Die Liebe eines alternden Mannes John Neumeiers „Tod in Venedig“ begeistert beim Hamburg Ballett mit der orgiastischen Illustration des späten Begehrens

"Tod in Venedig" mit Lloyd Riggins als Aschenbach und Alexandr Trusch als Jüngling Tadzio – ein Bilderbogen des Begehrens. Foto: Holger Badekow

„Tod in Venedig“ mit Lloyd Riggins als Aschenbach und Alexandr Trusch als Jüngling Tadzio – ein Bilderbogen des Begehrens. Foto: Holger Badekow

Die männliche Sexualität gibt immer wieder Rätsel auf. Das, was oft als „zweiter Frühling“ bezeichnet wird, kann einen Mann (und zwar stärker als eine Frau) so derart überwältigen, dass er sein gesamtes Leben auf den Prüfstand stellt – oder sogar an seiner späten, letzten großen Liebe stirbt. So ergeht es Gustav von Aschenbach, der in der Novelle bei Thomas Mann ein Komponist nach dem Vorbild von Gustav Mahler ist, der aber Thomas Manns eigene versteckte und nur heimlich empfundene Homophilie verkörpert.

Solche Versteckspielchen hat John Neumeier nicht nötig. Der in meinen Augen bedeutendste aller Künstler, der nicht nur vor allem Choreograph, sondern auch ein exquisiter Lichtdesigner und ästhetisch spannender Ausstatter ist, lebt ganz offen als Homosexueller. Und er weiß, dass ihm das Antidiskriminierungsgesetz von 2008 zumindest in Deutschland eine gewisse Sicherheit zu bieten hat. Während Neumeier seit Jahren in einer festen Partnerschaft Geborgenheit findet, sind seine Figuren auf der Bühne – wie es sich für die dramatische Kunst gehört – den Stürmen und Böen schwieriger Gefühlslagen ausgeliefert. Dabei nimmt der Deutschamerikaner Neumeier, der seit 1973 das Hamburg Ballett leitet, gerade die tragischen Abgründe der menschlichen Seele ernst und setzt sie in großartig anzusehende Tableaus um. So ist es kein Zufall, wenn mich immer wieder vor allem seine Ballette zu Frohlockungen hinreißen.

Mit dem „Tod in Venedig“, den er 2003 frei nach Manns Novelle schuf und den er im Untertitel einen „Totentanz“ nennt, hat er die typische libidinöse Befürchtung eines nicht mehr jungen Menschen – nämlich ungeliebt zu lieben – in einen Reigen bunter Szenen umgesetzt. Dabei scheut er nicht den Vergleich mit sich selbst: Aschenbach ist bei ihm kein Komponist, schon gar nicht Gustav Mahler, zu dem Neumeier durch seine Mahler-Ballette eine ganz eigene, künstlerisch geprägte Beziehung hat. Sondern Aschenbach ist in diesem Ballett ein „Meisterchoreograph“, der in seinen Kreationen – wie Neumeier selbst – mit einem eigenen Ensemble freie Hand hat und mit einem Mitarbeiterstab auch bestens durchorganisiert ist.

Doch Aschenbach altert, und das spürt er zuerst während der Proben zu einer neuen Kreation. Immer wieder lässt sich Lloyd Riggins, der die Partie des Aschenbach seit der Uraufführung mit Bravour tanzt, von seiner Assistentin bedienen, lässt sich neuen Kaffee bringen und die Schuhe wechseln; er verteilt unwirsche, unglückliche Blicke derweil. Er will ein Stück über Friedrich II. machen, allein – es geht nicht so richtig voran.

Die Besetzung der Uraufführung: Riggins und Revazov als ungleiches Paar. Foto: Holger Badekow

Die Besetzung der Uraufführung: Riggins und Revazov als ungleiches Paar. Foto: Holger Badekow

Um Anregung zu finden, reist er nach Venedig. Als er dort einem schönen Jüngling begegnet, ist es mit der themenbezogenen Schaffenskraft vorbei. Es ist eine seltene Art von Liebe, die hier wie der Blitz vom Himmel in den Liebenden einfährt, und es ist eine in dieser Form zuvor nie gefühlte Sexualität, die Aschenbach überwältigt. Das Begehren nach dem jungen männlichen Körper, diesem Sinnbild von Kraft und Stärke, bestimmt fortan jeden seiner Gedanken – Lloyd Riggins, der 2004 für diese Partie den „Prix Benois de la Danse“ in Moskau erhielt, wusste das bislang stets stimmig und durchaus auch bedeutsam-mitleiderregend zu tanzen.

