500 Jahre Behindertenfeindlichkeit „Reformation“ und Diskriminierung: Die Berliner Philharmonie erweist sich ausgerechnet beim Gastspiel des Bundesjugendballetts als äußerst behindertenfeindlich. Ein Lichtblick hingegen: Manuel Brug

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Falsche Angaben auf der Homesite der Berliner Philharmonie: als würde nur John Neumeier für das Bundesjugendballett, dessen Intendant er ist, choreografieren… Man hat hier sowieso den Eindruck, Ballett sei ja eher unwichtig… Eine sehr unübliche Einstellung bei Gastspielen! Faksimile: Gisela Sonnenburg

Die Tickets der Berliner Philharmonie lassen bereits vermuten, dass es an diesem Abend nicht ganz korrekt zugehen wird: „Bundesjugendorchester – Dirigent: Alexander Shelley“ steht da. Aber kein Wort vom Bundesjugendballett (BJB), das hier an diesem 16.1.2017 zu Gast sein soll. Ballett und Körper, werden sie in der hehren Musikhalle nicht so wichtig genommen? Das werde ich später noch am eigenen Leib erfahren. Auf der Website vom BJB heißt der Abend jedenfalls „Gipfeltreffen – Reformation“, und unter diesem Titel geht das Programm auch auf Tournee. „Gipfeltreffen“, in leichter Selbstironie, ist dabei auf das BJB und das BJO bezogen. Aber das Programmheft der Philharmonie betitelt den Abend anders: „500 Jahre Reformation“. Wie heißt er denn nun? Auf der Website der Berliner Philharmoniker finden sich später, beim Livestream im Internet, weitere falsche Angaben. Als Choreograf wird da immer nur John Neumeier angegeben, bei allen drei zu sehenden Tanzstücken – aber das ist falsch, von BJB-Intendant Neumeier stammt (leider) nur das Bach-Stück.

Livestream? Aufmerksame Leser wundern sich jetzt, wieso ich den Livestream rezensiere, wenn ich doch vor Ort in der Philharmonie war.

Das ist so eine Sache. Ich muss jetzt was erklären. Ich habe nämlich seit Jahren eine Behinderung: ein kaputtes Knie, das wegen einer rheumatischen Erkrankung nicht so richtig heilt. Ich mache Übungen, die auch helfen – aber eine hundertprozentige Heilung ist nicht zu erwarten. Ich kann das Knie nicht lange gebeugt halten, darum ist normales Sitzen derzeit unmöglich. Zum Glück gibt es ein Taschenformat, das als Sitzhilfe für mich geeignet ist. Ich kann die Tasche hochkant stellen, dann ist sie ein flexible Stütze in der richtigen Höhe für das kranke Knie. Es ist übrigens das linke. Darum sitze ich auch immer am Rand, meistens links, in den Theatern, Konzerthallen und Opernhäusern.

Ich habe ein ärztliches Attest über diesen Behelfsvorgang mit der Tasche, und wenn ein Aufseher sich an der Tasche stört, erkläre ich das freundlich und zeige das Attest. Zuschauer reagieren sowieso schon beim Anblick meines gestützten Beines sehr mitfühlend – es ist ja auf den ersten Blick offensichtlich, dass da eine Behinderung vorliegt, und Kulturbesucher sind keine Rowdys.

Da ich ansonsten beweglich bin, stelle ich auch keine Behinderung anderer Besucher dar. In Schreckmomenten kann ich rasch aufstehen und mit der Tasche fortgehen. Ich demonstriere das, falls es verlangt wird – ich wäre also im Fall einer Massenpanik auch mit Tasche kein größeres Hindernis als ein „normaler“ Zuschauer.

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Eine Hebung de luxe in der „Bach-Suite 3“ von John Neumeier, getanzt vom Bundesjugendballett (BJB), der Nachwuchstruppe vom Hamburg Ballett. Foto aus der Hamburgischen Staatsoper: Silvano Ballone

Und sollte ein Aufseher Sprengstoff in meiner Tasche befürchten, kann er diese gern durchwühlen. Da bin ich nicht prüde. Wobei ich mir erlaube anzumerken, dass Rollstühle auch nicht auf Dynamit untersucht werden.

Aber in der Berliner Philharmonie, da ist nicht jede Behinderung erlaubt.

Zumindest nicht, wenn es dort ausnahmsweise mal Ballett statt Musik als Hauptattraktion gibt.

Zunächst stellt mir allerdings niemand eine Frage zur Tasche, als ich eintrete. Der Einlass hat nichts an mir zu monieren und auch die junge Dame mit den Programmheften am Saaleingang nicht. Aber dann: Kurz vor Beginn des Konzerts, für dessen ersten Teil ein Stück von Felix Mendelssohn Bartholdy (Symphonie Nr. 5 d-Moll op. 107, die „Reformationssinfonie“) angesagt ist, rückt mir eine Aufseherin auf die Pelle: Die Tasche müsse weg, das würde so nicht gehen.

