Prinzenehre und Eigenwilligkeit „Ein kleiner Prinz“ vom Bundesjugendballett, jetzt im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg, ergänzt von einer Bach-Suiten-Probe, als Auftakt der 42. Hamburger Ballett-Tage: „Im Aufschwung VII“

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

Julius Winkelsträter als „Ein kleiner Prinz“: Mit dem Bundesjugendballett tritt er als Gaststar auf, so im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg. Foto: Melanie Couson

Wenn es nicht anders vermerkt wird, sind eigentlich alle Tanzenden im Ballett kleine Prinzessinnen und kleine Prinzen. Allerdings ist damit noch nichts über die Qualität eines Stücks gesagt. Das Bundesjugendballett (BJB) ist da immer wieder für eine Überraschung gut. Da nimmt sich diese achtköpfige Nachwuchstruppe vom Hamburg Ballett doch das überaus abgegriffene, pädagogisch fragwürdige Trivialmärchen „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry vor – und macht etwas ganz Eigenes, auch Eigenwilliges daraus. John Neumeier, Intendant sowohl vom Hamburg Ballett als auch vom Bundesjugendballett, hatte die Hamburger Premiere im Ernst-Deutsch-Theater von „Ein kleiner Prinz“, wie sich das Stück nun nennt, sogar zum Auftakt zu den 42. Hamburger Ballett-Tagen ausgerufen. Entsprechend gespannt erschienen jetzt die Zuschauer, auch wenn manche von ihnen vor einigen Monaten schon öffentliche Proben zu dieser Arbeit gesehen hatten.

Im Zentrum der Aufführung steht dieses Mal beim BJB ein junger Gastkünstler: Julius Winkelsträter, der als von Trisomie 21 Betroffener ein offenkundiger Fremdling in der Bühnenwelt des Balletts ist. Es ist ja auch eine Ausnahme, dass ein sichtlich Behinderter zusammen mit körperlich und mental vor Fitness nur so strotzenden Profitänzerinnen und –tänzern im Scheinwerferlicht agiert. Wie sehr sich der „kleine Prinz“ auf diese Art zu einem neuen, feinen Stück entwickelt, in dem getanzte und gespielte Ausflüge in ferne Welten stattfinden (die mit Saint-Exupéry kaum was zu tun haben), ist absolut beglückend zu sehen.

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

Sehr viel Applaus für das Bundesjugendballett, die Musiker und Julius Winkelsträter: nach der Hamburger Premiere von „Ein kleiner Prinz“ im Ernst-Deutsch-Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Zu Gute kommt der Aufführung zudem das außergewöhnliche Talent des Künstlerischen BJB-Leiters Kevin Haigen, der mit seinem speziellen Einfühlungsvermögen sowie einem untrüglichen Instinkt nicht nur ausgewachsene Profis, Jugendliche und Kinder zum Erblühen bringt, sondern, wie jetzt zu sehen, auch Menschen, die aufgrund ihrer geistig-körperlichen Beschaffenheit eben anders sind.

„Die andere Avantgarde“ nannte ich mal die Theaterarbeit mit Jugendlichen mit Down-Syndrom, wie sie von Gisela Höhne und ihrem „Theater RambaZamba“ von Berlin aus bekannt wurde. Aber Ballett hat hier noch ganz andere Möglichkeiten, Traditionen und Avantgarden zu verschmelzen. Schon insofern ist diese Aufführung ein Novum: mit außerordentlich hochwertigem sozial-künstlerischem Aspekt.

„Ein kleiner Prinz“ von Kevin Haigen, dem Künstlerischen Leiter des BJB, beginnt langsam, mit ungewöhnlichen Mitteln. Im blauen Licht einer Fantasy-Night rollt ein Cellist (Michael Schmitz) mit seinem Instrument auf einem Rollhocker heran. Aike Errenst, die beim BJB für die Musik zuständig ist, und Steven Walter vom Podium Festival Esslingen haben dazu ein Konzept erstellt, das Kompositionen von Maurice Ravel, Bryce Dessner , Anton Webern, Wolfgang Erich Korngold und anderen vereint. Zu Beginn ist es Ravel, den die auf der Bühne agierenden Musiker hingebungsvoll spielen.

Modifizierte Auszüge aus dem Ravel-Ballett „In the Blue Garden“ von John Neumeier winden sich ohnehin wie ein heimliches Leitmotiv durch den „kleinen Prinzen“. Das Rhythmisch-Schwebende dieser Musik kann denn auch als typisch für dieses für Kinder und Jugendliche sehr geeignete Stück gelten.

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

Mit einfachen, aber sinnfällig-ästhetischen Mitteln wird beim Bundesjugendballett Theater gemacht, also Ballett natürlich! Wie hier in „Ein kleiner Prinz“ mit Julius Winkelsträter in der Hauptrolle und Yohan Stegli als Pilot. Foto: Gisela Sonnenburg

Mit einfachen, aber sinnfällig-ästhetischen Mitteln wird dazu das Geschehen illustriert. Da verkörpert Yohan Stegli, einst Solist beim Hamburg Ballett und heute Ballettmeister und stellvertretender Künstlerischer Leiter vom BJB, den Piloten, der nach einem Sturm eine Bruchlandung erlebt. Er landet er auf einer Schräge, auf allen Vieren, verharrt reglos, den Kopf am Boden. Der Ort ist nicht die Wüste, wie bei Saint-Exupéry, sondern eine Ödnis, die nicht weiter bezeichnet ist. Vielleicht ist es sogar eine Großstadt? Nirgends seien die Menschen einsamer, glauben manche.

