. Um sich um Einiges erwachsener zu fühlen…
Gisela Sonnenburg

Vorstellungen: siehe „Spielplan“

Weitere Texte zu den „Nussknackern“ in den Rubriken „Hamburg Ballett“, „Staatsballett Berlin“ und „Semperoper Ballett“

Am 20. Dezember 2015  zeigen ausgewählte Kinos in etlichen Städten den aktuellen „Nussknacker“ des Bolschoi: www.tanzimkino.de

Die Berliner Version „Der Nussknacker / Casse Noisette“ von Medvedev/ Burlaka erschien soeben als DVD bei belair classique

3sat sendet am Heiligen Abend (24.12.15) um 20.15 Uhr eine formschöne Aufzeichnung des Wiener Staatsballetts von 2012: „Der Nussknacker“ in der Choreografie von Rudolf Nurejew

„Der Nussknacker“ von Aaron S. Watkin mit dem Semperoper Ballett ist auf youtube in der arte-Aufzeichnung zu sehen 

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