Ich erkläre freundlich, wie es ist und zeige auch das Attest. Ja, sagt sie, sie würde mir ja glauben, aber sie müsse da Rücksprache halten. Dann taucht ein noch jüngerer Herr auf – die wandelnde „Rücksprache“ – und teilt mir entschieden mit, das ginge so nicht. Ich erkläre wieder und demonstriere, wie ich die Tasche für das erkrankte Knie benutze. Er will nichts davon wissen: „Wir haben unsere Vorschriften!“ Man will auch nicht an einer anderen Stelle nochmal nachfragen. Man ist sich sicher, dass die Vorschrift keine Ausnahme duldet.

Vorschriften ohne Ausnahmen – so etwas gibt es an gefährlichen Orten. In Gefängnissen etwa, wo das BJB ja auch tanzt. Aber in Konzerthallen? Vorschriften ohne Ausnahmen? Bei Behinderten – keine Ausnahmen?

Behinderte raus, besagt die Vorschrift in diesem Fall.

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Eine Kameraeinstellung beim Livestream des „Gipfeltreffen – Reformation“ aus der Berliner Philharmonie, die für Ballett nicht wirklich geeignet scheint. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Tja. Was also macht eine deutsche, von Steuergeldern finanzierte, staatliche Kultureinrichtung mit Journalisten, deren Behinderung nicht ins vorgesehene Schema passt? Rauswerfen. Man kann es kaum fassen.

Ja, und das geht eigentlich gar nicht, finde ich.

Das ist aber so Fakt, und darum lande ich, immerhin pünktlich zum Beginn des zweiten Teils, der optisch dem Bundesjugendballett gehört, vor dem heimischen Computer beim Livestream.

Es gab auf der BJB-Website übrigens keinen Hinweis auf diese Möglichkeit, den Abend zu sehen. Vielleicht kann man das nächstes Mal einrichten.

Was die Berliner Philharmonie betrifft, so steht allerdings fest: Sollte ich in meinem Leben noch einmal dorthin müssen, werde ich das sehr sorgfältig vorbereiten – und mir notfalls Schützenhilfe beim Berufsverband oder gleich einen Anwalt holen.

Journalisten haben nämlich Rechte. Sogar behinderte Journalisten haben Rechte. Auch wenn die Industrie, die Politik, die Wirtschaft, die Lobby und manch andere, die demokratische Kritik nicht zu schätzen wissen, das gern ganz anders hätten.

Etwas Gutes hatte meine Stippvisite in der Philharmonie aber dennoch, und zwar einen versöhnlichen Aspekt:

Ich habe vom Kritikerkollegen Manuel Brug einen sehr guten Eindruck bekommen. Ich habe ihn ja manchmal heftig attackiert, wenn wir nicht einer Meinung waren – aber an diesem für mich sehr denkenswerten 16.1.17 verhielt er sich nachgerade vorbildlich, so menschlich.

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Noch eine hübsche Totalansicht, die der Livestream aus der Berliner Philharmonie anschwemmte: Sieht so optischer Konzertgenuss aus? Faksimile: Gisela Sonnenburg

Ich hatte nämlich, lange bevor die Security anmarschiert kam, mit ihm den Platz getauscht, damit ich mein Bein links, nicht rechts, in den Gang strecken könnte. So nahm ich den Platz Nr. 13, er den mit der Nr. 12.

Ich muss sagen, dass es mich beeindruckte, wie unprätentiös und fair Brug war, als ich ihn um diesen Platztausch bat. Er hätte nämlich durchaus auf seinen Platz bestehen können. Er hatte ja sogar Grund dazu! Aber, wie man sieht, zeigen solche kleinen Begebenheiten, was in einem Menschen so abgeht oder auch nicht.

Zu Manuel Brug – mit dem ich fachlich wirklich nicht immer einer Meinung bin – darf ich nun feststellen: Er ist erstens nicht feige. Und, zweitens: Er ist nicht rachsüchtig, sondern, im Gegenteil, sogar von einer gewissen Großmut, zumindest aber Behindertenfreundlichkeit geleitet.

Das sind Werte, die gern als selbstverständlich voraus gesetzt werden. Aber wenn es drauf ankommt, reagieren manche vielleicht doch ganz anders, als man es erwartet.

Die Aufseher der Philharmonie jedenfalls machen auf mich diesbezüglich einen dubiosen Eindruck. Als ob sie nicht gern eigenverantwortlich denken. Ich fühle mich übrigens nicht sehr sicher mit Leuten als Security, die sich lediglich stur an Vorschriften klammern können. Ein Mindestmaß an eigener Urteilskraft in Bezug auf Behinderte, ein Minimum an sozialer Kompetenz müsste in solchen Jobs doch dazu gehören.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass so formalistisch orientierte Menschen im Ernstfall eine Bereicherung sind.

Ich denke, es war ein Fehler, mich rauszuwerfen.

Und dass die Philharmonie gern Fehler macht – na, das bemerkte man dann auch beim Livestream.