Von rechts spaziert der kleine Prinz heran. Oh! Julius Winkelsträter hat genau diese Mischung aus Scheuheit und Bühnenpräsenz, die so viel Spaß macht zu betrachten. Von aufgedrehter Egomanie keine Spur – viele Laiendarsteller, ob gehandicapt oder nicht, verfallen ja rasch in so ein aufgesetztes Big-Ego-Ding. Winkelsträter nicht, er bewegt sich mit sanfter Selbstverständlichkeit und sehr authentisch zwischen den Tänzern und Musikern. Bei seinem ersten Auftritt im Stück ist es so, als flaniere er auf für ihn neuem Terrain. Das trifft natürlich auch symbolisch seine Situation.

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

Kann viel, obwohl er behindert ist: Julius Winkelsträter beim Schlussapplaus nach „Ein kleiner Prinz“ mit dem Bundesjugendballett im Hamburger Ernst-Deutsch-Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Und er findet: den unglücklichen Piloten. Er richtet ihn auf und verarztet des Fliegers verletzte linke Hand, mit einer Bandage. Die Kraft dieses Bildes ist enorm: Die zwei schließen pantomimisch Freundschaft, obwohl sie bis eben noch Fremde waren, urkomisch ist das hier anzusehen. wie in einem Film von Charlie Chaplin – und doch sehr ernst zu nehmen.

Tätige Hilfe – sie wird in unserer Gesellschaft doch immer wichtiger. So hüpfen und drehen sich die zwei ungleichen Jungs hier umeinander, eine liebevoll-folkloristische Anmutung hat diese Szene.

Dann erzählen sie sich von ihren verschiedenen Welten – und unternehmen uns mit auf Ausflüge in Paralleluniversen.

Immer wieder taucht darin ein blinder junger Mann (Pascal Schmidt vom BJB) auf, es ist der Held aus „In the Blue Garden“. Auch er muss mit einer Behinderung leben, und mit höchster Grazie bugsiert er sich über die Bühne, treppauf und treppab. Schmidt tanzt diese Figur mit einer Blindenbrille, und er hält das fehlende Augenlicht konsequent in seiner Darstellung durch, trotz seines großen energetisch-tänzerischen Flows. Sehr berührend.

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

„Ein kleiner Prinz“ überrascht mit einer Geschichte, die ganz anders ist als die im Buch von Antoine de Saint-Exupéry – und viel besser als der Trivialbestseller. Foto: Melanie Couson

Und da ist noch eine Figur, die aus einer Märchenwelt oder auch aus dem Paradies stammen könnte. Es ist die Rose, die hier aber nicht in die Obhut des Prinzen auf seinem Planeten gehört und von ihm im Stich gelassen wurde, wie bei Saint-Exupéry, sondern die im Ballett vielmehr zur Welt des Piloten gehört – und tänzerisch als Personifikation wie auch in Blumenform von den anderen Tänzern an den Prinzen übergeben wird. Es geht dabei um die Weiterreichung einer Idee, nicht um die Überantwortung für Pflege!

Giorgia Giani tanzt diese Rose mit rotem Cape überm weißen Kleid, eine Schleife im Haar – und wenn der Cellist so richtig heiß läuft, kommt es zu einem poetischen Pas de deux von dieser lieblichen Rose mit dem blinden Mann. Solche Begegnungen wünscht man sich auch im Alltag, über alle Grenzen der Lebenslinien und sozialen Schranken hinweg.

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

Viel Freude beim Schlussapplaus, auf der Bühne wie im Publikum: Yohan Stegli, Kevin Haigen und Julius Winkelsträter im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg am 28.6.2016. Foto: Gisela Sonnenburg

Ein weiterer tänzerischer Höhepunkt ist allerdings eine Ensembleszene: Sie heißt „Die Bäume“ und ist von Yuka Oishi choreografiert.

In elastischen Ganzkörperverhüllungen, die ein bisschen an die Tanzsäcke von Martha Graham erinnern, biegen und dehnen sich diese Bäume, erst wenig, dann mehr, sie wachsen sozusagen mit vegetativer Liebe vor unseren Augen, und dieser tanzende Wald, zur Musik von Leos Janacek, macht soviel Sinn in sich selbst, dass das eingesprochene Zitat gar nicht pathetisch klingt: „Der Friede ist ein Baum, der eines langen Wachstums bedarf.“ Die Verantwortung der Menschheit, Frieden und den Umweltschutz betreffend, könnte man nicht eindringlicher in einer einzelnen Szene formulieren, als Oishi es hier tat.

Auch Themen wie „Die Eitelkeit“ und „Die Macht“ werden in originellen, vom Neumeier’schen Stil geprägten Einzelnummern abgehandelt. Diese bilden eine offene Collage und kein geschlossenes Drama. Ein großer Unterschied zum Buch!

