Das dritte Auge Die Ballett-Kalender von Gert Weigelt sind Zeichen auf unseren Wegen

Gert Weigelt hat für 2016 gleich zwei Ballett-Kalender rausgebracht.

Sie schweben, auf dem Weg in ein durchaus irdisches Glück, mutmaßlich… Marlúcia do Amaral und Marcos Menha auf dem Cover von Gert Weigelts neuem Kalender über „Martin Schläpfer – Ballett am Rhein“. Cover: Dumont Verlag / Ablichtung: Gisela Sonnenburg

Wenn jemand Ballett fotografieren kann, dann er. Gert Weigelt, seit 1975 Fotograf, vorher Tänzer, nutzt das dritte Auge, das ihm die Kamera ist, mit stets überbordender Neugier bei grundlegender Sachkenntnis. Heraus kommen Fotos von immer wieder mitreißender Qualität, die den menschlichen Körper in seiner interessantesten Ausbildung zeigen. Mit einem Maximum an Symbolkraft bei dem nur eben notwendigen technischen Standard! Da ist nix einfach so Schnickschnack oder Dekoration, nix ist überflüssiger Tand oder Zierat, es gibt keine Technikprotzerei, die sich als Dynamik ausgeben will, keine Sterilität, die das Leben auffrisst, und kein stupid-simples stilistisches Merkmal wird zum Sinn des Daseins aufgeblasen. Und: Es gibt auch keine schlecht belichteten Dunkelwüsten… Wo Weigelt draufsteht, ist echte Bilderkraft drin – und für 2016 gibt es denn auch gleich zwei bildschöne, aber von Grund auf verschiedene Kalender des lebenden Klassikers.

Ob man sich da nun für einen entscheiden muss oder einfach beide hinhängt, ist Geschmackssache und auch eine Frage des Platzes und der Einrichtungsmöglichkeiten.

Gert Weigelt hat für 2016 gleich zwei Ballett-Kalender rausgebracht.

Strikt in Schwarz-weiß gehalten ist der zweite Kalender, mit dem Gert Weigelt die Fans beglückt. Cover: Te Neues / Ablichtung: Gisela Sonnenburg

Der erste Jahresfolger von Weigelt, den ich hier zwar empfehlen, aber nur ganz kurz abhandeln möchte, ist ein der strikten Schwarz-weiß-Ästhetik verpflichtetes Werk, das sich für den Multikulti-Gebrauch auf Englisch bzw. Amerikanisch anbietet. „2016 Dance Wall Calendar“, so der Titel, lebt von Strenge und Schönheit, von Schattenspielen und von Schärfekontrasten. Für die Puristen des Balletts unverzichtbar!

Noch aufregender ist meiner Ansicht nach aber der „Martin Schläpfer – Ballett am Rhein – Fotokunst-Kalender“, der Bühnenfotos zu Momentaufnahmen des Lebens an sich macht.

Weigelt begleitet den Choreografen Schläpfer ja schon seit fast zehn Jahren; aber von gelangweilter Routine oder gar schwindender Schärfe kann wirklich keine Rede sein.

So dienen die Bühnen von Düsseldorf und Duisburg Schläpfers Ballett am Rhein als Orte der Selbstfindung und des Vergehens vor Glück im dramatischen Sein – und Gert Weigelt ist der Mann, der diese Vorgänge mittels der Fotografie nicht nur anzudeuten, sondern auch herauszukristallisieren vermag.

Die Fantasie darf dabei fliegen, die Assoziationen haben freien Lauf!

Gert Weigelt hat für 2016 gleich zwei Ballett-Kalender rausgebracht.

Die Rückseite ist informativ wie ein Resümee: Rückenansicht vom Kalender von Gert Weigelt übers Ballett am Rhein. Kalender: Dumont Verlag / Ablichtung: Gisela Sonnenburg

Da findet im „Mai“ ein Mann ein liegendes, nein: am Boden kauerndes Mädchen – der Augenblick, da er es mit seinen sensiblen Händen anfasst, ist hier auf dem Foto so präsent wie ein Erweckungsritus. Oder ist es sogar umgekehrt, und der starke Mann findet die holde Maid nicht, sondern legt sie gerade erst am Boden ab? Hat er sie vorher getragen? Von woher in welche Welt? Wozu?

Die Tänzerin Yuko Kato wirkt unendlich zart und dennoch gut geerdet auf dem Bild. Ihr Partner, Ordep Rodriguez Chacon, hat diese Extraportion Magie in den muskulösen Schultern und Armen, ganz symmetrisch, gelassen, selbstsicher agieren sie. Was für ein Mann! Es ist fast schade, dass der Kalender nicht so ähnlich wie ein Daumenkino funktionieren kann und einfach im nächsten Monat die Fortsetzung der Geschichte erzählt. Oder tut er das?

Im Juni wartet nämlich eine tolle Frau mit einem tänzerischen Solo auf uns, und vielleicht handelt sich ja im Kontextes dieser Arbeit (nicht im Stück auf der Bühne) um eine Metamorphose von Yuko oder von einer ihr ähnlichen Person… Die Schläpfer-Muse Ann-Kathrin Adam spreizt da jedenfalls ihre schön starken Schenkel, betont ihre edlen Fußspitzen im Fachschuhwerk (also im Spitzenschuh) und konzentriert den gesenkten Blick auf ihre eigenen Hände, die sie vor der Brust gekreuzt hält.

Eine Madonna und doch eine Domina ist sie, eine feminine Kraft und doch auch eine fast männliche philosophische Energie gehen von ihr aus.