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Winzig, das Ballettpaar auf dem Bildschirm beim Livestream aus der Berliner Philharmonie – und dabei ist es doch große Kunst, die das Bundesjugendballett, begleitet vom Bundesjurgendorchester, bietet. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Zunächst mal war das Bild der Tanzenden zumeist viel zu klein. Ein Orchester wirkt in der absoluten Totalen zwar noch ganz gut in seiner Gesamtheit – aber wenn man Tänzer zu winzigen Punkten auf dem Bildschirm macht, hat man irgendwie das Ziel verfehlt.

Es gab einige bessere Kameraeinstellungen, aber mit den Livestreams vom Bayerischen Staatsballett, zum Beispiel, kommt diese Philharmonie-Sache nicht mit.

Insofern ist die Rezension hier denn auch gehandicapt, und das liegt nicht an meinem kaputten Knie!

Man hatte das Programm kurzfristig umgestellt und den virtuosen Tanz zur Orchestersuite (Ouvertüre) Nr. 3 D-Dur (BWV 1068) von Johann Sebastian Bach, choreografiert von John Neumeier und getanzt vom Bundesjugendballett, zum Einstieg ins tänzerische Geschehen gemacht.

Allerdings hat das 1981 für vier Solistinnen und Solisten kreierte Stück auch einen Namen: „Bach-Suite 3“ – und diesen seinen Titel findet man im immerhin drei Euro teuren Programmheft der Berliner Philharmoniker überhaupt nicht.

So etwas ist nicht okay! Und hat mit Reformation auch nicht viel zu tun.

Erst im zweiten, kostenlos erhältlichen Programmheft des Abends – das, wie die ganze Tournee von Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur, anlässlich des Martin-Luther-Jahres 2017 finanziert ist, und zwar mit 164 000 Euro – findet man den entscheidenden Ballettnamen: „Bach Suite 3“ von John Neumeier. Zwar ohne dazu gehörenden Bindestrich, aber immerhin.

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Manche Bildausschnitte wurden beim Livestream besser gewählt. Hier Ricardo Urbina Reyes und Larissa Machado in den Kostümen des Bach-Stücks von John Neumeier. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Ja, und so ist sie, diese Suite, die ich schon kenne und bei deren Interpretation ich darum nicht auf die Livestream-Übertragung allein angewiesen bin:

Hoch elegant, schwerelos, wie in einem utopischen Land der Liebe frönend, tanzen hier die vier Paare vor sich hin. Es gibt exzellent ausgeführte Hebungen; sanfte Schwingungen; Bodenkontakt; komplizierte, dabei wundersam leicht anmutende Drehkombinationen in den Pas de deux.

Die Modernität der Choreografie passt sich den Bach’schen Barock-Harmonien gleitend an, um ihnen zugleich aber auch zu widersprechen. Ein dialektisches Meisterwerk ist dieses Ballett!

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Mit viel Fummelarbeit entsteht ein gutes Bild von der Aufführung, auf der Grundlage des Livestreams aus der Philharmonie. Hier die „Bach-Suite 3“ in einer Paarszene mit Ricardo Urbina Reyes und Larissa Machado (Faksimile: Gisela Sonnenburg)

Es ist ganz so, als wolle Neumeier mit den Tänzern den Musikern zurufen: He, schaut her, diese Vielzahl von Gefühlen sind hier gemeint!

Als würde die Moderne dem Barock ihre heißen Küsse schenken…

Der superbegabte Mexikaner Ricardo Urbina Reyes (den ich ja schon zu seinen Schülerzeiten hier im ballett-journal.de mit Lobliedern bedachte) und die charmant-erhabene Larissa Machado entwickeln hier noch vor allen anderen eine magische Paarbeziehung im Tanz!

Wie rasch er sie vom Boden hochhebt, um sie durch die Luft zu wirbeln! Und sie, wie graziös sie sich ihm entwindet, um gleich wieder zurück in seine Arme zu streben!

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Wenn man sich viel Mühe gibt und mit der Vergrößerung eines Faksimiles arbeitet, dann entstehen vom Livestream aus der Berliner Philharmonie nachträglich schöne Bilder. Aber wer hat schon die Zeit und Möglichkeit, sich soviel Arbeit zu machen? Hier Ricardo Urbina Reyes in einer typischen Kevin-Haigen-„Puck“-Pose, gehalten von Larissa Machado vom Bundesjugendballett. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Einzelne Posen sind hier ursprünglich von John Neumeier für Kevin Haigen, den heutigen Künstlerischen Leiter vom BJB, kreiert worden. Etwa ein handgestütztes Stehen auf der Wange (siehe Foto oben), in dieser Pose reüssierte Haigen ab 1977 als Puck. Auch das Kostüm der Jungs im Bach-Stück ist dem des Elfen Puck in John Neumeiers „Ein Sommernachtstraum“ entlehnt. Urbina Reyes tanzt die Bach-Partie aber mit eigener Interpretation: weniger neckisch, dafür eleganter.