Man tanzt miteinander oder auch in Soli, der Prinz schaut dabei voll Anteilnahme zu oder macht mit. Manchmal improvisiert er, und dann müssen die anderen, vor allem Yohan Stegli als eine Art „Schutzengel“ schnell reagieren. Was sie fantastisch können.

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

Gemeinsam kommt man weiter: Das Bundesjugendballett, Julius Winkelsträter und die Musiker nach „Ein kleiner Prinz“ im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg. Foto: Gisela Sonnenburg

Einmal tanzt der Prinz mit drei modernen Ballerinen, und es sieht aus, als sei er so eine Art avantgardistischer Apollo, der sich von seinen Musen inspirieren lässt. Was für eine Prinzenehre!

Ein lebendiges Spiel ist das, und man kann es mit herkömmlichen Handlungsballetten nicht vergleichen. Der Moment, die Gegenwärtigkeit, ist hier das Entscheidende – diese Stärke des Balletts kommt voll zum Tragen.

Da vergisst man das Buch von Saint-Exupéry ganz schnell, um sich solchermaßen der Essenz der Bühnenkünste Tanz und Musik hinzugeben.

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

Was für ein Ensemble! Harmonisch und lebendig, und absolut außergewöhnlich. Das Bundesjugendballett und seine Mitstreiter beim Schlussapplaus nach „Ein kleiner Prinz“ am 28.6.16 im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg. Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist aber auch enorm, mit welchem körperlichen Einsatz und mit welcher Konzentration Yohan Stegli, Giorgia Giani, Pascal Schmidt, Minju Kang, Kristian Lever, Larissa Machado, Tilman Patzak, Joel Paulin, Teresa Silva Dias vom BJB und Julius Winkelsträter als ihr Gast hier agieren!

Julius – von den Ballettleuten meist auf Englisch zärtlich „Julian“ genannt – wurde übrigens vor zwei Jahren, also 2014, von Kevin Haigen bei einem Workshop mit behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen in der Nähe von Mönchengladbach entdeckt.

Haigen, der versierte Ballettmann, der schon als Teenager in den 70er Jahren in New York erfolgreich ein autistisches Kind im Tanzen unterrichtet hatte, war vom „Gespür für Harmonie“ des damals 16-jährigen Jungen auf Anhieb hingerissen.

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

Julius Winkelsträter als „Ein kleiner Prinz“ in einem sehr schön gemachten Werbetrailer des Lucerne Festival, der sich auch auf youtube findet. Videostill: Gisela Sonnenburg

Im März diesen Jahres premierte dann auf dem Lucerne Festival im schönen Luzern in der Schweiz, das Stück „Ein kleiner Prinz“: von Beginn an spielte Julius Winkelsträter die auf ihn zugeschnittene Titelrolle.

Die kindliche Welt, das kindliche Erleben, um das es hier geht, hat seine eigenen Untertöne, was die Geschichte nicht nur spannend, sondern auch vielschichtig macht.

In den zügig aufeinander folgenden Szenen wird nämlich aus einem vermeintlichen Kunstmärchen über einen kleinen Außerirdischen, der bei Saint-Exupéry von einem geheimnisvollen Affenbrotbaum-Planeten stammt, etwas ganz Neues, etwas, das uns alle viel mehr angeht: die sinnbildliche Geschichte eines behinderten Kindes in der ganz normalen Alltagswelt.

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Umarmungen sind manchmal lebensnotwendig: „Ein kleiner Prinz“ vom Bundesjugendballett im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg, hier jedoch im Werbetrailer des Lucerne Festivals auf youtube zu sehen. Videostill von Pascal Schmidt und Julius Winkelsträter: Gisela Sonnenburg

Aus dem Trivialmärchen mit Sci-Fi-Effekt wird so durch die gelungene Besetzung ein neues Stück: das Drama des behinderten Kindes, das sich neue Freunde erträumt, sich allem vorbehaltlos nähert und doch immer wieder auf sich zurückgeworfen wird.

Kindheit wird so ganz anders fasslich, ganz anders erlebbar gemachr, als wir sie sonst in Kulturproduktionen sehen.

Mit dem verdeckt pädophilen Schnittmuster von Antoine de Saint-Exupérys „Kleinem Prinzen“ hat das dezidiert nichts zu tun.

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Man wünscht ihnen ganz viel Glück auf allen ihren Wegen und hofft auf ein Wiedersehen. Die Macher und Mitwirkenden von „Ein kleiner Prinz“ vom Bundesjugendballett, hier beim Applaus im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg. Foto: Gisela Sonnenburg

Nun sind beim BJB ja aber auch wirklich Profis am Werk, während Saint-Exupéry – das muss mal deutlich gesagt werden – spürbar nicht nur Autodidakt, sondern auch kein Berufsschriftsteller war. Die Tragweite von kreativen Ideen war ihm ganz sicher nicht klar, im Gegensatz zu den Hamburger Ballettleuten.

So gesehen, erhalten auch die zu jeder Szene eingesprochenen Zitate von Saint-Exupéry à la „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ (auch die Nazis argumentierten mit „Herz“ beim grausamen Ausschluss der Vernunft) noch einen ganz anders Sinn.

