Diese abendfüllende Choreografie ist ein bedeutendes Unikat, sie ist unersetzlich in der Geschichte des modernen Balletts: „Spartacus“ von Yuri Grigorovich, 1968 am Bolschoi Theater in Moskau erstmals aufgeführt, ist eine einzige Hymne an die Ideale von Freiheit und Gerechtigkeit, Liebe und Solidarität, Tapferkeit und Mut. Dass die Geschichte tragisch gefärbt ist und im Desaster endet, macht die historische Legende erst recht zu einem Aufruf, es in der Realität besser zu machen, als es auf der Bühne möglich ist. „Spartacus“ ist womöglich das einzige Ballett, das es mit der sozialkritischen Sprengkraft von anderen dramatischen Werken seiner Entstehungszeit aufnehmen kann. Mit der edelbeinigen Ksenia Ryzhkova hat das Bayerische Staatsballett zudem eine Optimalbesetzung der Heldin Phrygia zu bieten, an der Seite des sprungstarken, expressiven Osiel Gouneo als Titelheld. Prisca Zeisel ist außerdem eine bestechend raffinierte, hinterlistige Gegenspielerin Aegina, und Emilio Pavan brilliert mit ihr als böswilliger Crassus. Unter dem Dirigat von Karen Durgaryan– der wie der Komponist Aram Chatschaturjan armenische Wurzeln hat – brodelt und quillt die sinfonische Partitur meisterhaft geführt, wobei nicht nur die dramatischen Hauptklänge, sondern auch die Gegenmelodien schön zu ihrem Recht kommen.
Schon bei der Ouvertüre springt einen der Rhythmus an; schmissig, dennoch präzise und doch nuanciert, dirigiert Durgaryan das Bayerische Staatsorchester.
Dann gibt der Vorhang den Blick auf die Bühne frei, und Crassus, wirklich kraftvoll-umtriebig von Emilio Pavan verkörpert, triumphiert mit seinen Soldaten.
Die Gegenwelt zeigt sich in der nächsten Szene: Die Sklaven, männliche und weibliche, müssen den Direktiven von Crassus‘ Mannen gehorchen und – mit teils auf dem Rücken wie gefesselt gehaltenen Händen – auftanzen.
Elegie, Allegro, Elegie. Aber die Musik explodiert auch mal in rasanten Tuschs, die die gleitenden Phrasen unterbrechen, und Grigorovichs Choreografie hat passgenau dafür Sprünge und hochgeworfene Beine parat.
„Spartacus“ ist ein modernes Ballett, und das ist mehr als eine Revue mit klassischen Anklängen.
Der Titelheld Spartacus hat denn auch ein einsames Solo in nächtlicher Einsamkeit, und er – die Hände in einer Kettenfessel – rührt so sehr an, dass sich damit praktisch die ganze Seele des späteren Kämpfers für das Gute enthüllt.
Die Legitimation gegen den römischen Feldherrn Crassus ergibt sich zusätzlich aus der Grausamkeit dieses Tyrannen, der Spartacus als Gladiator im Zweikampf seinen besten Freund töten und damit gegen das eherne Gesetz der Männerfreundschaft verstoßen lässt. Das Libretto hält für alle, die am positiven Wert von revolutionärem Potenzial zweifeln, diese Facette von Crassus‘ Bösartigkeit bereit.
Dass Spartacus seinen Unterdrücker Crassus während des Aufstands im Duell töten könnte, ihn aber leben lässt und auf Frieden hofft, rächt sich als Güte im falschen Moment. Aber für das Publikum ist Spartacus damit natürlich umso sympathischer.
Osiel Gouneo hat seit der Münchner Premiere, die er 2016 tanzte, viel Erfahrung in der Partie des Spartacus sammeln können, und er vereint sie mit seiner Befähigung, starken Ausdruck zu zeigen. Was für ein Stier, dieser Mann! Was für ein wildes Temperament, schön und auch gezähmt, aber dennoch fast unberechenbar.