Haigen wird, ein Pluspunkt für Grütters Programmheft, darin aufschlussreich zitiert:

„Physisch und emotional in den Schaffensprozess eines Choreografen involviert zu sein, auch mitschöpferisch tätig zu sein, das war mir selbst als Tänzer wichtig und das, glaube ich, ist das Besondere an unserem Tänzerberuf.“

Insofern ist es wichtig, dass das BJB sowohl bestehende Werke neu interpretiert als auch an Neuschöpfungen teilnimmt. Man bekommt denn auch einen guten Überblick über die richtungsweisenden Stilarten junger Choreografen, wenn man dem BJB auf seinen Wegen folgt.

In Sachen Bach ist es tatsächlich fast ein neues Stück, denkt man, wenn man es in anderer Besetzung sieht als letzte Saison. Damals brillierten Giorgia Giani und Pascal Schmidt in den beiden Hauptpartien. Sie tanzten stringenter, weniger modern, mehr klassisch im Akzent, als der heurige Cast.

Aber auch Teresa Silva Dias, Charlotte Larzelere und Sara Ezzell, Kristian Lever, Tilman Patzak und Joel Paulin zeigen, so jung sie noch sind, die im Ausdruck zwischen adrett und elegisch, zwischen melancholisch und hoffnungsvoll changierenden einzelnen Bach-Stücke mit Bravour.

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Ah! Da ist mal ein Faksimile ohne Vergrößerung vom Livestream schön! Noch einmal Ricardo Urbina Reyes und Larissa Machado vom BJB in der Berliner Philharmonie. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Die Gavotte (mit wunderbaren Sprüngen von Urbina Reyes), die Bourrée (lieblich von Sara Ezzell pariert), die Gigue (ein Freudenfest!) – all das atmet Heiterkeit und birgt dennoch eine fast spirituelle, entrückt-verzückte Ebene.

An Ende tragen die Herren die Damen einfach auf und davon, kopfüber scheinen die Beine der Mädchen da über den Jungs zu schweben. Ein munteres Stück, aber keines, das nicht auch zum Nachdenken anregen würde.

Handelt es sich nicht sogar um eine getanzte Ode an den Tanz?

John Neumeier steht als Choreograf im Allgemeinen nicht für l’art pour l’art. Aber hier könnte die Kunst selbst das Thema sein, und zwar indirekt.

Kunst – wozu sonst ist sie so innovativ, wenn nicht, um der Darstellung von Liebe Ausdruck zu geben, ex negativum oder wie hier: explizit?

Im Neumeier’schen Werkekanon von mehr als 150 oft abendfüllenden Stücken gehören Tanz und Liebe jedenfalls unbedingt fest zusammen.

Die „Bach-Suite 3“ ist dafür ein weiterer Beleg.

Das Bundesjugendorchester unter Alexander Shelley spielte übrigens vorzüglich, mit der nötigen Wärme, dem angemessenen Tempo (also nicht zu schnell, was eine moderne Unart mancher Bach-Interpreten ist), aber auch mit der notwendigen Exaktheit.

Bravo, tutti!

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Aber das Schlussbild der „Bach-Suite 3“ von John Neumeier ist dann wieder recht klein gehalten, was den Tanz angeht… Faksimile vom Livestream aus der Berliner Philharmonie vom 16.1.17: Gisela Sonnenburg

Die dann folgenden, zeitgenössischen Stücke sind auf andere Art musikalisch fordernd, aber auch diese Klippen bewältigen die jungen Musiker ohne Havarien, dafür mit pointierenden, weit geöffneten Klangkanälen.

Was man der Berliner Philharmonie vorzuwerfen hat, sind denn auch lauter Dinge, die zwar nicht direkt mit der Kunstausübung zu tun haben. Aber unwichtig sind sie dennoch nicht – im Gegenteil.

Der Umgang mit dem einzelnen Besucher ist es doch, der eine hochkarätige Kulturstätte von einem Fußballstadion unterscheidet.

Aber auch im Programmheft der Grütters ist nicht alles eitel Sonnenschein. Zwei fast wahre Sätze springen einem da allerdings ins Auge:

„Tolerant in unserem heutigen Verständnis war Martin Luther nicht. Im Umgang mit den Andersgläubigen zeigte sich der noch mit einem Fuß im dunklen Mittelalter stehende Martin Luther wenig aufgeklärt.“

Das ist insofern untertrieben, als die Erkenntnis, Religion sei nicht tolerant, von Luther selbst stammt.

Ihm nun aber „dunkles Mittelalter“ anhängen zu wollen, ist insofern fragwürdig, als das Mittelalter – wie wir dank der Mediävistik wissen – keineswegs „dunkel“ war.

Die furchtbaren Hexenverbrennungen, bei denen Denunziationen und Benachteiligungen in skandalöse Verbrechen ausarteten, gab es nicht im Mittelalter, sondern erst seit der Renaissance. In manchen Ländern soagr bis in die spätere Neuzeit, in den USA bis ins 19. Jahrhundert hinein.

Nein, Luther hat andere Sünden im Register.