Behinderte sind nämlich auf Ausnahmeregelungen angewiesen, und wo man Normalos unterstellen kann, sie wollten eine Extrawurst, da muss man dem Behinderten Hilfe, Nachsicht und Rücksicht gewähren.

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

Sie halten zusammen: Die Figuren aus „Ein kleiner Prinz“ beim Bundesjugendballett. Videostill aus dem hervorragend gemachten Werbetrailer des Lucerne Festivals 2016: Gisela Sonnenburg

Dass man dann von ihnen lernen kann, wissen mittlerweile nicht nur Eingeweihte aus der Behindertenszene. Wer anders lebt oder wer anders eben muss, entwickelt andere Problemlösungen, andere Energien, andere Wahrnehmungen. All dies vermittelt auch „Ein kleiner Prinz“ – und es wäre wünschenswert, dass diese Art, mit Behinderten zu arbeiten, Schule machen würde.

Tatsächlich wird der Behindertenschutz ob innerhalb oder außerhalb der Kunst weltweit viel zu wenig thematisiert. Es ist grauenvoll, was man auf diesem Gebiet alles erleben kann. Gehen Sie mal einen Tag lang mit einer Krücke durch die Stadt – Sie werden staunen!

Es ist also absolut verdienstvoll, zur Behindertenthematik ein Ballett zu machen. Und bei Julius Winkelsträter hat man ohnehin den Eindruck, dass er vor Lust an der Arbeit nur so strotzt und sich auf der Bühne ganz offensichtlich sehr wohl fühlt. Diese Lust ist aber sicher nicht nur angeboren. Man hat eben auch sehr gut mit ihm gearbeitet.

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Ihre Freundschaft ist stärker als der Tod, damit erinnert das Ballett „Ein kleiner Prinz“ von Kevin Haigen an traditionelle Ballettgeschichten wie „La Bayadère“ von Marius Petipa. Videostill aus dem Werbetrailer des Lucerne Festivals: Gisela Sonnenburg

Die innere Handlung, die hier zudem wichtiger ist als die äußere, wird dabei aus der Perspektive des kleinen Jungen erzählt.

Er begegnet einem wilden König (Kristian Lever), und der leiht dem Kind zwar seine Königsrobe, er tanzt aber selbst einen wütend-berauschten Eingeborenentanz, als wolle er sich damit in John Neumeiers „Othello“-Ballett hineinmogeln. Hu! Ha! Chachacha! Respekt vor anderen Kulturen! Toll.

Fünf Musiker an Schlaghölzern verleihen der Szene die Akustik einer Südseeinsel. Unser kleiner Prinz ist also für uns weit gereist, so weit, wie die Flügel der Fantasie ihn eben tragen.

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

Sie bauen sogar Türme aus sich selbst: Die Darsteller von „Ein kleiner Prinz“ mit dem Bundesjugendballett, hier im Werbetrailer vom Lucerne Festival 2016. Videostill: Gisela Sonnenburg

Die Vermischung der Perspektiven und der Parallelwelten macht hier einen großartigen Reiz aus, den das Buch von Saint-Exupéry in seiner simplen Schlichtheit nicht haben kann.

Und doch wird sich immer wieder auf das Unspektakuläre besonnen. „Wie wenig Lärm machen die wirklichen Wunder! Wie einfach sind die wesentlichen Ereignisse“, heißt es zur von einer wunderbar lyrischen Querflöte (Camille Guénot) begleiteten Szene „Demut“.

Doch dann kippt die kreativ-aufmunternde Stimmung ins Morbide. Von nun an wird zum Einen aus dem Off englisch gesprochen, und nach einer vorgelesenen Absage an den Zwang zur Perfektion entführt die Todesszene aus dem „Blue Garden“ zum Anderen in eine äußerst schräge, im Kontext sehr surreal wirkende Alptraumwelt.

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Sie leben miteinander, aber sie sterben voneinander getrennt: Prinz und Pilot in „Ein kleiner Prinz“ vom Bundesjugendballett. Videostill aus dem Trailer des Lucerne Festival 2016, das die Uraufführung im März 2016 zeigt: Gisela Sonnenburg

Der Pilot stirbt darin, die Rose tanzt für ihn, er rappelt sich noch einmal auf, schließlich sitzt sie trauernd mit seinem Hut auf dem Kopf auf einem Stuhl auf dem Tisch, während er am Boden liegen bleibt. Sie weiß, sie wird vertrocknen. Nicht nur als Frau, sondern als Lebewesen, denn niemand wird sie noch gießen. Es ist äußerst tragisch, was dieser Rose widerfährt, und doch ist es keineswegs eine Ausnahme. Wenn man sich mit der entsprechenden Forschung beschäftigt, stößt man übrigens auf ungeahnte Ähnlichkeiten von Pflanzen und Menschen.

Eines ist beiden gewiss: Der Tod ist ein Menetekel, ein Mysterium, aber niemand wird ihm letztlich entgehen.

Dass der Pilot stirbt, macht im Ballett viel Sinn, auch wenn es traurig ist. Er leidet nämlich offensichtlich, ohne sich helfen zu können, an einer Liebe zu einer Rose, die aber nur Rose und nicht wirklich Frau ist. Man könnte schlussfolgern, dass der Pilot an gebrochenem Herzen stirbt.