„Nacht umstellt“ heißt das Ballett, dem diese Pose entnommen ist, 2013 wurde es im Opernhaus Düsseldorf uraufgeführt. Das Bühnenbild von Florian Etti bezieht ein geheimnisvoll in vielen Nuancen changierendes blaues Licht mit ein – und um Lichtzeichen könnte es sich ja auch bei so manchen Vorgängen im Theater und in der Literatur handeln, wenn man die Dinge denn auch persönlich nehmen und für sich ausdeuten möchte.

Gert Weigelt hat für 2016 gleich zwei Ballett-Kalender rausgebracht.

Der August ist ja bekanntlich ein heißer Monat… so auch hier: Julie Thirault und Ordep Rodriguez Chacon in Martin Schläpfers Ballett „Streichquartett“, von Gert Weigelt fotografiert. Bild: Dumont Verlag / Ablichtung: Gisela Sonnenburg

Das bringt mich zur Dichterin Sarah Kirsch, die unter dem Titel „Lichtzeichen“ ein Sprachwerk wie folgt begann: „Die Nebel zwischen dunklen Gewässern. Über die Wehrmuthsteppe krochen sie hin, vermehrten sich, gaben einen geblümten Busch frei. Der Halbmond korrigierte die Neigung, stand auf der Spitze.“ Eine solche fast dubiose Stimmung, eine solch angespannte, aber trotz aller Düsternis auch hoffnungsfrohe Seelenlandschaft entfaltet sich typischerweise in den Ballettwerken von Martin Schläpfer.

Und Gert Weigelt ist der Mann mit dem dritten Auge, der sie einfängt. Huch! Und noch eine ist da… sie droht davon zu schweben, in den Juli, wo Ann-Kathrin Adam und Yuka Kato mit Sonny Locsin und Michael Foster ein tänzerisch-ringendes skulpturales Bild abgeben. Oder in den August, in dem Ordep Rodriguez Chacon mit Julie Thirault eine smart-morbide gemeinsame Gedankenarbeit vorzunehmen scheinen, was an ihren aufeinander gebeugten, sich eng aneinander schmiegenden Körpern sichtbar wird. Kaum zu glauben, dass Ballett ohne seine Musik so sinnlich sein kann wie auf diesen Fotos!

Gert Weigelt hat für 2016 gleich zwei Ballett-Kalender rausgebracht.

Jackson Caroll vom Ballett am Rhein steht hier nicht Kopf, aber Schulter… in „Violakonzert“ von Martin Schläpfer, fotografiert von Gert Weigelt. Bild. Dumont Verlag / Ablichtung: Gisela Sonnenburg

Im November kehrt die „Nacht umstellt“ zurück, ein schöner Mann (Chidozie Nzerem) umfasst darin die schönsten Frauenbeine, deren er habhaft werden konnte (sie gehören Claudine Schoch). Er hält das Frauenzimmer kopfüber an seinen Leib, er hält es an den Oberschenkeln – und drückt einen von diesen fest, mit aller Liebe, an sein Gesicht. Oder ist es umgekehrt, und er drückt sein Gesicht so fest an dieses steil aufragende Frauenbein, das geradewegs nur danach zu verlangen scheint?

Die „Lichtzeichen“ bei Sarah Kirsch enden – nach einem imaginären Rundgang am sternenreichen Himmelszelt in der Johannisnacht, der sommerlich aufgeheizten Nacht in der Jahresmitte – daheim:

„Wir kehrten nach Hause zurück, sahen hinter dem erleuchteten Fenster uns am Holztisch sitzen, so dass wir leicht durchgehen konnten.“

Das sicher nicht geistlose, aber auch geisterhafte Pärchen, das Kirsch beschreibt (zweifelsohne ist sie selbst gemeint, mit ihrem Lebensgefährten, einem Komponisten anbei) erreicht immerhin sicher seinen angestammten Platz… Und auch bei Martin Schläpfer und Gert Weigelt finden sich gen Jahresende die Energien zweier Wesen, die gemeinsam so etwas wie Vollkommenheit erreichen können.

Gert Weigelt hat für 2016 gleich zwei Ballett-Kalender rausgebracht.

A und O sind Eins… Noch einmal Marlúcia do Amaral und Marcos Menha, hier im Dezember-Bild des Kalenders „Martin Schläpfer – Ballett am Rhein“ von Gert Weigelt. Bild: Dumont Verlag / Ablichtung: Gisela Sonnenburg

Im Dezember sind sie nämlich wieder ein Paar, Adam und Eva, Romeo und Julia, Tristan und Isolde und wie sie alle heißen, die Liebenden dieser Erde und dieser Weltbühnen… im Kalenderwerk sind sie verkörpert von Marlúcia do Amaral – die eine der bedeutendsten Tanzkünstlerinnen unserer Zeit ist – und Marcos Menha, der ihrem weiblich-charmierenden Temperament eine nicht geringe Dosis männlicher Raffinesse entgegen zu halten weiß. Bravooooh! Und: Da kommen all die anderen mir bekannten Ballett-Kalender nun mal eben einfach nicht mit, sorry…
Gisela Sonnenburg

„Martin Schläpfer – Ballett am Rhein“, Ein DuMont Fotokunst-Kalender 2016, Photographs: Gert Weigelt, Dumont Kalenderverlag, 25 Euro

„2016 Dance Wall Calendar by Gert Weigelt“, Te Neues Publishing Company, 13,49 $ (nicht Euro!)

www.operamrhein.de

 

 

 

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