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Es gab gleich zwei Programmhefte in der Berliner Philharmonie, zum selben Abend. Hier die hauseigene Produktion der Berliner Philharmonie, die drei Euro kostete und das Programm mit „500 Jahre Reformation“ betitelte. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Zunächst übersetzte er die Bibel aus dem Lateinischen ins Deutsche. An sich sehr lobenswert. Aber die Qualität seiner Sprache ist zweifelhaft.

Verglichen mit Goethes Übersetzung des „Hohelied Salomos“ aus dem Alten Testament wirkt Luthers verschwurbelter, ungenauer, unpoetischer Sprachduktus doch arg dilettantisch. Das musste mal gesagt werden.

Weil Luther aber eine Prominenz ist, blieb seine Übersetzung vorherrschend. Amen.

Zu Luthers weiteren Taten: Er gründete eine neue Spielart des Christentums – immerhin eine, die später Frauen die Selbstbestimmung über ihre Schwangerschaften erlaubte. Aber: Luther machte sich wenig Gedanken um die Folgen seines Handelns.

Die logische Folge von Religion und all ihren Bewegungen ist natürlich Krieg. Denn es ist zu verführerisch, die Verantwortung für irdisches Handeln an fiktive Götter abgeben zu können. Da nehmen Menschen sich dann gern mal was raus.

Und so wurde Luther, ob er es wollte oder nicht, zum Urgrund für den Dreißigjährigen Krieg.

Von 1618 bis 1648 verwüstete dieser brandschatzende Konflikt zwischen den Katholiken und der evangelischen Kirche weite Teile Europas. Die Zivilisation erhielt empfindliche Rückschlage; Verrohung, Verarmung, Grausamkeit brachen immer wieder über die Menschen herein.

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Hier das zweite Programmheft des Abends, das es überall an den Tournee-Stationen gibt, und zwar kostenlos. Es ist, by the way, das etwas bessere Heft. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Davon erzählt weder das Drei-Euro-Programmheft der Berliner Philharmoniker auch nur ein Wort, noch schafft solches das von Monika Grütters finanzierte Programmheft. Einfach gar nichts kommt dazu!

Wenn man nun einen Kulturabend über „500 Jahre Reformation“ macht, dann sollten aber auch die sattsam bekannten negativen Seiten der Medaille sprich der Dreißigjährige Krieg wenigstens ansatzweise behandelt werden.

Das gilt natürlich erst recht für die Berliner Philharmoniker, die sich mit ihren „500 Jahren“ im Titel noch so richtig was aufgeladen haben.

Vielleicht sind sowieso „500 Jahre Behindertenfeindlichkeit“ gemeint?

Tatsächlich ist der Behindertenschutz eine Errungenschaft der jüngeren Zeit. Hier fällt man in der Berliner Philharmonie ganz schön weit zurück.

Auch die Bezugsetzung der Ballette zu Martin Luther oder zur Reformation muss der Zuschauer hier ganz alleine leisten.

Keines der gleich beiden Programmhefte hilft da – und das ist zuwenig.

Dass Luther musikalisch war, steht außer Frage, er arbeitete fast professionell mit Noten. Aber Ballett?

Neumeiers „Bach-Suite 3“ zielt auf eine Übersetzung der Musik in die Weltsprache des Körpers ab.

Sie ist ein hoch interessantes Werk zur Musik eines als evangelischer Kirchenmusiker arbeitenden Komponisten. Und wäre Bach in Bayern geboren und aufgewachsen, so wäre er zweifelsohne Katholik gewesen – wie der aus den USA stammende Neumeier.

Wäre ihrer beider Kunst dann anders ausgefallen?

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Da enthält das kostenlose Programmheft des Bundes und des BJB schon eher brauchbare Fakten. Hier ein Blick auf die Vorstellung des Intendanten John Neumeier und des Künstlerischen Leiters Kevin Haigen. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Vermutlich.

Den ganzen Bach nun wegen der Glaubensrichtung Martin Luther in die Schuhe schieben zu wollen, ist dennoch ein wenig schwierig. Da fehlen Verbindungsbrücken, und die hätte ein Programmheft leisten müssen.

Das ist der Nachteil an den Politikern mit ihren zweckgebundenen Geldtöpfen. Sie wollen etwas dafür, auf das sie möglichst einfach ihr Etikett kleben können.

Gute Kunst gibt es aber nicht für „möglichst einfach“.

„Geldtopf Martin Luther“. Ja, Martin Luther schlug am 31. Oktober vor 500 Jahren seine aufrührerischen Thesen an die Kirchentür in Wittenberg an. Er erlaubte es sich auch zu heiraten, obwohl er ursprünglich katholischer Priester mit Keuschheitsgelübde war.

Und Luther forderte noch viel mehr Veränderungen.

Aber kann man heute – nach der Aufklärung, nach der Romantik, nach zwei Weltkriegen und während einer Flüchtlingsbewegung, die ganz nebenbei die Ausmaße einer Völkerwanderung hat – naiv mal eben einen Abend mit Musik und Tanz zu Martin Luther ausrichten?

Da müsste man halt doch viel erklären, und das wird hier verabsäumt.