Im Buch von Saint-Exupéry überlebt der Pilot, der die Geschichte ja auch aus seiner Sicht erzählt. Das Ballett hingegen erzählt aus der Sicht des Prinzen.

Dass dann auch im Ballett noch der kleine Prinz sterben muss, kann einen entsetzen – allerdings hilft die verklärende Darstellung dessen, das zu begreifen.

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

Sie bringen die deutlich bessere Geschichte auf die Bühne, als Antoine de Saint-Exupéry sie ins Buch brachte: Pascal Schmidt, Tänzer, Yohan Stegli, Ballettmeister und Tänzer, und Kevin Haigen, Künstlerischer Leiter, vom Bundesjugendballett. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Vor allem gibt es einen großen Unterschied zum Buch: Während der Prinz bei Saint-Exupéry Selbstmord begeht, indem er sich von einer Schlange beißen lässt, weil für ihn kein passender Platz ist auf der Welt, ist es im Ballett die nur von einer Stimme verkörperte Schlange, die den Prinzen zum Sterben verführt.

Es wird ja trotz oder gerade wegen der Vermarktung des Buches allgemein verschwiegen, dass sein Inhalt nicht ganz in Ordnung ist. Aber warum soll sich ein Kind umbringen? Als Motiv wird im Buch von Antoine de Saint-Exupéry (das im übrigen ein Kunstmärchen und kein Roman ist) das Schuldgefühl des kleinen Prinzen seiner Rose gegenüber als Grund genannt. Der Prinz ließ, um zur Erde zu reisen, seine Rose, die er zu gießen und von Unkraut zu befreien hatte, im Stich. Eine neue Aufgabe fand er nicht, auf der Erde konnte er zwar dem Piloten helfen, aber der kommt dann auch alleine weiter.

Nun wuchern auf dem Heimatplaneten des Prinzen im Buch die Affenbrotbäume angeblich derart, dass sie, wenn man nicht täglich ihre neuen Keime kappt, bald den ganzen Planeten durchwurzeln. Somit wird die Rose, falls sie nicht vertrocknet, spätestens von den Affenbrotbäumen zerstört.

Der kleine Prinz möchte zwar zurückreisen, weiß aber nicht wie. Darum vertraut er sich der Schlange an, die ihn zuverlässig mit einem Giftbiss töten soll. Er verabredet sich mit ihr – seine Leiche findet der Pilot allerdings nicht. Nun ist es aber widersinnig, anzunehmen, der tote kleine Prinz sei wohlbehalten in seiner Heimat gelandet.

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

Viel Freude auch über die gemeinsame Leistung von Musikern und Tänzern gab es beim Schlussapplaus nach dem „Kleinen Prinzen“ im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg. Foto: Gisela Sonnenburg

Saint-Exupéry macht aus dem Tod ein Tabu, genau so, wie er das eigentliche Tabu, um das es in diesem Buch zu gehen scheint, verschweigt. Der sexuelle Missbrauch ist nämlich keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, auch wenn die wörtliche Bezeichnung dafür früher fehlte. Aber wenn Kindern Schuldgefühle eingejagt werden, so berühren diese zumeist die stärksten grundlegenden Bedrohungen, denen Kinder seit Bestehen der Menschheit ausgesetzt sind. Und es entspricht der patriarchalen Regel, dass die Schuldzuweisung für Inzest und sexuellen Missbrauch stets von den Erwachsenen an das Kind geht. Die Suizidquoten unter missbrauchten Kindern oder Erwachsenen, die als Kind von Sexmissbrauch betroffen oder bedroht wurden, sind denn auch entsprechend hoch.

Im Ballett allerdings verführt die Schlange den Prinzen, als wolle sie ihn wie eine Sekte oder eine Drogengemeinschaft scheinbar auffangen.

Wie ein englischsprachiger Mephistopheles lockt sie den Prinzen mit denselben Gedanken, die der kleine Prinz schon selbst propagierte, jetzt allerdings ist deren Credo verfälscht. Fair is foul and foul is fair – Shakespearean mutet diese Verkehrung an, die ohne Änderung des Wortlauts auskommt. Der Prinz wird geäfft, die Todesgöttin Schlange spricht mit seinem Impetus.

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Hier wird geliebt, aber später im Stück wird auch gestorben. Das Bundesjugendballett inklusive Julius Winkelsträter in „Ein kleiner Prinz“. Videostill aus dem Trailer des Lucerne Festival: Gisela Sonnenburg

Vom Lebens- und Hoffnungsmotto geht es jetzt ins Zynische. Das Wesentliche sei für die Augen unsichtbar! Man würde nur mit dem Herzen gut sehen! Motto: Nur das Jenseits kennt Barmherzigkeit. Das ist brutal und eine implizite Kritik an Saint-Exupéry und allen Todespriestern, die das vorzeitige Sterben von Menschen bejahen.

Der Prinz aber ergibt sich dem. Er unterliegt, hat er doch ohne den Piloten keinen Schutz mehr. Er stirbt ganz unspektakulär, ohne Tränen, ohne Zaudern.