Seine Passion kulminiert in den grandiosen Sprüngen des Spartacus, ach, man ist so beglückt davon! Würde Spartacus hier sprechen, er würde mit himmlisch schöner Stimme rufen und befehlen. Nur ein solcher mannhafter Kerl kann es wagen, die Sklaven zum Aufstand zu führen!
Doch da ist auch die ganz zarte, sehr lyrische, feminine Seite in diesem Ballett, inmitten dieser Welt aus Kampf und Vernichtung.
Ksenia Ryzhkova hat die Partie der Phrygia ebenfalls oft genug getanzt, um sich vollauf mit ihr zu identifizieren.
Und dann hat sie diese umwerfend schönen, starken, weiblich geformten Bolschoi-Beine!
Früher waren sie das Markenzeichen der Ballerinen am Moskauer Ballett-Olymp, und erst, seit mit der Jahrhunderttänzerin Svetlana Zakharova dort eine Superschlanke zum Idol wurde, gab man auch am Bolschoi das urrussische Frauenideal auf: um, wie weltweit und zumal im Ballett mittlerweile üblich, Magerkeit an den meisten Körperteilen zum Ideal zu erheben.
Man mag das ohnehin bedauern oder auch ganz toll finden – aber wenn man eine Ksenia Ryzhkova tanzen sieht, wünscht man sich unwillkürlich die guten alten Zeiten zurück, in denen Tänzerinnenbeine noch keine Ähnlichkeit mit überdimensionalen Zahnstochern hatten, sondern Sexiness hoch zehn ausstrahlten. Wie eben bei ihr.
Ryzhkova, gebürtige Moskowiterin, erhielt ihre Ausbildung an der Bolschoi Akademie – und das sieht man ihr bei jedem Schritt und jeder Geste wohltuend an, dank der Schönheit ihrer Beine sogar im Stehen, im Sitzen, im Liegen.
Der Körper ist das Instrument einer Ballerina. Ohne Übertreibung: Ryzhkovas mit vielen Grands battements trainierten Schenkel sind, zumal für die Choreografie der Phrygia, von derart bezaubernder Kraft, dass man schon allein für sie in diese Vorstellung gehen könnte.
Ergänzt wird diese körperliche Idealität von einer durchgestalteten Rollenauffassung, die das liebevoll-loyale Temperament der Phrygia fasslich werden lässt. In ihren Soli – und davon bildet ihr Trauer-Solo das bewegende Ende des Stücks – wie auch in den berühmten Pas de deux schmilzt diese Primaballerina zur Tanz gewordenen Liebe.
Ksenia Ryzhkova hat ganz sicher auch viel harte Arbeit in die Details ihrer Darstellung von Spartacus‘ Geliebter investieren müssen. Aber das hat sich gelohnt, oh ja!
Und wenn sie mit dramatisch-edelmütigem Gesichtsausdruck ihr frühes Solo der Melancholie tanzt, wenn sie die Arme immer wieder visionär ausbreitet oder wenn sie sich mit hingebungsvollem Vertrauen von ihrem Bühnenpartner in allen nur erdenklichen Posen weit empor heben lässt, dann ist sie stets die liebende Frau schlechthin.
Diese Paartänze sind gerade auch in dieser Besetzung unvergesslich. Osiel Gouneo ist männlich-verwegen und von tapferer Ausstrahlung, Ksenia Ryzhkova wirkt in seinen Armen unbedingt feminin-soft und anmutig-sexy zugleich. Jaaaaaaaa, und ihre Beine!
Es gibt zwei berühmte Posen der Phrygia, in der jeweils eines ihrer Beine optimal zur Geltung kommt: einmal sitzend am Boden, das vordere Bein ist dabei gebeugt und auf die Zehenspitzen aufgestellt. Was für eine Linie entsteht hier! Die Gegenpose im Stehen lässt diese Femme totale das Spielbein in einer Variation der Beinführung vor sich halten: leicht gebeugt. Es ist ein Akt der puren Poesie!