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Noch ein Blick ins ksotenlose Programmheft der Tour: Auch zu den jungen Choreografen Zhang Disha und Andrey Kaydanovskiy gibt es Infos. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Vielleicht hätte in der Reduktion, in der Konzentration auf ein Themenfeld, etwa auf eine Kernfrage des Luther’schen Werkes, eine Chance bestanden, das Ganze zu meistern.

Ein entsprechender Essay fehlt zwar. Aber:

Man könnte Neumeiers „Bach-Suite 3“ als Frage nach dem Paradies deuten. Wie ist es denn nun: Gibt es ein Paradies? Und wie sieht es aus? Luther wandte sich gegen den Ablass-Handel der Katholischen Kirche. Welche Folgen hatte das?

Damit wurde das Paradies erschwinglicher, sozusagen.

Das Paradies ist in der evangelischen Lehre auch ohne Reichtum zu haben, der Eintritt ins ewige Glück nach dem Tod erfolgt allein nach Punktestand in Sachen Unfehlbarkeit, Fähigkeit zur Reue, Glaubensstärke.

In der calvinistischen Lehre, die sich auf Luthers Grundlagen entwickelte, haben diese idealistischen Werte ihren Reiz allerdings schon verloren. Hier geht es vor allem ums Geld, demnach spiegelt der Wohlstand einer Person ihren seelischen Wert. Neureiche sind für solche Ideen sehr anfällig – und werden dann leicht größenwahnsinnig, Vorsicht!

Auch in der presbyterianischen Ideologie entscheiden der soziale Rang und der Vermögensstand über das Seelenheil.

Nicht sehr christlich und auch nicht sehr reif, wenden Katholiken und Lutheraner dagegen ein – einvernehmlich, übrigens.

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

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Aber was sind denn heute die Ablass-Handel-Spielarten, vom Emissionshandel jetzt mal abgesehen? Gibt es da nicht sogar einige sinnvolle Varianten?

Wenn man an der einen Ecke der Gesellschaft etwas flickt und sich kümmert, dann hat das sein Positives – ob man es aus einem schlechten Gewissen heraus macht oder aus einer unterstützenden Position.

Darum sind Spenden absolut sinnvoll!

Unsere Gesellschaft hat sich verändert, und sie verändert sich weiter.

Man hätte den jungen Choreografen vielleicht diese Paradies-Frage an die Hand geben sollen. Was ist das Paradies für euch? Warum ist es sinnvoll, eine Utopie zu haben, mit oder ohne religiösen Hintergrund?

Und was ist gefährlich an Religion? Was, wenn das Paradies mit gewalttätigen Mitteln erreicht werden soll?

Aber nun weiter. Es gibt ja noch mehr an diesem Livestream-Abend!

Der holländische Komponist, Regisseur und Filmemacher Michel van der Aa, eine durchaus spannende und sogar schillernde Persönlichkeit, schuf im Auftrag der Bundesregierung sein Stück „Reversal for Orchestra“.

Die Wendung aus dem Titel bezieht sich auf jene Momente im (politischen) Leben, in denen ein Richtungswechsel statt findet. Van der Aa weiß offenbar, dass man die Zeit nach 1989 in Deutschland, also nach dem Mauerfall, die „Wendezeit“ nannte.

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Fast könnte man hier von einem Moment des Gelingens beim Livestream aus der Berliner Philharmonie sprechen. Das Bundesjugendballett in Aktion zu „Reversal for Orchestra“ , das Choreograf Andrey Kaydanovskiy schlicht „Reversal“ nennt. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Ob das was mit Luther zu tun hat? Irgendwelche Richtungswechsel gibt es ja immer. Gab und gibt es sogar in Diktaturen.

Hier ist aber alles sehr konkret. Wendung ins Positive interessiert van der Aa genauso wie Wendung ins Negative. Sein Stück lebt vom Zusammenhalt musikalischer Kontraste.

Donald Trump als Paradigmenwechsel – auch solche Dinge, sagt van der Aa, haben ihm beim Komponieren vorgeschwebt.

Das ist schön, nun allerdings sehr schwer zu vertanzen. Der für dieses Stück vorgesehene Choreograf Andrey Kaydanovskiy trägt denn auch seine ganz eigene Auseinandersetzung mit dem Werk herbei. Er kommt von der Bolschoi Ballett Akademie, studierte aber auch in Stuttgart, Sankt Pölten und Wien. Beim Wiener Staatsballett war er Ballerino, und dort präsentierte er 2009 auch seine erste Choreografie.

Mittlerweile hat er einige Preise eingeheimst und weiß sich im internationalen Geschäft des Ballettemachens zu behaupten. Sein Stil ist modern, manchmal atavistisch. Seine Ästhetik erinnert mal ein bisschen an Ohad Naharin, mal an William Forsythe.

„Reversal for Orchestra“ ist halt kein Ballett, steht ja auch im Titel dran, und darum illustriert der Choreograf lieber das Thema Martin Luther als die Noten.