Unterm Sternenhimmel liegt er dann auf derselben Schräge, auf der er einst den Piloten, seinen Freund, fand – ein Anti-Dornröschen, das die Welt aus Schlaf und Tod und Traum nie wieder verlassen wird.

Er ist ein Verführter, der ein Opfer wurde.

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Und noch eine Impression vom Schlussapplaus aus dem Ernst-Deutsch-Theater: Das Bundesjugendballett mit Mitstreitern nach „Ein kleiner Prinz“. Foto: Gisela Sonnenburg

Trostreich ist, das der Geist des Piloten ihn erhebt. Dann eilen zum Schluss auch die Musiker herbei, gruppieren sich wie Engel auf einem Barockaltar um den Prinzen im Totenhemd.

Die Tänzer kommen in ebensolchen Hemden herbei, wie eine hehre Engelsschar.

Gemeinsam heben sie alle die Arme, von unten nach oben, ganz langsam – eine typische Neumeier-Bewegung, und das Ensemble feiert damit, wenn man so will, das ewige Leben, jenes, an das man glauben mag oder nicht, das hier aber den Geschmack von Glück trotz Sterblichkeit verheißt.

Das macht betroffen und nachdenklich und ist alles andere als der Kitsch von Saint-Exupéry, der das Sichselbstabschaffen eines Kindes wie eine Erlösung darstellt und zum Danach überhaupt nichts sagt.

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Yohan Stegli, Kevin Haigen, Julius Winkelsträter und Mitstreiter beim Applaus nach „Ein kleiner Prinz“. Foto: Gisela Sonnenburg

Im Ballett von Kevin Haigen wird klar: Es handelt sich bei der positiven Traumhimmelswelt um eine Utopie, um das, was im Barock vom deus ex machina erledigt wurde.

Wie heißt es so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt (und das stammt nicht von Saint-Exupéry). Dass Hoffnung aber notwendig ist, zeigt, dass die Realität, der Ist-Zustand, nicht ausreicht. Es ist sehr selten, dass einem zu Ballett, zumal wenn es für Kinder und Jugendliche geeignet ist, solche Gedanken kommen können. Bravo.

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Kann glücklich machen: Kevin Haigen, hier beim Schlussapplaus nach seinem Stück „Ein kleiner Prinz“ mit dem Bundesjugendballett im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg. Foto: Gisela Sonnenburg

Und Dank an den Ausnahmegenius Kevin Haigen! Und natürlich an John Neumeier, ohne den all dies überhaupt nicht möglich wäre. Man sollte die Arbeit der beiden nicht unterschätzen oder nur als eine von vielen Möglichkeiten, Kunst zu machen, sehen. Sie leisten etwas, das über die üblichen Zielmarken von Kunst und Kultur weit hinausgeht.

Dank geht derweil auch an alle Mitwirkende, die Musiker und Techniker inklusive, die ihr Bestes nicht nur geben wollten, sondern auch geben konnten.

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Junge Herren vor: Kevin Haigen lässt Julius Winkelsträter beim Applaus den Vortritt. So gesehen im Ernst-Deutsch-Theater nach der dortigen Premiere von „Ein kleiner Prinz“. Foto: Gisela Sonnenburg

Allerdings beginnt dieser Abend, „Im Aufschwung VII“ betitelt, mit einer noch ganz anderen Hinleitung zum Thema Ballett. Im Nachhinein kann man Verwandtschaften, Parallelen, Ähnlichkeiten erkennen, aber zunächst stehen sich die beiden Teile des Abends unversöhnlich wie Monolithe gegenüber. Was übrigens auch spannend ist.

Beim öffentlichen Training, dem Vorspiel zur eigentlichen Show des Abends, sensibilisiert Kevin Haigen sowohl die Tänzer als auch das Publikum für das Anliegen von Ballett.

Sehr originell spielt Aike Errenst am Klavier dazu Melodien der Beatles, die in den Chanson- und Ragtime-Stil übertragen wurden – kaum zu fassen, wie gut die Popklassiker von John Lennon und Paul McCartney diesen Kulturhärtetest bestehen.

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Wirklich ein fantastisches Team: Das Bundesjugendballett und seine Mitstreiter nach „Ein kleiner Prinz“ im Hamburger Ernst-Deutsch-Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Langsam, im Adagio, sind die meisten der Aufwärmübungen dazu, damit die Tänzer ihre Puste für die Aufführung bewahren. Ach, und es sieht ja so elegant aus!

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Man darf sich freuen: Kevin Haigen und seine Protagonisten nach „Ein kleiner Prinz“ im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg, am 28.6.16. Foto: Gisela Sonnenburg

Und wenn Haigen Korrekturen gibt oder mit seiner Stimme oder auch nur einem Kopfnicken oder einer Haltungsänderung die Tanzenden anfeuert, muss man doch mal die Idee ins Auge fassen, sich verstärkt für Ballettunterricht in ganz normalen Schulen einzusetzen.

Kann irgendeine Kunst- oder Sportart mehr? Hier geht es nicht nur um Beweglichkeit und Kondition, sondern auch das Gefühlsleben wird geprägt, und zwar positiv, die Koordination, das Gedächtnis, das Wissen um Lebenskraft werden trainiert. All dies fast ohne Worte, sodass man einen optimalen Ausgleich zum verkopften Normalunterricht hat.