Am Lido, dem Strand von Venedig, scheinen Aschenbach, dem alternden Möchtegernliebhaber, die Ball spielenden, herum tollenden Jungs wie ein einziges Elysium zu sein. Sie wirken auf ihn paradiesisch und doch fern. Die oft seitwärts ausgerichteten, vergnügten Sprünge der jungen Männer in Badehosen erregen und verwirren ihn – ohne, dass er sich das in seinem Liegestuhl anmerken lassen will. Er erinnert sich an die eigene Jugendzeit und sieht prompt Tadzios Mutter in einem weißen Kleid am Strand tanzen. Ihr Sohn hebt ihren Damenhut vom Boden auf, setzt ihn sich auf. Das wirkt auf Aschenbach natürlich symbolisch. Und er beginnt, unwillkürlich sein Manuskript zu liebkosen, das er mit an dern Strand nahm, um Arbeitsamkeit vorzutäuschen. Als Tadzio mit einem anderen Jungen einen kurzen Pas de deux absolviert, blickt Aschenbach fast gierig auf. Sein Begehren wächst.

Ein verdoppelter „Wanderer“, eine mystische Geistergestalt in zweifacher Ausführung, begegnet ihm immer wieder in verschiedenen Verkleidungen, wie eine schicksalhafte Fantasie – und ob auf Partys oder beim Fototermin, bei der Arbeit im Ballettsaal oder beim Flanieren: Was Aschenbach sucht, wird er nie mehr bekommen, er ahnt es, die sexuelle Erfüllung, die ihm sein eigenes Begehren verspricht, bleibt aus. Immer wieder hält er darum inne, wie geschockt von dieser Erkenntnis. Bleibt ihm der Traum, die unzensierte Collage des Unbewussten, hier ist es ein mit Angst auch negativ gefärbter Lusttraum von einer Orgie, in der Männlein und Weiblein gleichermaßen nur noch Körper sind. Sie machen Liebe, wild und ungezügelt – ohne Tabu. Als Musik erklingt hierzu das „Bacchanal“ aus Richard Wagners „Tannhäuser“. Neumeier hat es schon einmal choreographiert, als Bestandteil der Opernaufführung bei den Bayreuther Festspielen, 1978, aber jetzt ist es etwas ganz Anderes, etwas ganz Neues, wenn man so will, auch: etwas Persönlicheres. „Ballett ist immer auch Autobiographie“, sagt John Neumeier. Und meint den gesamten Erfahrungsschatz, den er als Mensch und Künstler faktisch und emotional schon eingesammelt hat. Und auch Lloyd Riggins sagt, er habe hier fast alles, was er an wichtigen Eindrücken jemals bekommen habe, mit einfließen lassen. Es geht ja in Neumeiers „Tod in Venedig“ um die letzten Dinge, nicht nur um Sex.

BEINAHE LIEBENDE FÜR EINEN MOMENT

Wie aber steht Tadzio, der Jüngling, der all diese Gefühlsstürme auslöst, zu Aschenbach? Er ahnt kaum etwas von dessen Hintergedanken, wenn sich ihre Blicke kreuzen. Wie zufällig bahnt Aschenbach Kontakt zu der strotzenden Strandschönheit in roter Badehose an… Edvin Revazov, der in den letzten Jahren den Tadzio tanzte und dieses auch auf der im Handel erhältlichen DVD tut, betonte in seiner Darstellung stets die Naivität des jungen Mannes. Arglos reicht er Aschenbach die Hand und zieht ihn hoch, wie einen Spielgefährten, wie einen Kumpel, und für wenige Sekunden scheinen die beiden tatsächlich in derselben Welt, sogar in derselben Sphäre der Verliebtheit zu leben. Aber der Moment zerbricht – und Aschenbach fühlt sich einsamer als je zuvor.

„Eine Wertung der menschlichen Kultur zu geben liegt mir aus den verschiedensten Motiven sehr ferne“, schrieb Sigmund Freud 1930 gen Ende seines Aufsatzes „Das Unbehagen in der Kultur“. Um weiter darzulegen: „So sinkt mir der Mut, vor meinen Mitmenschen als Prophet aufzustehen, und ich beuge mich ihrem Vorwurf, dass ich ihnen keinen Trost zu bringen weiß, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen.“ Als einzige Hoffnung auch gegen die übermächtige Aggressivität im Menschen postulierte Freud, den Aufsatz damit schließend, den „ewigen Eros“. Was aber, wenn eben dieser selbst sich ins Destruktive verkehrt? Es kommt zum Kampf in der armen Seele, die – wie im Fall Aschenbach – ohnehin schon geschunden und vor Schwäche wie beschädigt ist.