Einen Hinweis darauf hätte eines der Programmhefte übrigens ruhig geben können! Aber wieder ist man ganz auf sich gestellt, muss ohne Starthilfe interpretieren.

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Aber auch dem Hamburger Fotografen, dem ehemaligen Tänzer Silvano Ballone, gelangen bei viel Dunkelheit auf der Bühne nicht nur gute Bilder. Hier „Reversal“ vom Bundesjugendballett in der Hamburgischen Staatsoper.

In schwarzen Kostümen mit weißen Kragen wirken die TänzerInnen wie Schuluniformierte, vielleicht auch wie abstrahiert kostümierte Nonnen und Mönche.

Wie ästhetisch oder auch nicht das wirkt, kann ich – wegen des schlechten Livestream-Lichts – nicht beurteilen.

Einer und eine sind grau gekleidet – Ricardo Urbina Reyes nimmt als Grauer wieder eine Extrarolle ein und stellt vermutlich sogar Martin Luther dar.

Jedenfalls hält er sich immer wieder an einer dicken Kerze fest, quasi an der Erleuchtung, die ihm am Ende seines Lebens von seiner Witwe auf den Bauch gestellt wird. Verzückt schaut Teresa Silva Dias, die Hinterbliebene, dazu gen Himmel…

Zwischen dem Anfang und dem Ende hat man den Eindruck, Teresa sei Katharina von Bora, Luthers resolute Frau: In hochmodern inspirierten, zappeligen, aber dennoch ästhetischen Pas de deux (sehr schön!) ringen sie und Ricardo um mehr Raum, während der Pulk der anderen Tänzerinnen und Tänzer sie dabei zunehmend unterstützt.

Doch, das geht als Quasi-Kirchengründung so durch.

Als Luther stirbt, wird er flugs zur Grablegung getragen und betrauert – es folgt die oben beschriebene Kerzenszene.

Ist das nun das Leben und Sterben von Martin Luther in elf Minuten?

Man darf die Frage wohl bejahen.

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Erinnert manchmal an Ohad Naharin: die expressiv-moderne Körpersprache von Andrey Kaydanovskiy in „Reversal“ mit dem Bundesjugendballett. Foto: Silvano Ballone

Die Musik bleibt hier derweil unaufdringlich, auch wenn Michel von der Aa eine Menge damit aussagen will.

Es dominiert der optische Eindruck: Da sind schöne Details in den Gruppenszenen und in den Luther-Paartänzen.

Immerhin führt Andrey Kaydanovskiy vor, dass man ein so kurzes Biopic eines Promis als Ballett machen kann. Dankeschön!

Bleibt das letzte für diese Tournee uraufgeführte tänzerische Stück: Die Choreografie stammt von Zhang Disha aus Peking. Die junge Dame hat bereits zwei Stücke im Repertoire des BJB, und ihren sehr feinfühligen Pas de deux über den Krebstod einer liebenden und geliebten Frau („How beautiful is Heaven“) durfte sie zuvor mit großem Erfolg auf einer Hamburger „Nijinsky-Gala“ zeigen.

Jetzt ist man neugierig auf ihr jüngstes Werk – und wird ein wenig enttäuscht, jedenfalls vorm Computer beim Livestream.

„Ein feste Burg“ heißt das Stück nach der Musik, zu der es kreiert ist, und die stammt von 2010, und zwar von Enjott Schneider. Er ist ein sich tonal und atonal wild gebärdender, gern mit den Mitteln der Collage arbeitender Komponist.

Den bekannten Kirchenchoral von Luther aus dem Titel kann man trotz diverser lautstarker Irrungen und Wirrungen des Orchestergewirbels, welche Schneider ersann, gerade noch ausmachen.

Inhaltlich zeigen sich dennoch mitten im Weltentrubel der Kampf und das Ringen um den guten Glauben, auch in schwersten Zeiten.

Das hätte man erst zart, dann aber wild und ekstatisch tänzerisch bebildern können. Rausch, Rauschlust, Gewaltrausch, Glaubensrausch – für all das wäre hier musikalisch Grund und Anlass.

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Zhang Disha zitiert sich selbst: Das Bundesjugendballett mit dem Kissen aus „How beautiful is Heaven“ in „Ein feste Burg“ zur Musik von Enjott Schneider. Hier erwies sich das Faksimile in der Vergrößerung als gutes Bild. Faksimile vom Livestream aus der Berliner Philharmonie (Ausschnitt): Gisela Sonnenburg

Zhang Disha stellt aber zunächst – zum zarten Violinen-Solo der ersten Takte – wieder ein Paar mit Kopfkissen auf die Bühne. Sie knüpft so an ihr bekanntes Stück „How beautiful is Heaven“ an, will sich damit offenbar in Erinnerung bringen und künstlerisch den Faden von damals weiter spinnen.

Dennoch ist so ein Selbstzitat gewagt, wenn ein neues Stück beginnt.

Der dazugehörige Pas de deux, den wir sehen, bereitet den Abschied vor: Hier kämpft die Frau um ihr Leben, nicht um ihren Glauben.