Ihre Gegenspielerin Aegina hat indes ebenfalls Szenen von mitreißender Brillanz zu bieten. Und Prisca Zeisel, die Wiener Ballerina, weiß sie zu füllen, mit ihrem Charme, ihrer köstlich geschauspielerten Dekadenz, ihrer Laszivität und verführerischen, dunkel funkelnden Kraft des Bösen.
Und auch die Wiener Ballerina Zeisel hat außergewöhnlich schöne Beine!
Dennoch liegt die Stärke dieser sich hervorragend entwickelnden Tänzerin auch in der expressiven Koordination, im harmonischen und auch schauspielerisch wirksamen Zusammenspiel der einzelnen Bewegungen. Bravo!
Aegina ist hier die treibende Kraft, die Crassus in seinem destruktiven Trieb bestärkt und vorwärts peitscht. Ah, und wie nebenbei verführt sie die Menschen um sich herum mit zackigen Attitüden und geschmeidig-erotischem Spiel: zu bestialischer Willfährigkeit.
Crassus wiederum wird von Emilio Pavan mit exaltierten Cambré-Sprüngen und hektisch über die Bühne wedelnden Sprüngen genau richtig interpretiert: Er ist ein Herrscher ohne Verantwortung, ein Feldherr ohne Sinn für Maßhalten, ein Symbol für Egoismus und Brachialität. Oh, und auch seine Beine wären einen Extra-Beitrag wert, diese starken schönen Männerbeine, ohne die ein Spagatsprung einfach nur eine technische Bezeichnung wäre.
Aber auch die Tänzerinnen und Tänzer vom Corps tragen dazu bei, die Szenen im antiken Rom viril und spannend zu halten.
Phänomenal wirkt das Ganze insgesamt; jede Zutat bringt hier ihre Nuancen mit, um die Melange aus kriegerisch-aggressiven Szenen und lyrisch-zarten Tänzen vollauf zu würzen.
Bis in einzelne Schritte hinein wirkt die Kraft von Grigorovich, der das Ballett des Bolschoi im 20. Jahrhundert zu dem machte, was wir heute unter diesem Begriff kennen: als maximale Wirkung durch Tanz.
Die männlichen Tänzer sind hier im „Spartacus“ ganz besonders gefordert.
Sie bilden geometrische Formationen und vitale tänzerische Sprungreigen, sie strömen flugs zu Standbildern zusammen und bewegen sich oftmals als Gruppe wie ein einziger Organismus.
Höchst originelle Sprünge und vielfache Pirouetten halten die Zuschauer im Bann, und weil hier die Hoffnung alles grundiert und immer wieder zu spektakulären tänzerischen Höhenflügen führt, wird man so mitgerissen und euphorisch, wie es sogar im Ballett selten ist.
Die großen Tableaus bleiben im Gedächtnis wie großartige Naturschauspiele, eine solche vitale Kraft verströmen sie. Die Kostüme und Szenerien mit weitem Horizont von Simon Virsaladze bestärken diesen Eindruck. „Spartacus“ als Ballett zu sehen, toppt jeden Hollywood-Film, wiewohl der gleichnamige Filmklassiker von Stanley Kubrick von der Ballettmusik von Chatschaturjan angeregt wurde, welche wiederum 1956 mit der Choreografie von Leonid Jakobson am Kirov-Theater in Leningrad (dem heutigen Mariinsky in Sankt Petersburg) uraufgeführt wurde.
Aber erst die choreografische Bebilderung durch Yuri Grigorovich verleiht dem Stück seinen Status als moderner Klassiker.
Spartacus, der große Kämpfer, der große Leidende, er stirbt am Ende, doch man weiß, es ist nicht vergebens.
Und die Tränen der edlen Phrygia werden den Glauben an Gerechtigkeit nie versiegen lassen…
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg
Wieder am 29. November 2019 beim Bayerischen Staatsballett