Aschenbach verliert. Erst seine künstlerische Potenz. Dann die Lust an seinem Dasein als VIP in einer von Neumeier köstlich desparat und kreischbunt erdachten High Society. Aschenbach ergibt sich seinem eigenen Begehren, ohne begehrt zu werden, seine Lage ist hoffnungslos, er erkrankt – und stirbt, langsam und zu Füßen des geliebten Jünglings. Dieser schaut währenddessen ungerührt mit einem imaginären Fernglas ins Publikum, das wiederum auf Aschenbach blickt und erkennen muss: Tod und Liebe sind manchmal wie eine Sinfonie, und vielleicht ist es besser, mit und aus unerfüllter Liebe zu sterben als ganz ohne sie irgendwie einzugehen.

Als Neumeier im August 2003 mit den Proben für die Dezember-Premiere mit dem „Tod in Venedig“ begann, startete er mit einem Solo für Tadzio. Mit drei Tänzern begann er zu arbeiten, am Ende hatte er entschieden, wer die Rolle tanzen sollte: Edvin Revazov, der frisch aus Neumeiers Ballettschule kam. Ein betont burschikoser, damals noch fast stoffeliger Tänzer, einer mit Ecken und Kanten, fast zu groß für Ballett und fast zu breitschultrig. Gerade diese extremen Körpermaße machen Revazov zu einer auffallenden Person auf der Bühne – mittlerweile hat er viele Neumeier-Partien mit kreiert, zuletzt den Eugen Onegin in „Tatjana“.

Carsten Jung als Aschenbach und Aljoscha Lenz als Tadzio – zwei Rollendebüts in Hamburg. Foto: Holger Badekow

Carsten Jung als Aschenbach und Aljoscha Lenz als Tadzio – zwei Rollendebüts in Hamburg. Foto: Holger Badekow

An seiner Stelle folgen nun die jüngeren Tänzergenerationen als Tadzio. Erstmals sind in Hamburg damit zu sehen (nach erfolgreichen Aufführungen bei einem Gastspiel in Kopenhagen): Alexandr Trusch, jüngster Erster Solist der Truppe und bereits ein Weltklasse-Tänzer mit berückendem lyrischen Schmelz und geschmeidiger Wendigkeit. Er tanzt mit Riggins, dem erfahrenen und als Aschenbach bekannten Hauptdarsteller. Der zweite Besetzungspart besteht aus Carsten Jung als Aschenbach und Aljoscha Lenz als Tadzio. Jung ist als vielseitiger Lieberhaberdarsteller oft gerühmt worden, zudem ist er derjenige im aktuellen Neumeier-Ensemble, der seine dunklen Seiten überwältigend intensiv zu zeigen versteht: Als „Mann im Schatten“ ist er auf der DVD „Illusionen – wie Schwanensee“ verewigt, und als Monsieur Duval in der „Kameliendame“ war er in vielen Vorstellungen ein richtig düsterer Bösewicht in Herzensdingen. Als Frauenheld und Sozialabsteiger „Liliom“ ertanzte er sich schließlich seinen „Prix Benois de la Danse“, den wichtigsten Tänzerpreis.

Jetzt also wird dieser Carsten Jung einen heimlich begehrenden, mit einer Obsession alternden und sterbenden Mann tanzen! Er wird seine hingebungsvolle Seite zeigen und klar machen,  dass er nicht nur die Nummern als Macho drauf hat. Vielleicht wird er an eine gereifte, dadurch auch zart gewordene Ausgabe des Prinzen in Neumeiers „Die kleine Meerjungfrau“ erinnern. Der Hetero, der in der zweiten Lebenshälfte die Liebe von Mann zu Mann entdeckt: Was weder Thomas Mann noch John Neumeier eindeutig klären, kann ein Tänzer mit wenigen Bewegungen entscheiden.  Sein Tadzio ist so blutjung, wie er sicher von vielen Männern für den „letzten Versuch“ erträumt wird: Aljoscha Lenz ist erst 1993 in Duisburg geboren und bis vor kurzem noch bei Neumeier ausgebildet worden. Im „Tod in Venedig“ hat er seine ersten großen Auftritte in der Compagnie, welcher er erst seit letztem Jahr angehört. Toitoitoi!
Gisela Sonnenburg

„Tod in Venedig“ in der Hamburgischen Staatsoper, am 17.10. mit Lloyd Riggins und Alexandr Trusch, am 19.10. mit Carsten Jung und Aljoscha Lenz in den Hauptrollen.

Die DVD „Death in Venice – Tod in Venedig“ erschien 2012 bei Arthaus Musik (Cat. No. NTSC 101 622)

www.hamburgballett.de

UND BITTE SEHEN SIE HIERHIN: www.ballett-journal.de/impresssum/ 

ballett journal