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Hand in Hand: Gelebte und getanzte Inklusion beim Bundesjugendballett mit Kevin Haigen und Julius Winkelsträter. Foto aus dem Ernst-Deutsch-Theater vom Applaus nach „Ein kleiner Prinz“: Gisela Sonnenburg

Allerdings kann nun nicht jeder, was Haigen kann. Wenn er zum Beispiel seine Tänzer auffordert, die Füße während des Tanzens in die fünfte Fußposition zu bringen – zumeist sagt man im Ballett dazu: in der Fünften zu schließen – so sagt er: „Come home in the fifth position!“ („Kommt in die fünfte Position nach hause!“)

Damit sind ein ganz reelles, freundliches Gefühl sowie eine positive Konditionierung inbegriffen: Man hat, auch wenn dieses im übrigen häufige „Heimkommen“ im Ballett jeweils nur etwa eine halbe Sekunde Bewegung ist, schon durch die Bezeichnung jenes stärkende Gefühl, das man hat, wenn man gern nach hause kommt – oder das einen angenehm überrascht, wenn man soeben durch die Tür daheim eintrat.

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Kevin Haigen, doch auch mal zufrieden (was strenge Ballettmeister sonst selten sind), beim Applaus nach „Ein kleiner Prinz“ im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg. Foto: Gisela Sonnenburg

Das sind einfach Besonderheiten, die nicht jeder Ballettlehrer und schon gar nicht irgendeine anderer Bewegungsart zu bieten hat.

Doch zurück zu den Profis. Was als nächstes im Tänzeralltag folgt, nach dem täglichen morgendlichen Training, ist die Probe. Eineinhalb Stunden, genau so lange wie die erste Trainingseinheit des Tages, dauern die täglichen „Auffrischungsproben“ beim BJB, bei denen nicht neu einstudiert wird, sondern bei denen das Gelernte verfeinert und geschliffen wird.

Da wird auf der Bühne des Ernst-Deutsch-Theaters doch tatsächlich eine echte solche Probe präsentiert, was normalerweise viel Mut von Künstlern verlangt: Die vier Ballerinen und vier Ballerini vom BJB üben das hochkarätige Stück „Bach-Suite 3“ von John Neumeier allerdings mit einer Offenheit und Selbstverständlichkeit, als sei vor ihrem Publikum nichts zu verheimlichen.

Aike Errenst erweist sich dazu als wirklich talentierte Ballett-Moderatorin, die mit Charme und einem Lächeln in der Stimme kenntnisreich erzählt und das Geschehen kommentiert.

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Jubel auch für MusikerInnen! Erfolg für eine eigenwillige, eigenwillig schöne Inszenierung, „Ein kleiner Prinz“ von Kevin Haigen mit dem Bundesjugendballett und Julius Winkelsträter. Applaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Das abstrakte Kurzballett „Bach-Suite 3“ entstand 1981 für vier Solistinnen und Solisten, und Kevin Haigen war der maßgebliche von ihnen. Das Stück wurde, so Errenst, sogar für ihn kreiert. Tatsächlich enthält es Sprünge und Schritte, akrobatische Elemente und Armbewegungen, die für Haigen als Ballerino typisch sind. So den fantastisch schwerelos aussehenden Handstand aus Rückenlage heraus – und Pascal Schmidt vom BJB tanzt diese Partie mit Verve und doch ganz anders als Haigen, logischerweise.

Das BJB wird diese subtil-fröhliche, tänzerische Auseinandersetzung mit Bachs kompliziert-stringenter Musik übrigens bei der Nijinsky-Gala XXLII in der Hamburgischen Staatsoper aufführen. Es sind also keine Show-Proben, die hier zu sehen sind, sondern ganz ernste Arbeiten mit dem Aufführungsziel.

Typische Neumeier-Stilmerkmale, wie die nach oben gestreckten Arme beim Cambré (der Beugung nach hinten), statt rund gehaltener Arme, werden von Errenst erklärt. Auch die Art und Weise, wie in der Probe vorgemacht und korrigiert wird, kann sie erläutern. So etwas ist für alle, die wissen wollen, wie Ballett als Kunst gemacht wird, sehr spannend.

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

Und noch ein Applaus für das Bundesjugendballett und Julius Winkelsträter nach „Ein kleiner Prinz“ im Ernst-Deutsch-Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Nicht nur Kevin Haigen, sondern auch Yohan Stegli coacht die Tänzer. Es geht um schwierige Hebungen in rasantem Tempo, mit komplizierten, dabei leicht aussehenden Schritten am Boden. Was für ein flott getimtes Miteinander! Wie ein Torrero leitet Stegli „seine“ Paare an, es ihm gleichzutun. Hier stehen, dort gehen – und zack! Und alles bitte mit großer innerer Spannung im Körper, da darf nichts nach „Durchhängen“ oder „schlaff“ aussehen. Hui! Wenn nach dem Erklären etwas sichtlich besser klappt als vorher, ist das für alle wunderschön, auch fürs Publikum.