Dann wird es seltsam. Ein fast nackter Mann und ein Mädchen im braunen Blümchenkleid, das Tänzerpaar vom Anfang, es steht ja eh für eine nicht alltägliche Fantasie.

Doch dann wird der akustische Eindruck stärker und stärker.

Chinesische, englische, deutsche Sprachfetzen berichten in Schneiders Musik von Krieg und Attentaten. Es sind Nachrichtensprecher, die in die Musik eingespielt werden. Dynamisch, erregend, alarmierend ist das.

Die Choreografie greift das Tempo der Musik auf.

Chinesische Trommeln unterstützen den globalen Aspekt der Geräuschkulisse. Und kommen Zhang Disha damit sehr entgegen.

Zwei Soldaten durchschneiden die Bühne mit schnellen Läufen. Einmal sitzt der Eine im Huckepack auf dem anderen.

Eine weitere Person, sich langsam bewegend, verkörpert den Tod, sie trägt eine schwarze Kutte.

Ein deutsch eingesprochenes Wortband thematisiert Glaubensverlust.

Und dann wird es noch merkwürdiger.

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Eine Bombe! Die TänzerInnen vom Bundesjugendballett grausen sich. So gut zu sehen im vergrößerten Faksimile (Gisela Sonnenburg) aus dem Livestream vom „Gipfeltreffen – Reformation“ in der Berliner Philharmonie.

Eine weiße Rakete, also eine Bombe, wird drohend hergezeigt, Grauen spiegelt sich in den Gesichtern der Tänzer. Ihre Knie wackeln und zittern, dann zeigt die Bombe auf ein Mädchen, das vor Angst erstarrt.

Ricardo Urbina Reyes kommt als lebende Bombe daher, mit einer Attrappe am Kostüm. Alle haben Angst vor ihm – dann kippt die Stimmung, man lacht ihn aus.

Larissa Machado hat dann plötzlich auch eine Bombenattrappe auf der Schulter – und außerdem einen dick ausgepolsterten Schwangerenbauch. Der hüpft, während sie tanzt.

Die Familie, ist sie hier die Kernzelle allen Unheils?

Ein dritter Tänzer kommt hinzu, der geborene Sohn, wenn man so will, auch er trägt Bombe am Kostüm. Hektisch tanzen die drei Hand in Hand in einer Reihe – das Schicksal hat sie zusammen geschmiedet.

Nach und nach erscheinen auch die anderen als lebende Bomben. Wahrscheinlich ist die Aggressivität der modernen Gesellschaft gemeint. Aber es wirkt ein bisschen wie Puppentheater. So plakativ. Vielleicht ist dieses Stilmittel der Attrappen aber auch eine Hommage an traditionelles chinesisches Theater. Das chinesische Puppentheater ist ebenso wie die Pekingoper wichtiges Kulturgut.

Die Hoffnung hier im Stück ist dann – eine Schere! Eine Anspielung auf die berühmten chinesischen Schattentheaterfiguren, die aus Scherenschnitten bestehen?

Das BJB im Luther'schen Fegefeuer

Am Ende kommt eine rote Sonne ins Spiel… Zhang Disha zitiert neben der chinesischen Puppenspieltradition auch die kommunistische Symbolik. Das sah man im Livestream aus der Berliner Philharmonie recht gut. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Ricardo Urbina Reyes hält das Schneidwerkzeug triumphierend empor, um dann damit die Bombenattrappen zu zerschneiden.

Alle Raketen-Attrappen werden auf einen Haufen gelegt, zerschnitten, entschärft. Man könnte aufatmen. Ist die Welt gerettet?

Und dann gießt Teresa Silva Dias auch noch mit der Gießkanne Wasser auf die Zeugnisse der Abrüstung. Man erwartet fast, dass mit irgendeinem Theatertrick nun Grünzeugs hochrankt.

Statt dessen rückt Urbina Reyes mit einer himbeerroten Sonnenscheibe an. Allen wird warm, ja heiß, die TänzerInnen spielen das gut.

Und schon formieren sich alle zum netten Schlussbild, das in echt und ohne Livestream vielleicht noch ganz anders wirkt:

Menschen unter der Sonne, glücklich und unglücklich wie eh und je, wie seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden. Ein fatalistisches, aber nicht pessimistisches Ende, das den Dreißigjährigen Krieg ebenso wie jeden anderen überlebt sehen will.

Aber hier ist es jetzt Zeit, Theodor W. Adorno sinngemäß mit einem seiner bedeutendsten Gedanken zu zitieren, der gerade, wenn es um Krieg geht, gelten sollte:

Der Mensch muss nicht alles machen, nur weil es machbar ist. Manchmal ist der Verzicht das Wichtigere.
Gisela Sonnenburg

Mehr über die „Bach-Suite 3“ und die Behindertenpolitik vom BJB bitte hier:

www.ballett-journal.de/bundesjugendballett-ein-kleiner-prinz/

Tournee-Daten vom „Gipfeltreffen – Reformation“:

www.bundesjugendballett.de

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