Sex zu zweit, zu dritt, in der Gruppe, mit der Gruppe… Das Béjart Ballet Lausanne gastierte mit erfrischendem Elan im Berliner Tempodrom

Béjarts Fantasien

Sagenhafte sexuelle Selbstfindung in ästhetischer Perfektion: Tänzer des Béjart Ballet Lausanne in „Ce que l’Amour me dit“. Foto: Anne Bichsel

Seit letzten Freitag füllte sich das Berliner Tempodrom für drei Abende mit einem Publikum, das an sich schon Besichtigungswert hatte: Es verströmte so ein erfreuliches 70er-Jahre-Flair. Das betraf nicht nur die Älteren. Auch die jungen Leute, die gekommen waren, um das Béjart Ballet Lausanne bei einem seiner raren Deutschland-Auftritte zu sehen, hatten schon beim Aufsuchen ihrer Plätze einen begeistert-nostalgischen Blick. Die Erklärung: Maurice Béjart (1927-2007) war ein Choreograph, der den Bühnentanz ganz im Sinne der Revoluzzer-Generationen von Mief und Muff zu befreien und ihm stark sinnliche Akzente zu verleihen wusste. Sein Stil elektrisiert bis heute.

Die beiden ersten Abende boten dasselbe Programm, jeweils zwei Stücke, die gegensätzlicher nicht sein könnten: „Ce que l’Amour me dit“ („Was mir die Liebe erzählt“) von 1974 erzählt von der sexuellen Selbstfindung eines jungen Mannes, musikalisch gestützt von der zweiten Hälfte der Dritten Sinfonie von Gustav Mahler. Das Orchester der Deutschen Oper Berlin spielte sie unter Donald Runnicles voll Gefühl. Das zweite Stück, „Le Sacre du Printemps“ – das „Frühlingsopfer“ – zur Musik von Igor Strawinsky stammt von 1959. Es bündelt die erotischen Kräfte einer Menschenhorde zu ekstatischen Sprüngen und Paarungen. Legendär: die heftig wippenden Pferdeschwänze auf den Köpfen der Tänzerinnen in schmucklosen Bodysuits. In diesem „Sacre“ gibt es keine Tote am Schluss, sondern nur Sex pur. Das war in der Entstehungszeit absolut unerhört!

THEATERKÖNIGE SUCHEN IHRE BÜHNE

Zunächst das Mahler-Stück. Béjart gehört zu den Pionieren, die Mahler fürs Ballett entdeckten. Indem er die schwärmerisch-spätromantischen Klangwellen optisch konterkarierte, geriet er nie in Verdacht, sich auf die bloße Wirkung der cineastischen Musik zu verlassen. Stets setzte Béjart Bilder aus Körpern dagegen. So eine Gruppe von Theaterkönigen, die aussehen, als hätten sie ihre Shakespeare-Bühne verloren und seien auf der Suche nach was Neuem. Sie treffen auf einen jungen Mann, der Sex will, aber mit einer souverän-solistischen Frau nicht viel anzufangen weiß. Akrobatische Männer stürmen die Tanzfläche – hier findet der Junge einen Partner und frönt, endlich frohen Mutes, seiner Lust. Am Ende aber stehen sie zu dritt in vollendeter Schönheit eng beisammen: die zwei Männer und die geduldig auf diesen Moment wartende Frau.

Dass dieses Ballett so berührt, liegt nicht nur an den hohen Sprüngen der Tänzer oder an den indisch inspirierten Schrittkombinationen. Sondern am Inhalt, der auf eine Hoffnung hinweist: Die sexuelle Befreiung war zentrales Thema im Werk Béjarts. Aber wie war es, in den 50ern, 60ern, 70ern, wenn man – wie Béjart – schwul war? Man musste sich ständig zur Wehr setzen. Die Ehe zu dritt war damals keine Utopie, sondern eine Notlösung – sogar, wenn die Gattin nicht wirklich eingeweiht war. Heute wirkt das Stück wie eine Inspiration: Warum sollte man das strikte Paar-Raster nicht auch mal freiwillig aufbrechen?

GEJUBEL IM PUBLIKUM

„Le Sacre du Printemps“ wirkte dagegen fast konventionell, wurde aber glanzvoll vom Ensemble geposed und getanzt. Im ersten Teil agierten Frauen und Männer noch getrennt voneinander, dann mischten sie sich, man erlebte ein Hauptpaar, das sozusagen im Stil des Rock’n Roll kopulierte. Die Gruppe bildete aggressive Grüppchen, man bedrohte und umarmte sich, mäanderte umeinander, bedrängte sich, half sich. Die Figuren, die dabei entstanden, waren durchweg ästhetisch und energetisch aufgeladen. Entsprechend reagierte das Publikum mit lauten „Ooohs“ und „Boooh!“, kaum dass es dunkel wurde und der rauschhafte Tanz vorbei war. Viel Johlen und Gejubel gab es auch für Gil Roman, der von Béjart als Nachfolger bestimmt worden war und seither die Truppe leitet – und der auch die begehrten, allzu oft verweigerten Lizenzen für die Choreos verwaltet.

Am Sonntag dann landete Starballerina Polina Semionova wie vorab vermutet, einen sagenhaften Coup, indem sie mit je zwanzig Männern des Béjart Ballet Lausanne und des Staatsballetts Berlin den „Boléro“ tanzte. Hier wuppt eine Frau eine ganze Schar von Männern – und wird von der enthemmten Gruppe letztlich umgebracht.
Gisela Sonnenburg

Siehe auch: „Die totale Erotisierung“ im ballett-journal.de

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