Kevin Haigen ist ohnehin als Spezialist fürs Paarcoachen weltweit bei Tänzern beliebt. Wenn er etwas andeutet oder vortanzt, begreifen es die Tänzer oftmals so schnell und vollständig, als seien sie hypnotisiert und ihr berühmter „teacher“ Haigen in einer Art Trance. Er ist ein Schamane, zweifelsohne. Faszinierend.

Die Tonart D-Dur von Bachs Suite deutet es ebenfalls an: Hier geht es nicht um Melancholie, sondern um Freude – und um das, was man daraus machen kann.

Hier geht es zudem aber auch um das, was den Tanz überhaupt ausmacht: Das Zusammenspiel von Musik und Bewegung entfaltet sich in allegorisch komponierten Szenen.

Mich erinnert dieses Suite zudem ein wenig an Neumeiers bisher einzige Choreografie zu Musik von Joseph Haydn. Das „Alleluja“ wurde für das BJB kreiert, es ist allerdings weicher und, na, ich sage mal: barocker, als die „Bach-Suite 3“. Sofern man bei heutigem Balletttanz von barock sprechen kann. Nicht zu vergessen ist indes, dass Ballett zur Zeit des Barock entstand bzw. damals eine entscheidend prägende Phase hatte.

Und dann gibt es im Ernst-Deutsch-Theater, Vorhang zu, Vorhang auf, doch auch noch einen Durchlauf des ganzen Stücks! Das heißt: Es wird vollständig getanzt, nicht nur auszugsweise.

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

Das Bundesjugendballett tanzt hier mit Giorgia Giani und Pascal Schmidt die „Bach-Suite 3“ von John Neumeier, ein rasant schnelles, sehr fröhliches Stück. Foto: Silvano Ballone

Es ist fantastisch, dass das BJB seinem Publikum so stark vertraut: Alle wissen, dass eine Probe zu sehen ist und bis zur „richtigen“ Aufführung noch etwas geübt werden muss. Da ist es kein Grund, sich zu schämen wenn mal eine Pirouette nicht ganz gerade ist oder ein Sprung nicht ganz „sitzt“. Im übrigen muss man sich schon gut auskennen, um solche Feinheiten zu erkennen.

Zu genießen ist aber gerade der Work-in-progress—Zustand: Wenn man dann sieht, wie die Dinge ins Rollen kommen.

In lachs-orange-farbenen Kostümen laufen die Tänzer auf die Bühne. Paarweise, denn der Kontrast vom Paartanz zu Soli ist sozusagen auch formal gesehen das Thema hier.

Gleich zu Beginn kommt ein Zitat aus John Crankos „Onegin“, bei dessen Kreation in den 60er Jahren in Stuttgart John Neumeier, damals dort Tänzer, im Ballettsaal anwesend war. Das vom männlichen Tänzer auf Schulterhöhe hoch gehobene Mädchen reibt dabei die gestreckten Füße, die Kie geschlossen angezogen, freudig aneinander. Es sieht aus wie ein Zappeln aus Vorfreude!

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

Beseligende Haltung! Hier tanzen die jungen Damen und Herren vom Bundesjugendballett zusammen die „Bach-Suite 3“ von John Neumeier. Foto: Silvano Ballone

Bei Cranko ist es nur eine junge Dame, die dieses ausführt, im Rahmen eines Abgangs aus einer erotisch gefärbten Ballszene. Hier, bei Neumeier, wurde diese fast unscheinbar kleine Bewegung, die die weibliche Vorfreude symbolisiert, zu einem Leitmotiv des ganzen Bach-Stücks. Und: Mehrere Paare führen sie aus. Das ist wie im Frühling, wenn die gute Stimmung eine Gruppe Menschen erfasst und in einen Glücksstrudel mit sich reißt.

Oh, aber warum sollte eigentlich schon alles hierzu jetzt zu lesen sein, wenn es sich um ein mutmaßliches Highlight der Nijinsky-Gala am 17. Juli handelt?

Die weitere Rezension des Bach-Stücks wird also vertagt – um jetzt auf die ergreifende Rede von John Neumeier im EDT nach der Premiere hinzuweisen.

"Ein kleiner Prinz" ist viel besser als das Buch "Der kleine Prinz".

John Neumeier bei seiner Rede im Ernst-Deutsch-Theater nach „Im Aufschwung VII“: Er vermag es immer wieder, auch mit Worten die Kraft des Balletts zu beschwören. Foto: Gisela Sonnenburg

„Manchmal“, sagte John Neumeier darin, „ist die Wirklichkeit noch schöner als der Traum. So ist es für mich mit dem Bundesjugendballett.“ Kommunikation, so das Genie, sei die große Stärke seiner an allen möglichen Orten, nicht nur im Theater, auftretenden Nachwuchstruppe.

Und das Kommunzieren im Sinne von freundlichem Austausch ist für den Tanz in der Tat das höchste Ziel – keine andere Balletttruppe kann das so dezidiert zeigen wie das BJB. Darum ran an die Restkarten!

Und eine große Bitte an John Neumeier, Kevin Haigen und an Isabella Vértes-Schütter, die Intendantin vom Ernst-Deutsch-Theater, fürs nächste Jahr: Es wäre wunderbar, wenn das BJB dann erneut den Auftakt der Ballett-Tage gestalten kann!
Gisela Sonnenburg

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